Archiv für den Monat September 2015

Wohlstandsnationalismus

Seit dem sich in den Nüstern der EU-Politiker die Ahnung verbreitete, dass nicht alles so vereinigend verlaufen würde wie geplant, wurde der Slogan vom Europa der Regionen ins Leben gerufen. Damit war eine stärkere kulturelle Autonomisierung gemeint, d.h. mehr Folklore in den Regionen und mehr Fiskus und Exekutive in Brüssel. Doch es verlief anders. Aus guten Gründen weigerten sich die Nationalstaaten, generell Hoheitsrechte abzugeben in einem Tausch gegen unverbindliche Kulturfestivals. Was mit dem Europa der Regionen bewusst nicht gemeint war, war die Anerkennung von Regionen, die sich von einzelnen Mitgliedstaaten vereinnahmt fühlten, zu eigenen Staatsgebilden. Beispiele dafür gab und gibt es, aber genau dort setzte eine Diskussion ein, die weit über das Ressentiment hinaus so viel Klugheit besaß, dass sie als unrealistisch wahrgenommen wird.

Etwas anderes sind separatistische Bewegungen in einzelnen Nationalstaaten, die vordergründig auf eine kulturelle Autonomie pochen und sehr verklausuliert auf eine Entsolidarisierung abzielen. Die markantesten Beispiele hierfür sind die Lega Nord in Italien und die Bewegung für ein unabhängiges Katalonien in Spanien. Letztere ist die wohl radikalste und besitzt eine Art Vorreiterrolle für eine Entwicklung, die dann endgültig für die Abwicklung der EU stehen wird.

Nicht, dass die Katalanen nicht etwas hätten, was sie von den Menschen in Kastilien, Andalusien, im Baskenland, in Galizien, oder Exremadura unterschiede, zumindest ihr vulgärlateinischer Dialekt, der in vielen Häfen des Mittelmeeres als lingua franca verbreitet ist. Das größte Alleinstellungsmerkmal ist wirtschaftlicher Erfolg, der mit Handel und Industrie zusammenhängt und historisch bedingt ist. Eine Vereinbarung, die allen Nationen mit unterschiedlichen Regionen zugrunde liegt, dass nämlich mit einer Art Lastenausgleich operiert wird, ist auch im Fall Kataloniens der zentrale Streitpunkt. Oder wie es einer der separatistischen Botschafter Kataloniens, Pep Guardiola, kürzlich zum Besten gab: Es ist gut, dass es guten Menschen gut geht. Da ist es dann gar kein Wunder mehr, dass dieser Vertreter einer sozialen Sezessionstheorie in den Staatsverein Bayerns nach München geholt wurde, weil dort ein solches Gedankengut ebenfalls gepflegt wird.

Dem Zerfall von Bündnissen und Staaten liegen in der Regel innere wie äußere Faktoren zugrunde. Ungleichheit im eigenen Haus ist etwas, das zu Spannungen führt, aber nicht unbedingt zum Bruch führen muss. Statt Absonderung kann auch Synergie stehen, statt Konkurrenz eine gemeinsame Identifikation. Das, was eine Gemeinschaft ausmacht und im Englischen so treffend als common sense, als gemeinsamer Sinn übersetzt wird, ist die Grundbedingung für Zusammenhalt. Und Zusammenhalt ist die Basis eines jedes Gemeinwesens.

Wird diese Basis verlassen, dann geht das Gemeinwesen vor die Hunde. Das war auch im Falle Jugoslawiens so, das von außen zwar mächtig gezogen wurde, aber innen vor allem durch kroatische und serbische Kräfte an einem dortigen Länderfinanzausgleich gemäkelt wurde, in den die höher entwickelten Regionen nicht mehr zahlen wollten. Es war der Anfang vom Ende. Analoge Bewegungen in Spanien wären ebenfalls der Anfang vom Ende, ähnlich wie in Italien oder Deutschland. Das Entscheidende an dem Wohlstandsnationalismus ist die dekadente, weil politisch destruktive Haltung, die sich dahinter verbirgt. Dass sie, wie im Falle Kataloniens, nicht durch kritische Medien identifiziert wird, spricht dafür, dass die Voraussetzungen für eine kritische Reflexion von Politik in großen Teilen der Öffentlichkeit nicht mehr gegeben sind. Da werden die korruptesten Politiker Spaniens, die zum wiederholten Mal mit ihrer Sezessionsphantasie in Städten wie Barcelona scheiterten, als nette Menschen in lustigen Trachten dargestellt, die ihre Heimat lieben. Das Grauen hat tatsächlich einen Namen!

Die große Gelassenheit

Es wird immer wieder die Geschichte kolportiert von dem Revolutionär, der sich so müde fühlte. Jahrelang hatte er auf sein Ziel, den großen Umsturz, hingearbeitet. Tausend Entbehrungen und Schmähungen hatte er hingenommen. Viele seiner Weggefährten hatten ihr Leben lassen müssen, viele Freunde hatten ihn verlassen, und die Frauen um ihn, die ihm etwas bedeutet hatten, waren verschwunden. Dann, über Nacht, in wenigen Stunden, hatte sich der Lauf der Dinge beschleunigt, plötzlich brannte das so lange und geduldig geschürte Feuer lichterloh und die Verhältnisse begannen zu tanzen. Es war seine Stunde. Er wurde überall gefeiert und gefragt und es begann eine Zeit, in der er von einer mächtigen Bewegung getragen wurde. Alles schien leicht von der Hand zu gehen, manchmal reichte ein Wort, und Berge wurden versetzt. Die Zeit raste, die Welt änderte sich und der Revolutionär war immer an maßgeblicher Stelle dabei.

Ganz langsam, kaum merkbar, änderten sich Kleinigkeiten. Hier etwas weniger Resonanz und Begeisterung, dort die eine oder andere kritische Frage mehr. Und Dinge, die mit so viel Schwung verändert worden waren, begannen wieder zu funktionieren wie vor der großen Umwälzung. Die Routinen, die sich herausgebildet hatten, rochen genauso wie die Routinen, die man geglaubt hatte zerschlagen zu haben. Und plötzlich sah der Revolutionär wieder in Gesichter, die nicht von einer Idee, sondern von Status und Ansehen inspiriert waren. Phlegma und Eigensinn machten sich breit, das Feuer war erloschen.

Das war die Stunde, als der Revolutionär große Müdigkeit verspürte. Alles, was gestern noch grandios funktionierte und leicht von der Hand ging, war nun fehlerhaft und mühselig. Er selbst wollte immer noch die Dinge verändern und den Fortschritt herbeiführen, aber er sah sich umgeben von einem Trott, den er nach all den Jahren, die ihn von der Entbehrung bis zum Erfolg geführt hatten, nicht mehr ertrug.

Und der Revolutionär begann zu grübeln. Er konnte sich das leisten, denn die Macht war in seinen Händen. Verschiedene Optionen gingen durch seinen Kopf. Sollte er, müde, wie er war, dem aktiven Leben den Rücken kehren und sich in die private, vielleicht gelehrte Sphäre zurückziehen? Oder sollte er versuchen, da Feuer wieder zu entfachen? Indem er auf die Jugend setzte? In dem er auf die erneute Verfettung mit anklagendem Finger deutete? Oder sollte er kurzerhand den Apparat in Bewegung setzen und diejenigen, die den erneuten Rückschritt verkörperten, aus den Ämtern drängen und zur politischen Passivität verdammen? Alle diese Dinge hatte die Geschichte schon erlebt, und der Revolutionär kannte sie. Er wusste, dass alle Varianten ihre Fehler hatten und dass es keine Lösung gab, die er vorbehaltslos hätte wählen können.

Da saß er nun, müde, enttäuscht, gereizt und auch traurig. Nicht, weil er sich mit etwas auseinandersetzen musste, was er auch hätte als Rückschlag deuten können. Denn mit einem Rückschlag wäre er gut ausgekommen. Das kannte er und steckte er weg, wie er zu sagen pflegte. Aber das, was er jetzt erlebte, das nagte am Sinn. Er sah das Motiv seines ganzen Lebens angefressen von den Mäusen des Müßiggangs und der Routine. Sollte das immer so sein? Diese Frage beschäftigte ihn. Aber, auch wenn es ungewohnt war, sie interessierte ihn immer mehr. Manchmal, wenn er räsonierte, kam sogar das Feuer zurück. Dann taten sich ihm neue Horizonte auf. Denn, so dämmerte es ihm, wenn es ein Bewegungsmuster für Revolutionen gab, das so aussah, wie er es nun selbst erlebte, dann hatte auch die Müdigkeit ihren legitimen Platz im Lauf der Dinge. Der Platz war zwar klein, und die Dauer nicht groß, aber irgendwie nahm dem Revolutionär diese Erkenntnis die Traurigkeit. Sein Umfeld berichtete, fortan habe er sehr gelassen gewirkt.

Der steigende Bedarf an Identität

Je schneller das Rad sich dreht, desto wichtiger wird die Frage. Nicht sofort, denn im Augenblick dominieren die Notwendigkeiten, um sich in der neuen Situation zurecht zu finden und zu überleben. Aber irgendwann, aus dem Hintergrund, taucht sie dann mit aller Macht auf. Manchmal dauert es Jahre oder sogar eine Generation. Und es ist genau dann, wenn entweder die Veränderungen sich eine Pause gönnen oder die gewohnte Fertigkeit versagt, mit ihnen umgehen zu können. Es kann aber auch anders kommen. Diejenigen, die aus den Veränderungen immer wieder profitieren, sehen plötzlich keine Veranlassung mehr, mit denen etwas zutun haben zu wollen, zu denen sie eigentlich gehören, aber die sich aus welchen Gründen auch immer mit dem Gang der Geschichte schwerer taten als sie selber. Und es kann noch etwas anderes sein. Aber eigentlich hat das alles nicht zu interessieren. Bemerkenswert ist, dass weder die Digitalisierung noch die Globalisierung es vermocht haben, die Frage der Identität zu verdrängen. Ganz im Gegenteil: Sie wird eines der wichtigsten Momente sein, welches über die Zukunft und das Zusammenleben entscheidet. Ganz privat wie weltweit.

Soziologie, Ethnologie wie Sozialwissenschaften haben Grundüberlegungen und Antworten darauf gegeben, wie Menschen und Gesellschaften ihre Identität definieren. Der Mikrokosmos der Identitätsfindung ist, unabhängig von den verschiedenen Schulen, immer definiert über die enge soziale Beziehung, sprich Familie und die Sprache, weil sie als erste erkenntnisbefähigende Verkehrsform schon früh und dort einsetzt, und Nahrung, was oft zu profan klang, aber nicht zu leugnen ist und eine gewisse Topographie. Es ist kein Zufall, dass vor allem die Art und Weise der Ernährung wie die Topographie von den Globalisierungspropheten oft geleugnet werden.

Der Prozeß der Zivilisation bei der Sozialisation eines Menschen ist die Schnittstelle zwischen dem Mikrokosmos und dem Makrokosmos der Identität. Da geht es vor allem um soziale Verkehrsformen, die eine Sympathie mit oder Antipathie zu anderen gesellschaftlichen Gruppen herstellen, eine damit verbundene Identifikation mit diesen und ihren Institutionen. Das können staatliche Institutionen sein, aber auch andere. Dabei ist eine Tendenz festzustellen, dass in zunehmend individualisierten Gesellschaften die Identifikation mit den staatlichen Institutionen rapide ab- und die mit sub-kulturellen Kontexten zunimmt. Das ist allerdings nicht überall so. Diese Dissonanz führt übrigens zunehmend zu internationalen Kommunikationsproblemen. Die strukturelle Diversität von national stattfindender Identitätsfindung führt zu sehr unterschiedlichen Schlüssen in der Weltdeutung.

Digitalisierung wie Globalisierung, d.h. vermehrter Kontakt und verstärkte Symbiose unterschiedlicher Systeme haben zu einem Prozess geführt, der in seiner Beschleunigung immer neue Artefakte produziert, mit denen sich die Menschen auseinanderzusetzen haben. Das Ergebnis sind Veränderungen, die die Frage der Identität nahezu wie eine nostalgische Anwandlung erscheinen lassen. Aber wenn es eine Referenz für die Feststellung gibt, dass der Schein trügt, dann dieser Zusammenhang.

In Europa hieß das mal, vor gar nich so langer Zeit, dass neben der Unifizierung des Gebildes parallel ein Prozess laufen werde, den man am besten mit dem Europa der Regionen bezeichnen müsse. Allein in der danach zu beobachtenden Pervertierung von so genannten neuen oder auch alten Identitätsgeschichten lässt sich ablesen, wie die berechtigte Frage nach Identität von einigen Kräften aus ökonomischen Motiven instrumentalisiert wurde. Und auch die politische Instrumentalisierung der Identitätsfrage birgt Dynamit. Die zu beobachtende Migration wird das noch zeigen. Ein kleiner Rat für alle, die es wissen wollen: Wer mit dem Mikrokosmos beginnt, hat bessere Chancen, zu einem guten Ergebnis zu kommen.