Archiv für den Monat Juni 2023

Der Aufstand des Kochs und der Karneval der Unwissenheit

Mein Gott! Was für eine Geschichte! Der Leibkoch des Zaren probt den Aufstand. Da zittert das ganze Reich und, wer weiß, ein neuer Zar besteigt den Thron? So hätte das im hiesigen schreibenden Gewerbe natürlich niemand von sich geben dürfen, denn die Freiheit des Wortes unterliegt einem strengen Reglement. Dass aber, nachdem die Meldung heraus war, dass der ehemalige Vertraute Putins mit seiner vom Restaurationsbetrieb zur Privatarmee gemauserten Organisation sich gegen das reguläre russische Militär stellt, quasi im Jubelzustand über das Ende einer Ära spekuliert wurde, sagt mehr über die Verhältnisse hierzulande etwas aus als über Russland. Wenn man sich vorstellt, dass zum Beispiel ein an einer deutschen Bundeswehrhochschule lehrender Militärhistoriker bei auf russischen Autobahnen von der Wagner-Truppe zurückgelegten Kilometern ohne jegliche Kampfhandlung von Geländegewinnen spricht, ist an Dummheit oder Chuzpe, ganz wie Sie wollen, nicht zu überbieten. 

Wie Zar Putin die Krise gemanagt hat, nämlich ohne einen Schuss abfeuern lassen zu müssen, innerhalb von 24 Stunden, spricht nicht unbedingt von Handlungsunfähigkeit. Und dass die militärischen Verbände Prigoschins, die nicht ins reguläre russische Heer eingegliedert werden, nun in Form von Ausbildungslagern in Weißrussland an einer anderen Grenze zur Ukraine weiterarbeiteten, Besorgnis hervorriefe, wäre vielleicht eine klügere Reaktion als das voreilige Triumphgeschrei. 

Genauso wäre, zumindest bis zum jetzigen Zeitpunkt, es so langsam an der Zeit gewesen, zu realisieren, dass ein Regime Change in Russland nicht zu einer liberalen Reformhaus-Demokratie, von der das woke Milieu träumt, führen wird. Es hat sich, wenn man ein bisschen in der Lage ist, hinter die Kulissen zu schauen, längst die Erkenntnis aufgedrängt, dass Putin wohl die gemäßigste Kraft ist, auf die man treffen kann. Die Hardliner im eigenen Land, von denen es Dutzende gibt, werfen ihm sein Zögern und sein immer wieder rückversicherndes Vorgehen als Schwäche vor, die er wohl in seinen Jahren in Deutschland erworben hat. Das, was aktuell nach Putin käme, wäre eine Carte Blanche für den totalen Krieg. 

Letzteres ist, ideologisch wie immer mehr materiell, genau das, was aus medialen und politischen Kreisen in unseren Breitengraden längst als Ziel ausgegeben ist. Dass es gelungen ist, einen weniger bekannten Teil aus Goebbels Sportpalast-Rede in einem dieser von Selbstgewissheit wie Unkenntnis strotzenden, so genannten Polit-Talk-Formaten mit nur geringen Veränderungen zu platzieren und die ganze Kriegskamarilla euphorisch in die Hände klatschte, spricht Bände. Es nährt die Gewissheit, dass mit den in Europa herrschenden Eliten aus Medien und Politik mit keinerlei Friedensinitiative zu rechnen ist. Sie setzen auf Eskalation und Sie können sich sicher sein, sie haben bereits ihre Exit-Pläne, wenn sich der Brand in Europa nach Westen ausdehnt. Wenn hier die Schwarte brennt, ist der Reibach gemacht.

In Zeiten wie diesen ist es immer ratsam, sich auf das zu verlassen, was man weiß und nur denen zu glauben, die sich in einem langen Prozess das Vertrauen verdient haben. Sicher ist, dass die ganzen Hypothesen, denen die westliche Politik in dieses Desaster gefolgt ist, als falsch herausgestellt haben. Deshalb sind die Schlussfolgerungen auch so desaströs. So, wie es aussieht, traut sich bis jetzt niemand, einzugestehen, dass man falsch lag. Das hätte übrigens nicht so sein müssen, man hätte nur etwas aufmerksamer die politische Literatur in den USA studieren müssen. Dort war alles nachzulesen. Gut dokumentiert, klar formuliert und mit zahlreichen Warnhinweisen versehen. Stattdessen plapperte man unreflektiert das Programm der dortigen Kriegspartei nach. Bis heute tobt hier der Karneval der Unwissenheit.

Und allen, die immer noch nicht wissen, mit was wir es in Russland zu tun haben und die es leid sind, von den medial präsentierten Scharlatanen weiterhin belästigt zu werden, empfehle ich Ihnen nur drei Autoren: Tolstoi, Puschkin und Dostojewski. Die stehen zwar bei der hiesigen Kriegspropaganda auf dem Index, aber der Buchhändler Ihres Vertrauens besorgt sie Ihnen trotzdem. Sie werden sich wundern, wieviel sie verstehen werden, was dieses große Land Russland betrifft.    

Geschichte: immer wieder diese Imponderabilien

In den historischen Wissenschaften taucht immer wieder ein Begriff auf, der von den Kausalisten, Deterministen und Zivilisationstheoretikern eher müde belächelt wird. Es ist der der Imponderabilien. Damit sind schlicht Unwägbarkeiten gemeint, die dann doch, im einen oder anderen Fall, den Lauf der Geschichte in nicht unerheblichem Maße beeinflussen. Das kann die Tageslaune eines Protagonisten sein, das kann eine Fehlannahme sein, es kann das plötzliche Auftreten eines Naturereignisses sein oder einfach irgendwo ein technisches Versagen. Und, die Annalen betrachtet, so selten ist es nicht, dass diese Imponderabilien ganz entscheidend dazu beigetragen haben, Bedingungen zu schaffen, die uns heute als selbstverständlich gelten.

Wie es insgesamt ein äußerst zweifelhaftes Geschäft ist, Geschichte als die logische Folge bestimmter Voraussetzungen anzusehen und daraus eine theoretisch begründete Prognostik abzuleiten. Der durch die Aufklärung, bis heute meines Erachtens eine der Sternstunden der westlichen Welt, erarbeitete Begriff des Fortschritts ist so eine Sache. Die Überhöhung der eigenen Sichtweise hat den Fortschritt doch zu einer exklusiv westlichen Vorstellung gemacht, und die vielen reichen, komplexen Sichtweisen auf die Entwicklung der Dinge in anderen Teilen der Welt wurden schlichtweg kolonisiert.

Alles, was unter dem Terminus der Verwissenschaftlichung stattgefunden hat, ist mit zwei zweifelhaften Phänomenen immer einher gegangen: zum einen wurde der anthropozentrische Standpunkt zum Allgemeingut und somit ein nicht instrumentalisierender Blick auf die Welt ausgeschlossen. Zum anderen wurde immer die Möglichkeit der Unvorhersehbarkeit durch die kleinen Finten des Schicksals als infantile Abenteuergeschichte verbannt. Dass Wissenschaft als Zugang zu Erkenntnis auch Interessen folgt, und dass sie reihenweise irrt, gilt bei deren Apologeten bereits als Blasphemie. 

Insofern, ohne gleich einen Anspruch zu formulieren, der wiederum in der Begründung einer neuen Theorie läge, wäre es ratsam, sich einfach Ereignisse in den Kopf zu rufen, die durchaus als Imponderabilien bezeichnet werden können und die den Lauf der Geschichte beeinflusst haben. Nicht, um der notwendigen Anwendung von Wissenschaften einen Streich zu spielen, sondern um so etwas zu erzeugen wie ein bisschen Demut vor der komplexen rollenden Bewegung der Kugel, die wir unsere Erde nennen.

Hätte der deutsche Stadtkommandant von Paris, Dietrich von Choltitz, nicht des Befehl verweigert, gäbe es das heutige Paris in dieser Form wohl nicht. Hätte Armin Laschet nicht während der Flutkatastrophe im Ahrtal während der Rede eigenes anderen in einer zurückliegenden Fahrzeughalle zusammen mit Feuerwehrleuten ausgelassen über einen Witz gelacht, währe er vielleicht heute Kanzler. Hätte es auf dem Bremer Parteitag der CDU im Jahr 1989 noch Fischbrötchen gegeben, auf die sich der angeschlagene Kanzler Kohl so gefreut hat, dann hätte er nicht mit einer derartigen Rigorosität die innerparteiliche Opposition liquidiert. Und hätte am 9. November desselben Jahres ein ZK-Sekretär Günter Schabowski nicht vor laufenden Kameras eine sehr verkürzte Interpretation des neuen DDR-Reisegesetzes gegeben, dann wäre die Geschichte in Sachen deutscher Einheit vielleicht doch ganz anders verlaufen. Und, um die kleine Revue zu beenden, die ein Nichts ist im welthistorischen Maßstab, wären die Vertreter der untergehenden Sowjetunion nicht überraschender Weise guten Glaubens gewesen, was sie sonst nicht waren, und hätten sich bei allem, was sie vereinbarten, durch Verträge absichern lassen, dann gäbe es vielleicht heute auch keinen Krieg in der Ukraine.

Die Wissenschaft lehrt uns das Fliegen. Die Imponderabilien zwingen zu manch harter Landung.