Archiv für den Monat Oktober 2011

Die Architektur des atomisierten Individuums

Die Revolutionierung der Arbeit durch die Digitalisierung der Information hat nicht nur in ökonomischer Hinsicht vieles verändert, sondern auch die physische Struktur und die damit verbundene Organisation der Arbeit hat sich in vielen Bereichen dramatisch gewandelt. Bereits vor einem Jahrzehnt sind in der Dienstleistungsbranche Wege gegangen worden, die unter einem Terminus wie Non-Territorial-Work-Station Geschichte geschrieben haben. Damit war quasi die Auflösung des Büros gemeint, die möglich geworden war, nachdem eine Rechner- und Instrumentenmobilität gewährleistet war und die einzelnen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ihr notwendiges technisches Utensil unter den Arm nehmen konnten.

Die Erfahrung mit den aufgelösten Büros war keine dominant positive. In den Großunternehmen, die von der Option der organisatorischen Dissoziation am radikalsten Gebrauch gemacht haben, traten Folgen auf, die nicht vorausgesehen worden waren. Der Umfang der psychischen Erkrankungen nahm dramatisch zu, Vereinsamungs- und Depressionszustände wechselten sich ab mit oszillierenden Überforderungssyndromen. Psychologen sahen die Ursache in der architektonischen Auflösung der Gemeinschaft, die, wie rudimentär auch immer, noch in den Büros geherrscht hatte. Der Mensch, zumindest der des 20. Jahrhunderts, als soziales Wesen reagierte mit Störungen auf die physische Vereinzelung.

Mit den genialen Erfindungen aus dem Hause Apple und der daraus entstandenen und noch entstehenden Infrastruktur ist nun ein neuer Trend in Wirkung, auf den viele Unternehmen mit dem Slogan Bring Your Own Device reagiert haben. Mitarbeiter wählen und kaufen ihre digitalisierten Arbeits- und Kommunikationsinstrumente selbst, bekommen von ihren Arbeitgebern pauschal eine Summe pro Jahr und erhalten von wo auch immer Zugang zu den für sie und das Unternehmen relevanten Datenbanken. Arbeit ist somit komplett privatisiert und eine neue Welle der Auflösung von physischer Arbeitsarchitektur steht bevor.

So ist es mehr als ein Treppenwitz, dass ein derzeit in Berlin gebautes Ministerium mit ca. 3000 Einzelbüros zu einem der größten Museen für archaische Formen der Büroarbeit werden könnte, noch ehe diese offiziell bezogen sind. Es kristallisiert sich mehr und mehr heraus, dass die Atomisierung des Individuums, die mit der Virtualisierung der Arbeit einhergeht, zumindest subjektiv von den jüngeren Generationen besser verkraftet werden wird als von denen aus dem zurückliegenden Jahrhundert. Lehren aus deren Leiden bei den Tendenzen einer neuen Architektur der Arbeit könnten Kommunikationsforen und –lounges sein, die den Assoziierungswünschen des Individuums entgegenkommen.

Alleine die Übung, heutige Industrie- wie Büroarchitektur unter dem Aspekt ihrer untergehenden Notwendigkeit zu denken, würde nahezu alle gesellschaftlichen Bereiche tiefgreifend verändern und revolutionieren. Derartige Szenarien, ob sie dem Einzelnen nun erstrebenswert erscheinen oder nicht, sind die Blaupausen für strategische Überlegungen zu einer Politik der Gestaltung des Gemeinwesens.

Beautiful Maladies

Es ist ein uraltes Phänomen und in der Psychoanalyse nennt man es traditionell Projektion. Es geht dabei um die kritische Beobachtung einer Erscheinung bei anderen, die in einer scharfen und überdimensionierten Kritik endet, die gespeist wird durch unbewusste Ressentiments gegen die eigene Fehlerhaftigkeit. Der Volksmund, dem die akademische Bildung nicht selten so etwas wie Einfalt zu attestieren sucht, hat dieses Phänomen längst erkannt und in eine allgemein verständliche Sprache übersetzt. Dort heißt es, man hasse bei anderen das am meisten, dessen man selbst nicht Herr werde.

Bei der Betrachtung Griechenlands als einem Staat und einer Volkswirtschaft, die viele Anlässe zur Kritik an ihrer Entwicklung anbieten, fiel es bereits schon leise auf. Dort appellierte sowohl die Presse als auch Teile Politik an das Ressentiment. Es wurde von institutionalisiertem Müßiggang gesprochen, von einer Selbstversorgungsmentalität und das alles, wie sollte es anders sein, auf „unsere“ Kosten. Wenig Wochenarbeitszeit im Öffentlichen Dienst, frühes Pensionseintrittsalter und extrem hohe Pensionen. So etwas wirkt in einem Land, in dem die Renten reduziert werden und das Eintrittsalter nach oben gesetzt wird.

Nun, beim nächsten Kandidaten der Krise durch eigene Misswirtschaft, wiederholen sich diese Argumente. Hinzu kommt der generelle Vorwurf einer viel zu großen Bürokratie, einer desolaten Infrastruktur und einer Entscheidungsträgheit, die auf den bürokratischen Moloch zurückzuführen ist. Um es gleich zu sagen: manche Punkte dieser Analyse sind durchaus zutreffend, Bürokratisierung schadet der Wirtschaft, zu lange Entscheidungsprozesse behindern notwendige infrastrukturelle Innovationen und Kompetenzgerangel behindert Produktivität.

Bei der Kondensierung der kritischen Argumente in der Fällen Griechenland und Italien fällt nur eines auf: Die meisten Punkte treffen auch auf die Bundesrepublik zu. Parlamente, die von einer korporierten Beamtenschaft dominiert werden, haben es seit Jahrzehnten zugelassen, dass keine Rückstellungen für Beamtenpensionen vorgenommen wurden. Ein Berg ist herangewachsen, der demnächst die Staatsausgaben dramatisch erhöhen wird. Die Folge ist eine weitere Steuerbelastung der produktiven Elemente der Volkswirtschaft. Infrastrukturmaßnahmen dauern in ihrer Genehmigung manchmal mehr als ein Jahrzehnt, wofür der Transrapid oder Stuttgart 21 sehr beredte Beispiele sind.

Und die Tendenz zu einer weiteren Bürokratisierung ist hier noch schlimmer ausgeprägt als woanders. Die Entmündigung der Gesellschaft durch eine verdichtete Rechtsnormierung ist nicht nur weltrekordverdächtig, sondern führt letztendlich zu einer Aufblähung der Bürokratie wie nie zuvor. Hinzu kommt die wachsende Tendenz, gesetzlich erforderliche Leistungen durch das bürokratische Monopol selbst erledigen zu lassen, anstatt nach Partnern zu suchen, die einer kompetenten Durchführung gewachsen sind.

In Anbetracht der Analogien der kritisierten Phänomene in Griechenland und Italien stellt sich natürlich die Frage, wieso diese Länder mit ihrer Verschuldung und Bürokratisierung an der Klippe stehen, während es in Deutschland vermeintlich noch ganz passabel aussieht. Zum einen ist der produktive Sektor größer und erfolgreicher, allerdings mit einer zunehmenden Neigung, sich nicht mehr pressen zu lassen, zum anderen bewirkt die Gesamtgröße einen langsameren Niedergang. Letzterer ist jedoch nicht nur zu befürchten, sondern längst festzustellen.

Letztendlich stellt sich die Frage, ob es analog zu den Staaten in Südeuropa erst dann zu gesellschaftlichen Verwerfungen kommt, wenn der Staatsbankrott bereits mit weißer Kreide an jeder Straßenecke steht.

Westliche Wahnvorstellungen

Es korrespondiert schon lange nicht mehr mit dem offiziellen Anspruch. Der Westen, ob europäisch oder amerikanisch, hat sich längst in die moralische Phalanx so genannter Schurkenstaaten eingereiht. Der Fall, in jeglicher Hinsicht, der Fall Muamar Al Gaddafis dokumentiert in erschreckender Weise, wie die Mechanismen der Propaganda funktionieren. Da wird jetzt heftig gefeiert, dass der Tyrann, Terrorist und Mörder endlich nicht mehr lebt, nachdem man Jahrzehnte beste Beziehungen gepflegt hat, mit dem Tyrannen und Mörder. Selbst Lockerbie hatte man ihm verziehen, solange das Öl wieder lief, solange er alle einfing, die den darbenden Kontinent Afrika gen Europa verlassen wollten und solange er mit triefenden Petrodollars Waffen aller Art und neuester Technologie bar bezahlte.

Dann, im Zuge der völlig überschätzten und als Element der Propaganda genutzten Facebook-Revolutionen in der arabischen Welt, sah man, dass die Zeit des Tyrannen veronnen war und sich Widerstand regte, im Land der Tuareg- und Berberstämme, die sich bekriegen und Allianzen schließen, wie sie es schon immer taten. Und als klar war, dass er sich nicht mehr halten konnte, der Tyrann und einstige Partner, landete der deutsche Außenminister im Wüstensand und erkannte eine Fraktion des Widerstandes an, ohne Mandat des deutschen Souveräns und wohl auch ohne Kenntnis darüber, was denn eigentlich los ist, im Inneren Libyens, das nun dem Nenner der Gemeinsamkeit einen Kopfschuss verpasst hat und vor dem Anfang steht, den keiner so richtig definieren kann.

Die Analphabeten der arabischen Welt, die sich in Nachrichtensendungen und Talkshows dicke tun und mit ihrem Caféhaus-Halbwissen erklären, wie die islamischen Herzen schlagen, lesen allenfalls den Kaffeesatz der vielen Tassen, die sie konsumieren. Anders wäre es nicht zu erklären, dass sie mit Demokratisierungskonzepten der Nachkriegs-Re-education-Ära daherkommen und weismachen wollen, es ginge in Syrien, im Libanon, in Ägypten, in Tunesien, Libyen, Algerien oder Marokko um Demokratie a la Jefferson, Locke oder Rousseau. Ja Heia, wo ist denn da die interkulturelle Kompetenz, von der in jeder Talkrunde so gerne schwadroniert wird und gerade diese medialen Weltenbummler so gerne schwafeln?

Es gleicht einer Fata Morgana, aus den historisch-gesellschaftlichen Bedingungen der arabischen Welt nun ein Paradigma ableiten zu wollen, das in den gemäßigten Zonen der protestantischen Industrialisierung entstanden ist. Dieser Unsinn verstellt nur den eigenen Blick für die Kreativität der dortigen Bewegungen und er festigt bereits heute, am Tage Null, das Modell der Self Fulfilling Prophecy, dass der Muselmann eben doch nichts zustande bringt. Das alles ist ein Muster, welches nicht zu einem respektvollen Dialog führt, sondern schon in seiner Genese dazu angelegt ist, in einer erneuten Enttäuschung zu enden. Der Westen scheint nichts gelernt zu haben aus einem Jahrhundert der Entkolonisierung und die interkulturelle Kompetenz fällt weit hinter die der arabischen Welt zurück.