Archiv für den Monat April 2010

Flucht, Bauchmusik und Experimentierfreude

The Rolling Stones. Exile on Main Street

Und wieder erscheint eines der größten Alben der Rockgeschichte in überarbeiteter Form die interessierte Zuhörerschaft und wieder wird die Legendenbildung bemüht, um die Attraktion des zumeist doch schon Bekannten zu erhöhen. Bei dem Album Exile on Main Street von der Rolling Stones ist das nicht anders. Und dennoch lohnt es sich, etwas genauer hinzuschauen und zu hören. So kann man natürlich verstehen, dass der begnadete Marktstratege Mick Jagger Anfang der siebziger Jahre, als man vor britischen Polizei- und Finanzbehörden auf der Flucht war und die gar nicht marktfördernden Skandale mit der Morgenpresse regelmäßig präsentiert bekam, aus einem Fluchtvorgang gleich ein Exil machte, was sich immer besser anhört, weil es ja eine politische Dimension besitzt.

Was sich allerdings in Richards´ Villa in Südfrankreich in diesem Sommer abspielte, kann eigentlich noch besser mit dem Wort Exzess als mit dem des Exils beschrieben werden. Sprich: die Stones saßen von den letzten Etappen ihres Karriereverlaufs, Trennung und Tod von Brian Jones, das Desaster von Altamont, Steuerschulden, ein Rechtsstreit mit Manager Allen Klein etc. ziemlich angepisst zusammen und wussten nicht so recht, wie es weiter gehen sollte. Im Grunde war dieser an sich missliche Umstand der Glücksfall, denn die Stones flüchteten sich eben nicht nur in die Exzesse, sondern sie erinnerten sich auch dessen, was sie zusammengebracht hatte.

Die Musik, die in diesem Sommer entstand, brach doch im Wesentlichen mit den vorangegangenen, sehr erfolgreichen Alben. Die Stücke, die auf Exile on Main Street zu hören sind, zeichnen sich einerseits durch ein starkes, authentisches Bauchgefühl aus und dokumentieren eine vorher nicht da gewesene Experimentierfreude. Dominieren bei Rocks Off noch die Londoner Kellerriffs, ist bei Tumblin´Dice schon ein Hauch von Südstaaten vorhanden und bei Sweet Virginia fragt man sich, ob man es noch mit einer europäischen Band zu tun hat. Mit dem Ventilator Blues schufen sie einen All Time Favorit für jeden Film über die Südstaaten und bei Shine A Light klopft vernehmbar der Gospel an die Tür. Das Bonusmaterial, welches aus Konserven gespeist wurde, die aus den Sessions in diesem Sommer stammten, verdeutlicht einmal mehr die Rückbesinnung auf die eigenen Stärken, den ungeheuren Spaß an der Musik und die Offenheit für Neues. Alles dies sollte in Exile On Main Street seinen Höhepunkt erfahren. Nie wieder danach waren die Stones so leidenschaftlich vertraut mit ihrer eigenen Musik, nie wieder so zweckfrei, was den Erfolg anbetraf und nie wieder so offen. Das macht den Wert dieser Aufnahmen aus, die alle nun in anderer Tonqualität und Dynamik vorliegen und die sich jeder zu Gemüte führen sollte, der die Gassenhauer nicht mehr hören kann und der wissen will, wie der R&B in Europa zu einer seiner besten Zeiten geklungen hat!

Aggressive Depression

Depressionen sind eine ernste Angelegenheit. Sich gegen sie wehren können die Betroffenen nicht mehr, weil es zum Wesen der Krankheit gehört, keine psychisch immunisierenden Kräfte gegen den Defätismus mehr mobilisieren zu können. Das Weltbild zerfällt zu einem Desaster, in dessen Mittelpunkt das Individuum selbst steht. Letztendlich handelt es sich bei dem Phänomen um einen subjektiv erlebten freien Fall in die existenziellen Niederungen, wenn nicht in die Auflösung des Daseins überhaupt. Kognition und Ratio sind fast vollständig ausgeblendet, die negative Emotion dominiert das Erleben. Da hilft, zumindest in der therapeutischen Praxis, häufig nur der Einsatz von Drogen, die, wie es dort immer wieder heißt, zunächst einmal ruhig stellen bis zu dem Zeitpunkt, von dem man glaubt, der Appell an ein urteilendes Bewusstsein habe die Chance, wieder anzukommen. Die Depression ist die Ausblendung menschlichen Gestaltungswillens, er kommt ebenso wenig vor wie die emotionale Aufladung, die sich in der Aggression Luft verschafft.

Dennoch ist das Paradoxon der aggressiven Depression zu beobachten. Allerdings nicht bei einzelnen Individuen, die als pathologisch im originären Sinne gelten könnten, sondern als Phänomen, das sehr gut das gegenwärtige Psychogramm unserer gesellschaftlichen Zustände beschreiben könnte. Denn die deutsche Volksseele blendet zunehmend systematisch alle kognitiven und rationalen Filter aus und steigert sich in eine der Depression analoge Emotionalität. Letztendlich befindet sich dieser Psychozustand im freien Fall und es sind keine auto-suggestiv gesteuerten Aktivitäten mehr vernehmbar, die dieser Art von Patienten noch eine positive Verlaufsprognose erlaubte. Die Symptome, die die paradoxe Diagnose der aggressiven Depression erlauben, sind vor allem in den emotionalen Zuständen zu finden, die kollektiv die Übermacht errungen haben. Da ist vor allem der Neid zu nennen, der in der Mehrzahl der emotionalen Handlungen dominiert, dich gefolgt vom Ekel, der als eine Art Spiegelung des ersten zu begreifen ist. Beide emotionale Varianten sind allerdings aggressive Gemütszustände, die genuin nicht in das Krankheitsbild der Depression passen.

Das, was bei Depressiven als erster Verlust offensichtlich wird, nämlich seine eigenen Geschicke und die Welt bewusst gestalten zu wollen, ist bei näherem Hinsehen den Deutschen gehörig abhanden gekommen. In einem einzigartigen Akt der Verdrängung wird ausgeblendet, wie desolat die rein reaktive und nicht mehr steuernde Existenz sich auf die realen Lebensbedingungen auswirkt. Im Gegensatz zu dem klassischen Krankheitsbild jedoch werden dann Energien freigesetzt, wenn sich im näheren Lebensumfeld der Wille anderer Zeitgenossen vernehmen lässt, etwas gestalten zu wollen. Dann, wie aus dem Nichts, entlädt sich eine Aggression, die in der Manier eines Orkans alles wegzufegen trachtet, was an die Möglichkeit erinnern könnte, das Schicksal in den eigenen Händen zu haben. D.h. das letzte zur Verfügung stehende energetische Potenzial wird in einer destruktiven Handlung vergeudet. Da fallen dann doch nur noch ganz archaische therapeutische Programme ein, wie z.B. der Aderlass, denn die sanfte Medizin scheint in diesem Falle bereits heute überfragt.

Das Griechenland-Manöver

Einen besseren Anschauungsunterricht könnten selbst die findigsten Pädagogen kaum bieten. Angesichts des Hilfeersuchens seitens Griechenlands an die EU zur Stützung der eigenen Staatsfinanzen spielt sich in Europa ein Manöver ab, das viel sagender nicht sein könnte. Und das auf allen Seiten! Da wird in Griechenland an einen sehr alten, seit den Militärjuntas schon vergessen geglaubten Chauvinismus appelliert, der den griechischen Nationalstolz über das reife Kalkül stellt. Neben einer Empfängermentalität, die an das Dekadente erinnert wird ganz unverblümt das Klassenressentiment gegen die Reichen gestellt, sprich die großen Wirtschaftsnationen, vorne an die Bundesrepublik. Sie sähen genüsslich zu, wie der arme griechische Olivenbauer seiner Existenz beraubt würde. Dass zu dem nationalen Verderben ebenso die Großmannssucht, die Spekulation und die windige Buchführung gehört haben, wird dabei glimpflich verschwiegen. Dennoch fruchten die Anschuldigungen und im Volk gärt die Aggression gegen die Reichen aus dem Norden.

Hier, im Land der gefühlten immerwährenden Geber, wird wiederum ein Bild gezeichnet, das in seiner Übertreibung und Hintertriebenheit kaum besser ist. Da liegen die faulen Griechen in der Sonne oder unterm Baum und lassen sich die durch EU-Subventionen finanzierten Hähnchenschlegel ins das offene, faule Maul fliegen. Und wenn sie zwischen Völlerei und Saufgelage einmal aufwachen sollten, dann hetzen sie auf unsere Landsleute, die auch noch so dumm sind, ihren Urlaub bei diesen Faulenzern zu verbringen. Verschwiegen wird bei dieser Hetze, dass auch deutsche Waffenexporteure sich dick und fett verdient haben bei einer strategischen Überrüstung des Mittelmeerstaates, der an die Zähne bewaffnet ist und so viel Geld pro Bürger für die militärische Rüstung wie sonst niemand in Europe ausgibt. Und verschwiegen wird ebenso, dass es in Europa an den Börsen – im Gegensatz zu den immer wieder verschmähten USA – immer noch erlaubt ist, auf das Abschmieren von ganzen Volkswirtschaften zu setzen und es sich bei einem Teil der schrecklichen Verluste, die sich auch als deutsche Kompensationszahlungen am Himmel abzeichnen, um das Absichern solcher politisch verwerflicher und asozialer Spekulationen handelt.

Sieht man sich die mediale Kommunikation auf beiden Seiten an, so könnte man einer großen Depression erliegen angesichts der schlichten Manöver, derer es genügt, um ganze Nationen gegeneinander aufzuhetzen. Noch schlimmer wird es allerdings, wenn man in Betracht zieht, dass im Grunde die gleichen Reflexe mit den gleichen Reizen bedient werden. Das ist ein trauriges Stück, das dort aufgespielt wird, welches nur dadurch seinen wider Erwarten heiteren Schlusspunkt erfährt, dass das jeweilige eigene Volk mit einer anti-kapitalistischen, egalitären Ranküne bei der Stange gehalten werden soll und das Xenophobische markiert wird durch den Müßiggang, der jenseits der Gerechtigkeit liegt. Da haben, bevor der Schlussvorhang fällt, dann doch der Frankfurter Börsianer und der Athener Immobilienhai hier sowie der griechische Weinbauer und deutsche Steuerzahler dort mehr mit einander gemein, als man zu Anfang glauben wollte.