Archiv für den Monat Juli 2012

Der weiße Mann und das Delta

Elijah Wald. Vom Mississippi zum Mainstream

Die Geschichte des Blues war schon immer spannend. Vor allem, dass sie, analog zu der des Sklavenhandels, niedergeschrieben wurde vom weißen Manne. So, wie in späteren Phasen des schlechten Gewissens aus dem weltweiten Sklavenhandel eine exklusive Angelegenheit des weißen Mannes gemacht worden war, ohne die florierende Branche der inner-kontinentalen afrikanischen Sklavenfänger auch nur mit einem Nebensatz zu erwähnen, genauso wurde der Blues das Volksgut der Nachfahren der als Sklaven ins Mississippi-Delta Importierten. Afrikanisch inspirierte Lieder der Opfer, die dann irgendwann den Old Man River hinauf bis nach Chicago zogen und dann den Electric Blues erfanden.

Das Buch von Elijah Wald, einem Briten aus Cambridge, einem Synonym für einen White Anglo-Saxon Protestant, sprich WASP, wie es klischeehafter nicht sein könnte, räumt mit der ganzen Herrschaftsromantik radikal auf. Wald entlarvt die bisherige Geschichte des Blues als ein Machwerk weißer Romantiker, die es nie zugelassen haben, dass sie es mit den Blues-Musikern mit äußerst lebenslustigen, selbstbewussten und sehr zielstrebigen Unterhaltern zu tun hatten, die nur eines wollten: Raus aus dem Dreck.

Vom Mississippi zum Mainstream ist von seiner Argumentation in drei Teile gegliedert:

Die tatsächliche Geschichte vieler Blues-Musiker, denen gemeinsam war, dass sie auch bestimmte Blues-Titel ihrem Repertoire hatten, ansonsten aber auch vieles andere und vor allem die Hits, die die Leute, vor denen sie spielten, hören wollten. Wald, der gehörig in historischem Material recherchiert hat, weist überzeugend nach, dass vor allem die Blues-Labels diese Unterhaltungskünstler immer nur Blues-Titel auf Platten aufnehmen ließen und nicht das, was sie auch sonst noch konnten.
Die Legendenbildung um Robert Johnson. Der Mann, der tatsächlich aus dem Delta kam, nur 28 Jahre alt wurde, dann mal von einem eifersüchtigen Ehemann erschossen und mal vergiftet wurde, und so viele Hits herausbrachte wie Lebensjahre, war zu seiner Zeit gar nicht so bekannt und geachtet. Er wurde erst durch die Nachwelt zu der Blues-Ikone schlechthin.
Das Werk Robert Johnsons als solches ist grandios, weil er dieser zweifelsfrei virtuose Gitarrist und markante Sänger Mehreres miteinander verband: Sein vom Blues beeinflusster Slide-Stil, seine Textimprovisationen und seine stilistischen Zitate aus anderen Musikrichtungen bis hin zu Swing. Das war die Gärung, aus der später auch Rock´n Roll und Pop erwuchsen und die Robert Johnson zu einem irrwitzigen Modernisierer machten und nicht zu einem Lordsiegelbewahrer des Delta-Blues.

Elijah Wald hat mit diesem Buch die weiße Historiographie des Blues mächtig erschüttert. Manchmal ist es etwas sehr detailliert und etwas langatmig, weil der Autor glaubt, seine Thesen immer wieder durch Beispiele unterlegen zu müssen. Für Menschen, die sich mit dem sozialen Charakter von Musik befassen, ist das Buch ein Muss. Theodor Wiesengrund Adornos böses Wort im Ohr, dass sich mit Jazz und Blues der Schwarze an seiner eigenen Unzulänglichkeit delektiere, fußt schlichtweg auf einer historiographischen Fälschung. Nach Elijah Walds Buch muss es heißen: in der klassischen weißen Geschichtsschreibung delektiert sich der weiße Mann am Elend derer im Delta.

Vom Swinging London zum Scherbenhaufen

Die Dimension der kulturellen Veränderung, die von London in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts ausging, ist bis heute beeindruckend. Vieles von dem, was in Swinging London seinen Geburtsimpuls bekam, strahlt noch 45 Jahre später in die Kulturzonen dieser Welt. Das London der Sechziger war eine Zone des kulturellen Umbruchs. Bildende Kunst, Musik, Literatur, Mode, Design, alles was in der Kommunikation über Lebensgefühl und Lebensstil eine Rolle spielt, wurde revolutioniert. Wahrscheinlich, wagt man eine Prognose hinsichtlich späterer Historiographie, handelte es sich bei der angedeuteten Entwicklung um die letzte Periode avantgardistischer Erneuerung des bürgerlichen Zeitalters.

Das Großbritannien, in dem dieser fulminante und qualitativ unermessliche Innovationsschub stattfand, hatte den II. Weltkrieg verkraftet, ohne den Sprung in die industrielle Serienproduktion vollzogen zu haben. Trotz oder gerade wegen des Ressourcenzugriffs in den Kolonien und ehemaligen Kolonien kam das Vereinigte Königreich nie über das Stadium der Manufaktur hinaus. Dennoch gab es Fabriken, in denen Werte produziert wurden und ein Proletariat, das zahlenmäßig mit das größte seiner Klasse in Europa war. Ein fest gezurrtes Klassendenken hatte die Gesellschaft konserviert und erst das zahlenmäßige Anwachsen des Nachwuchses der Mittelklasse führte zu Aufweichungen. In den Protestformen der jungen Intellektuellen fanden sich Teile des Proletariats wieder, vor allem in der Musik.

Das Erstaunliche und Beklemmende der Nachwirkung der Swinging Sixties ist die Tatsache, dass die kulturelle Revolution zu keiner substanziellen Erneuerung von Ökonomie und Gesellschaft geführt haben. Industriell rammte man sich in die Sackgasse, gesellschaftlich pflegte man in den hippen Stadtteilen Londons die näselnde Arroganz, bis der russische Geldadel die Eliteschulen majorisierte. Maggie Thatcher setzte berittene, bewaffnete Garden ein, um den sprichwörtlichen englischen Gewerkschaftskorporatismus zu brechen und einer Klasse aus Spekulanten Platz zu machen, die alles, was an Wertschöpfung noch auf der Insel anzutreffen war, zerstückelte und versilberte. Tony Blair, das Flaggschiff von New Labour, hat die Auflösung des korporierten Englands noch beschleunigt und konnte keine Perspektive entwickeln, die den Namen einer Gegenstrategie verdient hätte.

Das heutige Großbritannien, das sich nun mit der Olympiade der Weltöffentlichkeit präsentiert, verkörpert den dramaturgischen Kontrapunkt zu den Swinging Sixties: Die Innovation ist der Spekulation gewichen, die Rebellion der Dekadenz, die Toleranz der nackten Gewalt, die Prosperität der disproportionalen Verteilung und der Optimismus einer tiefen Depression.

Das, was in den nächsten Wochen der Weltöffentlichkeit präsentiert wird, ist eine Inszenierung, die nichts mit den Lebensverhältnissen in diesem Land und in dieser Stadt zu tun hat. Das Stück, das aufgeführt werden wird und an dessen ideologischer Überschäumung auch die hiesigen medialen Propagandaabteilungen eifrig mitarbeiten werden, wird in krassem Gegensatz zu den Nachrichten stehen, die uns von der Insel erreichen werden, wenn das olympische Feuer erloschen ist, die Spekulationsblasen reihenweise platzen werden und ein pauperisiertes Proletariat, das keinerlei Perspektiven mehr besitzt und das auch keiner mehr will, zeigt, dass es trotzdem noch da ist!

Wenn das Subjekt zum Objekt wird

Zu oft bemüht wurde Kant, zunächst Seismograph und dann der große Former der Aufklärung. Zu oft wurde sein Zitat in alle Winde verstreut, dass Aufklärung den Austritt des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit bedeute. Und auch zu oft darauf verwiesen, dass dem Chirurgen, dem Messerscharfen durchaus auch aufgefallen war, dass die Unmündigkeit durchaus geschätzt würde als ein komfortables Refugium für die weniger Durchsetzungsfähigen. Die Aufklärung, die als die Verbalisierung der großen Veränderungen gelten kann, die in der Epoche der bürgerlichen Revolution anstanden, spielte ihre Rolle wie nach Vorschrift. Das Wort geht der Tat voraus, schrieb Heinrich Heine, wie der Blitz dem Donner. Die historischen Fakten, die die bürgerliche Revolution schuf, sprachen nicht nur für sich, sondern auch für das Konzept der Aufklärung.

Gesellschaften weisen durchaus Verlaufsformen auf, die an biologische Prozesse erinnern. Man muss ja nicht Keim, Blüte und Verfall bemühen, auch wenn kein anderer Kalender mit seinem Germinal und Thermidor so darauf verwies wie der der französischen Revolution. Längst hat sich die bürgerliche Gesellschaft mit seiner Verfassung, seinen Subjekten und seiner Öffentlichkeit etabliert und längst hat sie das erfahren, was man heute, mit Blick auf ganz andere Kulturkreise, als fundamentalistische Reflexe auf ein großes Maß an Modernität bezeichnet. Der europäische Nationalismus und Faschismus entsprach durchaus dem, was heute als Islamismus in der Welt auf sich aufmerksam machte.

Die Wunden und Risse, die der europäische Fundamentalismus hinterlassen hat, sind bis heute nicht verheilt. Das vielleicht größte Debakel in der Phase nach Faschismus und Krieg tat niemandem weh und wurde als eine große zivilisatorische Leistung gefeiert. Es war die Abweichung vom Prinzip der Eigenverantwortung und die Hinwendung zu einer falsch verstandenen Empathie und Zuwendung. Systematisch verschonte man Verantwortliche und begann, deren Taten und Handlungen mit den Kontexten zu erklären, als hätten die Akteure keinen Einfluss auf das, was sie taten. So wurden hierzulande die Täter des II. Weltkrieges behandelt und danach die Nachkommen der Täter. Aus Appeasement gegen den Faschismus wurde soziale Empathie mit dem gleichen Effekt: Subjekte wurden zu Objekten und damit exkulpiert von allem, was sie hätten eigentlich verantworten müssen.

Die Dialektik der Aufklärung war somit nicht nur die Verselbständigung der Instrumente, sondern viel schlimmer, die systematische Marginalisierung der Subjekte bis zu dem Stadium, in dem wir uns heute befinden. Diejenigen, die bereit sind, für ihre Handlungen die Verantwortung zu tragen, sind nicht nur in der Minderheit, sondern dem Rest auch noch suspekt. Und diejenigen, die sich zurückziehen auf Sachzwänge und bestehende Handlungssysteme, gelten als die Seriösen. Das wäre, ahistorisch und doch wieder historisch betrachtet, mehr als befremdlich. Die treibenden Elemente, von der eine Gesellschaft lebt, werden von dieser selbst an den Rand gedrängt und die immanent Handelnden in die Schaltzentralen geschoben, wo sie nicht mehr wissen, was zu tun ist.

Die daraus erwachsende Aporie besteht in der Klage über die Handlungsunfähigkeit der Objekte und der Weigerung, sie durch harte Anforderung zu dem zu machen, was sie eigentlich sein sollten: Subjekte. Denn bewusst, dass die Herrschaft der Objekte nicht zum Erfolg führen kann, ist das vielen Verantwortlichen schon. Und die Klagen darüber werden lauter. Nur scheint die Angst, tatsächlichen Subjekten zu vertrauen noch größer zu sein, als kontrollierbaren Objekten bei ihrer Überforderung zuzusehen.