Archiv für den Monat Januar 2018

Administrative Verluste

Sie existieren weltweit. Unabhängig von der Größe des Landes und dem politischen System. In manchen Ländern werden sie in den Bilanzen exklusiv ausgewiesen, in den meisten jedoch verschwinden sie hinter einer verschleierten Terminologie. Dass letzteres so ist, scheint davon zu zeugen, dass man nirgendwo auf der Welt glücklich über sie ist. Und erreichen sie eine kritische Größe, dann kann von einer Systemkrise gesprochen werden. Die Rede ist von administrativen Verlusten.

Schlichte, recht einfach zu erklärende administrative Verluste liegen an infrastrukturellen Mängeln. Trinkwasserverluste zum Beispiel sind eine klassische Kategorie. Dort führen schlechte, undichte Leitungssysteme zum tatsächlichen Ressourcenverlust. Der kann in beträchtlichem Ausmaß auftreten und zu einem Engpass führen. Ausgerechnet in solchen fällen, wenn Ressourcen knapp werden, tritt noch ein anderes Phänomen des administrativen Verlustes auf. Es ist die Korruption. Dann werden Ressourcen abgezweigt und gegen direkte Kasse auf dem schwarzen Markt verkauft.

Die unterbliebene Investition in Infrastruktur oder Gebäudeerhaltung liegt nicht unbedingt am Wohlstand eines Landes. Das, was noch vor zwei Jahrzehnten als ein typisches Phänomen von Entwicklungsländern bezeichnet wurde, ist längst in der ersten Welt angekommen. Die Schulen verfallen, die Straßen sind in schlechten Zustand, die Schienennetze werden nicht mehr gepflegt. Drei Ursachen sind dafür zu nennen: 1. Die Steuereinnahmen haben durch die Globalisierung den Trend tendenziellen Absinkens, 2. die Verdichtung der Vorschriften für Bau, Brandschutz, Arbeitssicherheit, Denkmalschutz etc. etc. führt zu einer exponentiellen Kostenerhöhung und 3. neigen Politiker dazu, sichtbare Kosten zu produzieren, d.h. die Einweihung eines Neubaus bringt mehr Renommee als die Erneuerung unterirdischer Leitungen.

Die Dimension der beschriebenen administrativen Verluste ist bereits gewaltig, es kommt aber noch eine weitere hinzu. Sie hat nichts mit den verfügbaren Ressourcen und der Bestechlichkeit von Verwaltung zu tun, sondern mit derem mentalen Zustand. Der Systemtheoretiker Niklas Luhmann hat Studien zu diesem Phänomen betrieben und sie wurden aus dem Nachlass gehoben. Unter dem Titel „Organisation und Entscheidung“ sind sie dem Publikum zugänglich. Allerdings haben diese erhellenden Überlegungen das öffentliche Bewusstsein bisher nicht erreicht, zumindest nicht in einer qualitativ politischen Form.

Die wesentliche Aussage dieser Studien ist die, dass der Zustand einer Organisation sehr gut attestiert werden kann an der Zeit, die eine solche benötigt, um eine qualitativ gute Entscheidung zu treffen. Je mehr Zeit eine Organisation braucht, um eine fällige Entscheidung zu treffen, desto schlimmer ihr Zustand. Das muss nicht zwingend so sein, manchmal ist es auch klug, keine Entscheidung zu treffen und noch etwas zuzuwarten. Sollte es sich aber um eine allgemeine, mächtige Tendenz handeln, dann ist der Zustand der Organisation nicht nur bedenklich, sondern das Ausmaß der administrativen Verluste steigt beträchtlich.

Es existiert nämlich ein administrativer Verlust, der in keiner Bilanz der Welt erscheint. Es ist der Verlust von Zeit. Und je kritischer der Zustand einer Organisation ist, desto größer der Aufwand an Gremien und Sitzungen, um eines zu erreichen: keine relevanten Entscheidungen zu treffen. Dass es sich bei diesem Typus wohl um die kritischste Form des administrativen Verlustes handelt, ist wegen seiner schlechten Messbarkeit und weiten Verbreitung jedoch zu vermuten.

Die Überlegungen sollen dazu ermuntern, die jeweils eigene Organisation, in der man lebt und arbeitet genau unter die Lupe zu nehmen und die verschiedenen Arten der administrativen Verluste einmal aufzuzählen und zu quantifizieren. Ob die Baucheinschätzung wohl bestätigt wird?