Der Zeitraum für Entwicklungen, die aufgrund strategischer Entscheidungen einen bestimmten Verlauf nehmen, und dem Auftauchen konkreter Konsequenzen, kann groß sein. Unter einem großen Zeitraum verstehen wir hier in Europa in der Regel mehrere Jahrzehnte. Größere Mächte denken da in anderen Dimensionen. Sowohl die USA, als auch Russland und vor allem China haben andere Zeitschienen vor Augen. Deren Strategien sind auf Jahrhunderte angelegt und sie erschließen sich, der Sarkasmus sei erlaubt, den europäischen Amöben nicht.
Der von 1989 bis 1992 amtierende Außenminister der USA, der Texaner James Addison Baker, der 1990 den Zusammenbruch im Amt miterlebte, hat als Vertreter einer Großmacht bereits zu diesem Zeitpunkt davor gewarnt, Russland von oben herab wie ein Sieger den Besiegten zu behandeln, andernfalls, so der kluge Mann, würde es spätestens nach 30 Jahren zu großen Verwerfungen mit diesem Land kommen. Er sollte Recht behalten. Eine der Lehren, die sich hinter dieser Prognose verbirgt, ist die, dass vermieden werden sollte, unterlegene Großmächte nach einer Niederlage zu demütigen, weil dies mit Sicherheit zu einem nationalistischen Revisionismus führen wird. Deutschland hat zu dieser These ein furchtbares Kapitel geschrieben. Insofern sollten sich auch hier Menschen finden, denen diese Sichtweise plausibel erscheint.
Dass die USA die unterlegene Supermacht Russland so behandelte, wie sie es getan haben, war ihre souveräne Entscheidung und hatte vielleicht auch etwas damit zu tun, dass der Atlantik zwischen der russischen Landmasse, dem Rest Europas und den USA liegt. Dass Deutschland, um den ehemaligen Bundeskanzler Helmut Kohl zu zitieren, nicht die „Gunst der Stunde“ ergriffen hat, um Europa in einer wohl verstandenen politischen Äquidistanz zwischen Russland und den USA zu justieren, war ein strategischer Fehler, der sich nun rächt.
Die Geschichte, die folgte, ist bis zur Ermüdung wiederholt worden. Anstatt auf wehrhafte Neutralität und ein eigenes politisches Profil zu setzen, hat man sich an der imperialistischen NATO verschrieben und brachte es dazu noch fertig, durch ein erzwungenes Junktim von EU- und NATO-Mitgliedschaft die Osterweiterung dieses Bündnisses bis an die russischen Grenzen voranzutreiben. Den russischen Angriff auf die Ukraine als plötzlichen Übergriff darzustellen, kann sich nur erlauben, wer auf das amöbenhafte Gedächtnis des westlichen Publikums setzt. Nein, es handelte sich um die logische, in Kauf genommene Konsequenz einer strategischen Erscheinung.
Welche Konsequenzen kann es geben, wenn eine strategische Entscheidung nach einigen Jahrzehnten zu fatalen Folgen führt? Unter normalen Umständen müsste schleunigst eine Diskussion darüber geführt werden, was daran falsch war und welche Konsequenzen im eigenen Handeln daraus folgen müsste. Stattdessen verkünden die in dieser Situation Verantwortlichen, die zum Teil selbst den strategischen Missgriff nicht zu verantworten haben, dass sie nicht interessiere, was in der Vergangenheit geschehen ist und sie im Hier und Jetzt leben. Letzteres sollten sie selbstverständlich tun, die Geschichte ausklammern jedoch nicht, denn das bedeutet, sich einer Lernmöglichkeit zu verweigern. Das ist umso erstaunlicher, weil die Perspektive des Festhaltens an den katastrophalen Lösungsansätzen eines exklusiv kriegerischen Denkens zu nichts als Zerstörung führt.
Pädagogen, die mit pathologischen Lernverweigerern zu tun haben, geben in der Regel irgendwann auf und überlassen die Störrischen dem Leben „da draußen“. Das kann sich eine Gesellschaft jedoch nicht erlauben, denn eine falsche Strategie mit einem Krieg als Folge ist das Leben, dem keiner entrinnen kann. Nicht einmal mit dem Tod.
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