Archiv für den Monat Februar 2016

Drei Hasen und ein Fasan

Dass sich nicht nur in der Wahrnehmung von Politik etwas ändert, sondern tatsächliche Veränderungen größeren Ausmaßes vor den Gesellschaften Europas stehen, ist sicherlich keine gewagte These. Für die Länder im Osten Europas ist das sogar schon eher eine Beschreibung der jüngsten Vergangenheit, der Süden durchlebt einen drastischen Wandel seit Jahren und nur das Zentrum und der Westen haben sich, abgesehen von kräftigen wirtschaftlichen Veränderungen, politisch in einem relativ stabilen Zustand befunden. Damit scheint es jetzt vorbei zu sein. Die Ungleichzeitigkeit von Veränderungen ist übrigens eine Erklärung dafür, warum sich der Osten gegen die neuen, anstehenden Veränderungen zuweilen harsch abschottet, denn dramatischer als dort konnte sich der Begriff von Politik nicht wandeln als dort und dramatischer die Wirtschaft sich nicht ändern. Dass dort der Wunsch nach Stabilität nun teilweise radikale Züge trägt, sollte nicht verwundern.

Vor allem hier in Deutschland, mit einem Osten, der diese Entwicklungen, abgefedert durch das Modell Deutschland AG, durchlebt hat und einem Westen, der die Saturiertheit der föderalen Behaglichkeit in seinem Politikverständnis mit sich trägt, braut sich auf der einen Seite eine Ahnung von dem zusammen, was alles zur Disposition stehen könnte. Auf der anderen Seite suggerieren die Mächtigen der wabernden Masse eine Beständigkeit, an die viele tatsächlich auch glauben wollen. Die wird es mit Sicherheit nicht mehr geben.

Nicht, dass es darum ginge, Ängste schüren zu wollen. Aber es geht darum, den Realitäten ins Auge zu sehen und sich nichts vormachen zu dürfen. Im Grunde geht es um zwei Konstanten von Politik, die nicht mehr greifen werden und die einen inneren Zusammenhang zu den Verhältnissen haben, die der Politik zugrunde liegen. Die erste Feststellung ist die, dass sich globale Entwicklungen sehr schnell als Bewegungen im eigenen Territorium abspielen und die zweite ist die, dass die gegenwärtige Doktrin des Wirtschaftsliberalismus mit verantwortlich ist für die Verheerungen, die woanders bereits wirken und deren Wirkung hier noch kommen wird. Das strahlende Ideal dieser Doktrin begründet viele Kriege mit der Maxime auf unbegrenzten Ressourcenzugriff und sie ist Garant für die Verarmung der großen Masse zugunsten derer, die sich jeder gesellschaftlichen Solidarität und dem Fiskus entziehen.

Die Androhung, dass sich das Wesen von Politik dramatisch ändern könnte, muss nicht Furcht einflößen. Ganz im Gegenteil. Es handelt sich um eine Chance, den destruktiven Kräften den Kampf anzusagen. Denn es hilft kein Lamento über die Entwicklung, seien es Flüchtlingszahlen, vor denen der Respekt immer größer wird, sei es das Abfallen in Armut, das immer mehr Menschen betrifft oder sei es die Vergiftung der Umwelt, die nicht nachlässt, ohne das Verursacherprinzip zu thematisieren. In diesem Kontext erweist sich konkret die Politik der Bundesrepublik als ein System der Kollaboration mit den beschriebenen Kräften. Das ist die Grundlage. Auf dieser Erkenntnis müssen die anstehenden Veränderungen fußen.

Es ist interessant, zu beobachten, wie sich unsere Gesellschaft in diesem Augenblick in einer gänzlich anderen Dimension spaltet. Das ist der Teil, der sich an dem Wunsch nach Konstanz und Abgeschottetheit berauscht und hofft, dass alles so bleibt, wie es ist. Und es existiert der Teil, der sich sehr engagiert mit den anstehenden Veränderungen auseinandersetzt. Bei denen, die das alles nicht wahrhaben wollen, nimmt das Nicht-Wahrnehmen bereits groteske Züge an. Es erinnert fast an den letzten König der Franzosen, der am Tag, als die Bastille gestürmt wurde auf die Jagd ging und abends in sein Tagebuch schrieb: Drei Hasen und ein Fasan.

Der große Hass und die schlichten Regeln

Wer sich dem kommunikativen Grundrauschen dieser Tage aussetzt, der bekommt zwei Begriffe immer wieder zu hören. Es sind Wut und Hass. Etwas abgesetzt in der Rangliste, aber nicht weit davon entfernt ist es die Lüge. Sowohl Wut als auch Hass sind Begriffe, die einer extrem negativen Emotion zugesprochen werden müssen, die sich in der Regel negativ entlädt. Von denen, die sich zum Teil selbst mit einer der beiden Begrifflichkeiten charakterisieren, wird oft die Lüge in einen kausalen Zusammenhang zu ihrem jetzigen Gemütszustand gebracht. Interessant bei dem Bekenntnis zu den die hohe Emotion beschreibenden Begriffe ist die Tatsache, dass die Wut dem Bürgertum vorbehalten zu sein scheint, während der Hass, dem etwas Primitiveres anhaftet, folglich für die Unterschichten reserviert ist. Es könnte gefolgert werden, dass selbst in den Zeiten der Rage die Klassengesellschaft vor den armen Menschenkindern nicht halt macht.

Nur die Lüge, wo sie auch immer zu verorten ist, für Massenzustände bestimmter Bevölkerungsteile verantwortlich machen zu wollen, greift dann doch etwas kurz. Trotz vieler Dissonanzen sei hier auf das längst verblichene Buch Sloterdijks Zorn und Zeit verwiesen, in dem er treffend darauf verwies, dass sich Gesellschaften mit einem Elefantengedächtnis regelrechte Depots anlegten, in denen der Zorn über jede Schmähung akkumuliert werde. Dieser These folgend, ist der immense Hass und die große Wut, die momentan die Gesellschaft prägt, nicht das Ergebnis irrationaler Kurzschlüsse von ungebildeten Proletariern oder wohlstandsverwahrloster Bürger, sondern eine logische Folge einer langen, komplizierten historischen Entwicklung.

Es wäre anmaßend, diese historische Kausalität hier, in wenigen Worten auch noch erklären zu wollen. Aber es wäre ein Versuch, aus der täglichen, grausigen und zu nichts führenden Konfrontation über die aktuellen Gemütszustände etwas machen zu können, das dieser Gesellschaft weiterhilft. Eine Prämisse dafür ist die Feststellung, dass wir es weder im einen wie im anderen Fall, und hier soll weder der Wutbürger noch der johlende Mob in seiner destruktiven Wirkung unterschätzt werden, mit einer rein personifizierten Erscheinung des Irrsinns zu tun haben. Und auch, dass die Lüge, auch hier einmal ein aktuelles Wort Sloterdijks, deren Äther nie so dicht war wie heute, nur den Versuch darstellt, aus einem bereits existierenden ein noch größeres Dilemma zu machen. Und es ist hilfreich, dass in anderen europäischen Gesellschaften Ähnliches geschieht. Die Angst geht um auf diesem Kontinent, und es sind nicht nur die aktuellen Tagesereignisse, die sie speisen. Es liegt tiefer, und auf diese Gründe muss der gesellschaftliche Diskurs stoßen.

Und, by the way, es gibt historische Ursachen für die vollen Zorndepots, daran herrscht kein Zweifel, aber es gibt keinen Grund für die Verrohung der Sitten, für die ständigen Attacken gegen die Zivilisation. Da spricht vieles dafür, die Dinge persönlich zu nehmen und ihnen auf den Grund zu gehen. Der Respekt vor dem Individuum wie vor den Gütern der Gesellschaft darf bei aller Schmach über das eigene Schicksal nie zur Disposition stehen. Wer das als Nichtigkeit in den Wind schlägt, muss sich darüber bewusst sein, Bestandteil des Problems und nicht der Lösung zu sein. Die Regeln für die Kommunikation stehen, so wie sie immer gestanden haben. Sie sind schlicht, sehr schlicht. Respekt vor dem Gegenüber, Zuhören, auf die Argumente eingehen. Es ist die Grundlage nicht der heutigen, sondern menschlicher Kommunikation generell. Wut und Hass sind die Säure, die sich in ihr Fundament frisst.

Leidende Hunde und einsame Wölfe

Es gibt sie wirklich und wahrscheinlich existieren mehr davon, als allgemein angenommen. Sie führen ihr Leben relativ unbeeindruckt von den Ereignissen um sie herum. Im Deutschen werden sie nicht ganz treffend Einzelgänger genannt, im Englischen existiert der Begriff des Loners, der der Sache sehr nahe kommt, aber wiederum schlecht ins Deutsche übersetzt wird. Da kommt dann nämlich wieder ein Einzelgänger, oder noch schlimmer, ein Eigenbrötler an. Dabei ist der Begriff Loner so schön.

Loner sind Menschen, die aus welchen Gründen auch immer ihre eigene Agenda haben, denen sie folgen. Nicht, dass sie dadurch dissoziativ, d.h. auf Kosten oder gegen das soziale Umfeld wirken würden. Sie respektieren in der Regel die sozialen Verhältnisse, in denen sie sich bewegen, ohne großes Tamtam. Dabei betreiben sie ein Gewerbe, das wiederum im Deutschen sehr schön beschrieben wird: Sie machen ihr Ding. Die Umschreibung wird in der Regel erst dann benutzt, wenn Beobachter nach einem wirklich langen Zeitraum so etwas identifizieren können. Ad hoc, d.h. im Alltag, fallen diejenigen, die ihr Ding machen, gar nicht so auf. Sie passen in jedes soziale Netzwerk, manchmal sogar an herausgehobener Stelle und niemand würde damit rechnen, es mit einem Loner zu tun zu haben.

Der Punkt ist, dass diese Menschen immer zu wissen scheinen, was sie wollen und tun müssen, um dorthin zu gelangen, wohin sie wollen. Alles, was sie tun, erscheint ihnen daher selbst als ein sehr logischer und folgerichtiger Schritt und setzt das eigene Handeln in ein Licht der klaren Logik, wodurch sie selbst ein hohes Maß an Vertrauen und Selbstvertrauen ableiten. Ihre innere Sicherheit, die daraus resultiert, verleiht ihnen in der sozialen Formation, in der sie sich bewegen, den Schein des Normalen. Etwas, das unaufgeregt wirkt, erweckt Ruhe und Vertrauen. Daher werden Loner in der Regel nicht als Störfaktoren erlebt.

Auch die Selbstwahrnehmung der Loner ist geprägt von der Sicherheit, die vermittelt wird durch das Ziel, dem sie folgen. Das Interessante des Loners ist die Tatsache, dass es kein Metier gibt, wo er oder sie nicht vertreten wäre. Eigenartigerweise existiert dieser Archetypus gleichsam in der Hand- wie in der Kopfarbeit, in kreativen Bereichen ebenso wie in sehr gegenständlichen. Ein Loner kann der Schriftstellerei oder dem Malen ebenso verfallen sein wie der Schuhmacherei, dem Kochen oder dem Schreinern. Loner machen ihr Ding, und indem sie es tun, beweisen sie ihre Unabhängigkeit. Sie gehen durchs Leben als beschritten sie ihre Bahnen und als beschriebe ein Kant, warum das gesetzmäßig so sein müsse.

Die Fehlerhaftigkeit in der Bezeichnung ihres Wesens resultiert aus der Tatsache, dass diejenigen, die nicht dazugehören, das Phänomen aber beschreiben möchten, fälschlicherweise von ihrer eigenen Gemütslage ausgehen, wenn sie diejenigen, die meistens allein agieren, beschreiben sollen. Das Herdentier leidet wie ein Hund, wenn das Rudel abhandenkommt. Folglich muss es sich um einsame Wölfe bei denen handeln, die das Alleinsein und das Einsame zu genießen scheinen. Der Loner als Bezeichnung ist der einzige Begriff, der es zulässt, die individualisierte Existenz ohne das Implikat des Leidens oder der Unfähigkeit in der Gemeinschaft zu leben als eine Lebensform zu beschreiben, die als Zustand der Produktivität und der Bestimmung genossen werden kann.

Oft spürt übrigens die Gemeinschaft erst, was sie an Lonern hat, wenn einer von ihnen geht. Und sollten sich einmal zwei Loner treffen und zueinander passen, dann wäre auch ein Kant mit seinem Vokabular am Ende.