Archiv für den Monat August 2018

Chemnitz und der Casino-Kapitalismus

Bitte nicht die alten Rituale! Bitte jetzt keine Empörung, die in der Selbstbestätigung haften bleibt. Das hatten wir alles schon. Nach Rostock, nach Hoyerswerda und und und. Die Phänomene sind die gleichen geblieben, Hass ist umgeschlagen in Gewalt, und getroffen hat es diejenigen, die am wenigsten für alles konnten, was die anderen bedrückte. Und dennoch: die moralische Empörung mag einigen Halt geben, politisch verändern wird sie nichts. Noch immer wird von Humanität und Menschenrechten geredet, als seien das sakrale, museale Werte, die irgendwo entstehen und die die guten Menschen bewahren mögen. 

Nein, Menschenrechte sind den Treibern schrecklich egal, die ihre Geld- und Machtpolitik weltweit durchsetzen und immer mehr Orte auf unserem Planeten verwüsten. Die Epoche des Wirtschaftsliberalismus hat die Weltwirtschaft in eine sich wandelnde Koalition von Individuen verwandelt, die Märkte und Ressourcen unter sich aufteilen. Tatsächlich sind die Nationalstaaten im Niedergang, aber nicht, wie manche glauben, zugunsten höherer Institutionen wie Staatengemeinschaften, nein, sondern im Sinne von Milliardären, die mit der Welt Roulette spielen. Es ist die Zeit des Casino-Kapitalismus. 

Stellen wir uns vor, dass der spontane Unmut, zum Beispiel in Chemnitz, dort, wo die Büste von Karl Marx stehen geblieben ist, dass dort dieser Unmut nicht die Formen des rassistischen Ressentiments, sondern tatsächlich politische Dimensionen angenommen hätte. Stellen wir uns vor, der Unmut hätte sich nicht gegen irgendwelche armen Seelen aus der Karibik oder dem Nahen Osten gerichtet, sondern gegen die USA und Großbritannien, die im Syrienkrieg den Islamischen Staat unterstützten, gegen die Bundesregierung, die bei jedem dieser Regime-Change-Szenarien die Klappe hält und auch noch Technik liefert, oder der Unmut hätte sich gerichtet gegen die militärische Präsenz in Afghanistan, bei der es um Seltene Erden geht und der gewollten Instabilität, damit der Iran und Russland auf Distanz bleiben. 

Stellen wir uns vor, der Protest ginge gegen den Wahn der Regierung, Überschüsse zu erwirtschaften, auf Kosten von Infrastruktur und Bildung, auf Kosten von Gesundheit und Altersversorgung. Stellen wir uns vor, wir hätten eine Opposition, die diesem, dem berechtigten Unmut eine Stimme gäbe, was dann passierte in diesem Land. Dann wäre mit einem Schlag dieser grausame Sommer der rechten Populisten genauso schnell vorüber wie das ewige Taktieren einer Regierung, der es vor allem darum geht, so sozialverträglich wie möglich den gesamten politischen Diskurs in das ewige, nichts sagende Gerede zu verwandeln, vor das allen graut.

Schlüge der Protest in politische Qualität um, wäre vieles wieder möglich. Möglich im Sinne einer konstruktiven Neugestaltung. Letztere ist jedoch nur von Menschen zu gestalten, die sich nicht abgenutzt haben in einem politischen System, in dem der ganze Unfug des Wirtschaftsliberalismus und der damit einher gehenden Entstaatlichung stattgefunden haben. Und eine tatsächliche Umgestaltung kann auch nicht stattfinden mit einem Weltbild, wie wir es alle immer noch in den Köpfen haben.

Zu diesem Weltbild gehört die Illusion, der glorreiche Status eines Exportweltmeisters habe nichts zu tun mit der Zerstörung der Welt und der massenhaften Vertreibung von Menschen aus ihren angestammten Lebensverhältnissen. So viel Wahrheit muss da schon sein. Das Umdenken hinsichtlich der eigenen Gesellschaft ist der Schlüssel zu neuen Perspektiven. Die Schurken auszumachen, die momentan die Welt unter sich aufteilen, das ist jedoch der erste Schritt. Stellen wir uns nur vor, die Wut mündete nicht in Hass Verzweifelter, sondern wir hätten es mit einer politischen Haltung Unzufriedener zu tun. 

Kohlhaas in Manhattan

E.L. Doctorow. Ragtime

Romane über New York, der Welthauptstadt des XX. Jahrhunderts, zu schreiben, gehört sicherlich zu den herausragenden Herausforderungen eines Schriftstellers. Nicht viele haben es gewagt. Herausragend sind dabei bis heute „Manhattan Transfer“ von John Dos Passos und „Jahrmarkt der Eitelkeiten“ von Tom Wolf. Beide hatten sich die Dichte dieses Konglomerats zunutze gemacht und die verschiedenen, sehr unterschiedlichen sozialen Formen der Existenz wie der biographischen Brisanz der Akteure in ihren Werken verwoben. E.L. Doctorow hat mit „Ragtime“ 1975 einen eigenen Versuch gestartet, anhand dieses Schmelztiegels ein Sittengemälde der dargestellten Zeit zu entwerfen.

In einem seiner ersten Romane gelang es ihm, das New York noch vor der großen, epochalen Bedeutung einzufangen.“Ragtime“ spielt im Zeitraum zwischen 1902 und dem I. Weltkrieg. Im Gegensatz zu den erwähnten New Yorker Romanen wählte Doctorow allerdings keine No-Names, sondern exponierte Personen der Zeitgeschichte, um die Brisanz der Stadt einzufangen. Sigmund Freud, Henry Ford, J.P. Morgan und Emma Goldman sind nur einige der Figuren, die in den historischen Annalen ihren Platz gefunden haben und die in dem Roman eine Rolle spielen. Die Gleichzeitigkeit und die Verwobenheit miteinander sind das kompositorische Moment, das die Handlung vorantreibt. Als künstlerischer Griff und als die alles überschattende Metapher wählt Doctorow den Ragtime, der den Roman rhythmisch treibt durch die Synkopen und das Staccato akzentuiert. Das Genre, welches lange mit dem Stigma einer Bordell-Musik behaftet war, dient auch der Erklärung dessen, was sich sozial im Big Apple jener Zeit abspielte.

Neben Exkursionen zum Nordpol, neben der Erfindung industrieller Serienproduktion, neben der wirtschaftlichen und politischen Einflussnahme von Trusts und Syndikaten, neben der Entstehung des Brandings femininer Pop-Ikonen, neben der Etablierung von Sensations-Marketingstrategien und neben der politischen Organisation der Arbeiterklasse spielt vor allem eine Adaption aus der europäischen Literaturgeschichte eine zentrale Rolle.

Es handelt sich dabei um den Jazz-Pianisten Coalhouse Walker Jr., dessen Vorbild Heinrich von Kleists Michael Kohlhaas ist. Eben jener erfolgreiche, gut situierte und afro-amerikanische Musiker wird in einem Kaff in der Nähe New Yorks von dumpfem, rassistischem und provinziellem Mob gedemütigt und sein schickes Automobil, ein Ford Model T, wird von diesen Leuten ramponiert. Als er danach verlangt, es in seinen ursprünglichen, tadellosen Zustand wiederherzustellen, beginnt das Spiel, das in der Manier der literarischen Vorlage seinen Lauf nimmt. Die Polizei setzt sich nicht für ihn ein, seine Verlobte verliert bei dem Versuch, sich für ihn einzusetzen ihr Leben und alle rücken von ihm ab.

Der Feldzug für die Gerechtigkeit nimmt durch terroristische Anschläge, von Coalhouse Walker und seinen Anhängern inszeniert, seinen Lauf, bis es zu einem Showdown in Manhattan kommt, bei dem dieser zu seinem Recht kommt, wohl wissend, dass er in dessen Folge mit seinem Leben bezahlen muss. Die Gerechtigkeit nimmt ihren Lauf, der Preis ist hoch, das Ende tragisch.

Die Kälte, mit der Doctorow die Verläufe der einzelnen Handlungen seziert und aneinanderreiht, machen aus dem epischen Werk ein Pamphlet, das die Unschuld der Moderne in Abrede stellt und die Botschaft sendet, das jedes hehre Prinzip einen furchtbaren Preis hat. Dennoch bleibt die Macht einzelner eine zentrale Größe, der das Streben nach Recht und Gesetz nichts anhaben kann.

Doctorows „Ragtime“, zwischenzeitlich ein Kultbuch, das erfolgreich verfilmt wurde, besitzt nach wie vor eine große aktuelle Brisanz, und es ist keine Übertreibung, den Roman als einen Klassiker der Moderne zu bezeichnen.