Es hat sich etwas beträchtlich verschoben in der Funktionszuordnung. Kürzlich war den Nachrichten zu entnehmen, dass die Koalitionsparteien einen neuen Gesetzesentwurf auf den Weg gebracht hätten, der die Mindeststandards bei der Bezahlung und Versicherung von privaten Paketzustellern regelt. Das hört sich zunächst gut an, denn wer kennt nicht die rund um die Uhr durch die Wohngebiete hechelnden, fahrenden, ausliefernden und ständig unter Druck stehenden Zusteller der unterschiedlichen Unternehmen. Auf den zweiten Blick jedoch bezeichnet die Meldung den Endpunkt einer Fehlentwicklung. Denn, die Frage sei ohne Ressentiment gestellt, hat die Regierung eines Achtzigmillionenvolkes nichts Besseres zu tun, als sich um die Tarife von Paketzustellern zu kümmern? Sollte es ihr nicht um das große Ganze gehen? Und, des Weiteren, gibt es in dem Land, das einmal als das der best organisierten Arbeiterschaft der ganzen Welt galt, eigentlich keine Gewerkschaften mehr?
Zu betrachten ist das Resultat einer in in starkem Maße geschwächten Gewerkschaftsbewegung, die vor zweieinhalb Jahrzehnten noch bei jeder die politische Weichenstellung betreffenden Beratung mit am Tisch saß. Der hohe Organisationsgrad in den einzelnen Branchen sorgte dafür, dass Tarifverträge ausgehandelt wurden und galten, die nicht immer alles beinhalteten, worum es den Beschäftigten ging, die jedoch für Standards sorgten, die nicht dazu zwangen, mit Zweitjobs oder Sozialgesetzgebung das Dasein mitzufinanzieren. Diese Verträge waren das Ergebnis von Organisation und Koalition und sie wurden durchgesetzt mit Kampfbereitschaft und Konsequenz.
Mit der Übernahme des Wirtschaftsliberalismus als Staatsphilosophie und mit dem schnellen Wachstum wie dem jähen Ende verschiedener Branchen kam einiges in Bewegung. Durch sinkende Mitgliederzahlen wurde die Stimme der Gewerkschaften leiser und durch das Ausblenden von Bereichen, die als schwierig galten, sank der Einfluss. Am Ende steht eine Gewerkschaftsbewegung, die an eine CDU/SPD-Koalition vieles abgetreten hat. Womit die Rolle der SPD in der großen Koalition einigermaßen präzise beschrieben ist. Aus einer breiten Massenbewegung, die aus den Betrieben heraus Politik machen konnte, ist ein Regierungsbetriebsrat geworden.
Säßen wir in der Zeitmaschine und kämen noch aus den achtziger oder neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts in die Jetztzeit angerauscht und erführen, dass eine Bundesregierung das Salär von Paketboten gesetzlich regelte, wir rieben uns die Augen oder wir brächen in lautes Gelächter aus. Aber so ändern sich die Zeiten, wenn man nicht aufpasst. Und das geschieht, wenn immer und immer wieder darauf verwiesen wird, dass es ja gute Politiker gäbe, die sich kümmerten. Am Ende von ständigem Kümmern steht die Bevormundung. Deshalb war es immer ein Slogan von Gewerkschaften, dass es auf die Mitglieder ankäme, und nicht auf ferne Gremien („Es kommt aus dich an, Kollege!“).
Dass wir uns in Diskussionen darüber befinden, wie die Verhältnisse, so wie sie sind, geändert werden können, sollte die umrissene Frage nicht unter den Tisch fallen. Sonst wird aus dem gesamten Vorhaben nichts. Funktionierende, einflussreiche und kampfbereite Gewerkschaften sind die Grundvoraussetzung für jede Form gesellschaftlichen Wandels in modernen Industriegesellschaften. Insofern ist neben den Überlegungen einer wirksamen politischen Partizipation und der Überlegungen zu Macht- und Besitzverhältnissen ein Kernthema die Revitalisierung der Gewerkschaften.
Die Arbeit liegt bereits vor der Tür. In der Bundesrepublik werden mehr als die Hälfte der Beschäftigten unterhalb der jeweils gültigen Tarife bezahlt. Mit dem konsequenten Kampf dagegen kann geworben werden und mit einer Aktivierung der Menschen in gewerkschaftlicher Hinsicht wird eine Politisierung erreicht werden, die Voraussetzung für jede Form des Wandels ist.
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