Archiv für den Monat Mai 2019

Wenn dein starker Arm es will …!

Es hat sich etwas beträchtlich verschoben in der Funktionszuordnung. Kürzlich war den Nachrichten zu entnehmen, dass die Koalitionsparteien einen neuen Gesetzesentwurf auf den Weg gebracht hätten, der die Mindeststandards bei der Bezahlung und Versicherung von privaten Paketzustellern regelt. Das hört sich zunächst gut an, denn wer kennt nicht die rund um die Uhr durch die Wohngebiete hechelnden, fahrenden, ausliefernden und ständig unter Druck stehenden Zusteller der unterschiedlichen Unternehmen. Auf den zweiten Blick jedoch bezeichnet die Meldung den Endpunkt einer Fehlentwicklung. Denn, die Frage sei ohne Ressentiment gestellt, hat die Regierung eines Achtzigmillionenvolkes nichts Besseres zu tun, als sich um die Tarife von Paketzustellern zu kümmern? Sollte es ihr nicht um das große Ganze gehen? Und, des Weiteren, gibt es in dem Land, das einmal als das der best organisierten Arbeiterschaft der ganzen Welt galt, eigentlich keine Gewerkschaften mehr? 

Zu betrachten ist das Resultat einer in in starkem Maße geschwächten Gewerkschaftsbewegung, die vor zweieinhalb Jahrzehnten noch bei jeder die politische Weichenstellung betreffenden Beratung mit am Tisch saß. Der hohe Organisationsgrad in den einzelnen Branchen sorgte dafür, dass Tarifverträge ausgehandelt wurden und galten, die nicht immer alles beinhalteten, worum es den Beschäftigten ging, die jedoch für Standards sorgten, die nicht dazu zwangen, mit Zweitjobs oder Sozialgesetzgebung das Dasein mitzufinanzieren. Diese Verträge waren das Ergebnis von Organisation und Koalition und sie wurden durchgesetzt mit Kampfbereitschaft und Konsequenz.

Mit der Übernahme des Wirtschaftsliberalismus als Staatsphilosophie und mit dem schnellen Wachstum wie dem jähen Ende verschiedener Branchen kam einiges in Bewegung. Durch sinkende Mitgliederzahlen wurde die Stimme der Gewerkschaften leiser und durch das Ausblenden von Bereichen, die als schwierig galten, sank der Einfluss. Am Ende steht eine Gewerkschaftsbewegung, die an eine CDU/SPD-Koalition vieles abgetreten hat. Womit die Rolle der SPD in der großen Koalition einigermaßen präzise beschrieben ist. Aus einer breiten Massenbewegung, die aus den Betrieben heraus Politik machen konnte, ist ein Regierungsbetriebsrat geworden.

Säßen wir in der Zeitmaschine und kämen noch aus den achtziger oder neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts in die Jetztzeit angerauscht und erführen, dass eine Bundesregierung das Salär von Paketboten gesetzlich regelte, wir rieben uns die Augen oder wir brächen in lautes Gelächter aus. Aber so ändern sich die Zeiten, wenn man nicht aufpasst. Und das geschieht, wenn immer und immer wieder darauf verwiesen wird, dass es ja gute Politiker gäbe, die sich kümmerten. Am Ende von ständigem Kümmern steht die Bevormundung. Deshalb war es immer ein Slogan von Gewerkschaften, dass es auf die Mitglieder ankäme, und nicht auf ferne Gremien („Es kommt aus dich an, Kollege!“).

Dass wir uns in Diskussionen darüber befinden, wie die Verhältnisse, so wie sie sind, geändert werden können, sollte die umrissene Frage nicht unter den Tisch fallen. Sonst wird aus dem gesamten Vorhaben nichts. Funktionierende, einflussreiche und kampfbereite Gewerkschaften sind die Grundvoraussetzung für jede Form gesellschaftlichen Wandels in modernen Industriegesellschaften. Insofern ist neben den Überlegungen einer wirksamen politischen Partizipation und der Überlegungen zu Macht- und Besitzverhältnissen ein Kernthema die Revitalisierung der Gewerkschaften. 

Die Arbeit liegt bereits vor der Tür. In der Bundesrepublik werden mehr als die Hälfte der Beschäftigten unterhalb der jeweils gültigen Tarife bezahlt. Mit dem konsequenten Kampf dagegen kann geworben werden und mit einer Aktivierung der Menschen in gewerkschaftlicher Hinsicht wird eine Politisierung erreicht werden, die Voraussetzung für jede Form des Wandels ist.

Der Grat zwischen Individuum und Kollektiv

Das Konzept des alles überragenden Individuums in einer sozial dennoch stark konturierten Gesellschaft scheint sich auf seinen Endpunkt hinzubewegen. Und wie üblich, wenn eine Ära auf die finalen Akkorde zustrebt, leben die alten Tugenden noch einmal in voller Blüte auf. Mehr noch, die letzten Bilder sind an Bizarre nicht zu überbieten. Was da in letaler Schönheit strahlt, ist der Aberwitz der früheren Existenz. Noch einmal steht das Ich, ohne das es keine Gesellschaft gäbe, in der Aura der eigenen, längst nicht mehr wirksamen Bedeutung. Denn die Ausblendung des sozialen Kontextes hat das Ende bewirkt, die Abkoppelung des individuellen Schicksals von der Gesellschaft war nichts anderes als eine Illusion, gespeist von der Hypostasie der Privilegierten.

Ihre Selbstbezogenheit, ihre Bedürftigkeit nach Sinn, ihre Eindimensionalität, hat den Abweg auf die unumschränkte Herrschaft der Individuums frei gemacht. Für die große Mehrheit, die ihre Existenz nur durch erfolgreiche Arrangements in der Gemeinschaft sichern kann, war das immer eine Illusion, geendet hat es für sie in einer Ideologie, die abgelenkt hat von der wahren Bestimmung.

Die nämlich liegt, abseits des Besitzes und Konsums, in der erfolgreichen Assoziation mit den anderen, die als Individuum auf verbriefte Rechte pochen, die jedoch den existenziellen Sinn in dem sehen, was die Gattung ausmacht: in der erfolgreichen Kombination der vielen individuellen Fähigkeiten und Fertigkeiten. Die soziale Organisation ist es, die den Homo sapiens über andere Gattungen stellt, sonst nichts. Aus der sozialen Organisation entsteht korporierte Arbeit wie Sprache, Brot wie Kultur.

Wie Abseitig ist es da zu glauben, der Individualismus sei das höchste aller Ziele? Wie dünn ist das Futter, in dem die Reflexion der eigenen Bedürftigkeit im lebenslangen Zentrum steht? Die Ideologie, die das durchaus nachvollziehbare Recht der einzelnen Persönlichkeit bis in die dekadente Übersteigerung getrieben hat, ist der Wirtschaftsliberalismus, der die Gesellschaften, die ihr gefolgt sind, in einen Zustand manövriert haben in dem sie sich jetzt befinden: den der Implosion!

Als eine böse Ahnung für alle, die den sozialen Isolationismus gepriesen haben, erscheint nun der chinesische Kollektivismus am mentalen Horizont. Seine Macht wächst, und es scheint, als sei er eine Alternative zum Individualismus der westlichen bürgerlichen Revolution. Der Respekt vor den Leistungen dieser Form des Kollektivismus ist angebracht, der Kotau vor dem autoritären Modell jedoch nicht.

Hat der überhitzte und übersteigerte Individualismus eine unerträgliche semantische Leere produziert, die das Seelenleben zerstört, so ist der Kollektivismus ohne Freiheit die physische Hölle auf Erden. Es ist nicht ratsam, die Vorteile unterschiedlicher Gefängnisse gegeneinander abzuwägen. Das führt zu keiner guten Lösung und zu keinem Ziel, das erstrebenswert wäre.

Vielmehr ist es an der Zeit, das soziale Modell, das einen Ausweg aus Zerstörung und Bevormundung bieten soll, gut durchdacht zu beschreiben und in einem emanzipatorischen Diskurs zu verbessern. Die Konstanten, die sich ergeben, sind klar: Das Individuum hat unverbrüchliche Rechte, doch das Kollektiv entscheidet, wohin die Gesellschaft treibt. Es muss um die Frage des Besitzes genauso gehen wie um die Rechte auf Assoziation. Kurz, es geht um den Grat zwischen Individuum und Kollektiv. Nur eine neue Konzeption wird eine Zukunft haben. Der Individualismus im westlichen Kapitalismus stürzt bereits von der Klippe, das autoritär geführte Kollektiv des Ostens hat noch etwas Zeit vor dem großen Crash, aber in der Ära der Beschleunigung sollte nicht geglaubt werden, dass sein Siegeszug noch lange ohne Störung währt.