Archiv für den Monat Juni 2012

Madame Morgenthau

im Jahr 1944 legte der damalige US-Finanzminister Henry Morgenthau einen Plan vor, in dem beschrieben wurde, wie man nach dem gewonnen Krieg mit Deutschland umgehen wolle. Ziel war die Demontage aller Industrieanlagen, die Eintreibung astronomisch bezifferter Kriegsschulden und die Umwandlung des Landes in einen Agrarstaat, um ein mögliches Erstarken in der Zukunft zu verhindern. Präsident Franklin D. Roosevelt verwarf diesen Plan, der den Fehler des Versailler Friedens nach dem I. Weltkrieg zu wiederholen drohte. Auch dort hatte man auf Restriktion gesetzt, die Weimarer Republik wurde ein kurzes demokratisches Intermezzo und letztendlich folgten Faschismus und Krieg.

Die USA besannen sich auf eine andere Strategie, die Roosevelts Nachfolger Harry S. Truman später umsetzte. Sie folgte dem Plan des US-Außenministers George C. Marshall, der von der Vorstellung ausging, dass wirtschaftliche Prosperität die Voraussetzung für eine stabile demokratische Entwicklung sei. Mit einer bis dahin ungekannten Investitionssumme unterstützten die USA Sieger und Besiegte in Europa zugleich und das Ziel der demokratischen Konsolidierung hatte dadurch eine nachgewiesene Chance bekommen.

Seitdem gibt es in Finanzkrisen einen globalen Paradigmenstreit. Auf der einen Seite diejenigen, die der bis heute in den USA verbreiteten Philosophie folgen und in erster Linie auf Investitionsimpulse für die betroffenen Ökonomien setzen. Und auf der anderen Seite konservative Europäer und meistens die Weltbank, deren Maxime aus Schuldeneintreiben, Zucht und Ordnung besteht.

Im Nachgang zur Weltfinanzkrise und der aus ihr entstandenen des Euros gilt Bundeskanzlerin Merkel als die Eiserne Lady gegenüber den verschuldeten Ländern. Sie will die Demokratien Südeuropas in Haft nehmen für Spekulationsblasen und Exportgeschäfte des europäischen Nordens, was rein ökonomisch nicht nur unmöglich, sondern politisch hoch riskant ist. Mit der Autorisierung und Zentralisierung einer europäischen Fiskalpolizei kommt zu einer politischen Lehrstunde mit einer verheerenden Botschaft noch ein bürokratischer Knüppel, der das Desaster komplettiert.

Eine Währung besitzt bekanntlich dann eine Perspektive, wenn sie durch eine stabile Wirtschaft gedeckt wird. Eine Währung stabilisieren zu wollen, indem Investitionen in Infrastruktur, funktionierende Verwaltungen und Bildung unmöglich gemacht und damit die Voraussetzungen für wirtschaftliches Handeln unterbunden wird, weil EU-Kommissare mit schwarzen Armbinden noch den letzten Sack Naturalien eintreiben, entspricht ehemaligen osteuropäischen Fieberphantasien.

Die Vorstellungen der Kanzlerin, wie diese Krise zu managen ist, entspringen einerseits dem restriktiven Muster des Morgenthau-Plans, andererseits dem Allmachtszentralismus der ehemaligen UdSSR. Da hat Gestaltung keine Chance mehr und die Restriktion beherrscht den Kontinent! Es wird wirtschaftlich nicht funktionieren, es wird von einer verheerenden politischen Wirkung sein und es wird das psychologische Umfeld Deutschlands in einen arktischen Raum verwandeln.

Hirnfunktion und Ordnung, Routine und Sozialisation

Michael Winterhoff, Moderne Entwicklungsstörungen bei Kindern und Jugendlichen

Seit mehr als einem Jahrzehnt erreichen uns immer wieder Berichte über bedrohliche Entwicklungen von Kindern und Jugendlichen. Von der Zeitbombe hinsichtlich generell falscher Ernährung, Übergewicht und Bewegungsmangel angefangen bis hin zu Verhaltensstörungen, die auf mangelnde Erziehung zurückzuführen sind. Amokläufe erregen periodisch die Öffentlichkeit wie Übergriffe Jugendlicher auf ältere Personen in U-Bahnstationen oder Einkaufszentren. Das, was in anderen Epochen eher solitäre Vorkommnisse waren, aber dennoch zum Aufseufzen über die Jugend geführt hat, hat sich in seiner Qualität grundlegend gewandelt: Wir sprechen von Massenphänomenen, die pathologischen Charakter haben.

Der Kinderpsychiater Michael Winterhoff befasst sich seit Jahrzehnten mit Fehlentwicklungen von Kindern und Jugendlichen. Immer wieder hat er seine Erfahrungen aus den Therapien der Öffentlichkeit zugänglich gemacht und frühzeitig warnende Worte gefunden. In dem vorliegenden Vortrag, der unter dem schlichten Titel Moderne Entwicklungsstörungen bei Kindern und Jugendlichen gehalten wurde, exakt eine Stunde dauert und an keiner Stelle langweilig wird, berichtet er über neue Quantitäten und Qualitäten. Sehr sachlich und immer aus Empathie gegenüber Kindern und Jugendlichen beschreibt Winterhoff die beobachteten Verhaltensstörungen. Waren es vor eineinhalb Jahrzehnten noch fünf bis sieben Prozent der Kinder und Jugendlichen, die massive Entwicklungsstörungen aufwiesen, so sind es heute mindestens ein Drittel, Tendenz steigend. Viele der beobachteten Jugendlichen befinden sich, obwohl zwischen dem zwölften und vierzehnten Lebensjahr, kognitiv und sozial zwischen dem 10. und 16. Monat!

In bezwingender Logik und Kausalität und anhand überzeugender Beispiele aus dem Beobachtungsalltag unterscheidet Winterhoff drei Erziehungsgenerationen, nämlich die der hierarchischen Ordnung, die des partnerschaftlichen Miteinanders und die der Symbiose. Gemeint sind die verschiedenen Stile und ihre Art und Weise, wie sie tradierte Werte, Ordnung und Frustrationstoleranz in die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen implantieren. Die Bilanz kann niemandem ersparen, dass sowohl der partnerschaftliche Ansatz, der als Derivat der Emanzipationsbewegung von 1968 angesehen werden muss, die Hirnbildungsschleifen von notwendigen Routineerfahrungen ebenso ignoriert wie dessen Eskalationsstufe, der Symbiose, in der das Rollenverständnis zwischen Eltern und Kindern teilweise auf den Kopf gestellt wird.

Neben der fachlichen Kompetenz und den extrem wichtigen Anregungen, die der Vortrag vermittelt, wird der Zuhörer inspiriert, Rückschlüsse zu ziehen im Hinblick auf viele diskursive Dissonanzen im politischen Prozess unserer Gesellschaft. Auch dort existieren Freiheits-, Verantwortungs- und Ordnungsbegriffe, die getränkt sind von einem hedonistischen Ideal, das sich der Seinsverpflichtung entbindet.

Aber das nur am Rande. Ein spannender Vortrag, reich an Erkenntnissen und alles andere als trockenes Pädagogenfutter.

Die kulturelle Dimension des kollektiven Bewusstseins

Wenn der Begriff Kultur ein Bedeutungsareal erobert hat, das kaum noch zu überschauen ist, dann in Deutschland. Dort ist er nämlich neben den eindeutigen lexikalischen Definitionen zu einem Synonym für vieles geworden, das nicht mehr so recht fassbar ist, aber dennoch geschützt werden soll. In einem Land, dass sich nahezu im Konsens als Kulturnation begreift, schickt es sich nicht, etwas existenziell zu kritisieren, das mit dem Begriff Kultur als Tabu imprägniert ist. So ist zu oft zu erfahren, dass sich bestimmte Zustände, die nicht sonderlich erbauend sind, als irgendeine Kultur bezeichnet werden und dadurch gegen Kritik geschützt sind. Das führt folgerichtig dazu, dass die Verwendung des Begriffs Kultur eine Inflation sondergleichen erfahren hat, die vieles vernebelt und wenig klärt.

Kultur im etymologischen Sinne ist hingegen eine eindeutige Sache. Um mit der Antipode zu beginnen: Alles, was nicht Natur ist, also ein Zustand, der frei von menschlichen Gestaltungsversuchen existiert, wird der Kultur zugerechnet. Oder semantisch anders herum, alles was durch menschlichen Willen oder menschliches Handeln gestaltet wird, ist Kultur. Kultur ist also der bewusste Eingriff in das nicht-humane Sein. Das ist ein weites Feld, begrifflich aber durchaus logisch und konsistent.

Interessant wird die Geschichte, wenn man sich die nicht materielle, sondern die metaphysische Ebene anschaut. Denn die Vorstellung, die sich die Menschen von Kultur in ihrem Kopf machen, ist ihrerseits bereits eine kulturelle Leistung, weil sie gestaltend in das eingreifen, was durch ihre eigene Existenz als kultureller Akt vollbracht wurde. Und dort, genauer gesagt im historischen Bewusstsein, wird deutlich, dass nicht jede gestaltende Leistung der Menschheit per se als Kultur für die Aufnahme in die Annalen als würdig befunden wird. Nicht alles, was ein Individuum oder eine Gesellschaft an kulturellen Aktivitäten vollbringt, wird vom kulturellen Gedächtnis in die Buchführung mit aufgenommen. Die Selektion der menschlich verausgabten Energien wiederum ist eine kulturelle Intervention.

Wenn Geschichte Kultur ist, dann ist ihre Fortschreibung und das Aufbewahren des Erinnerungswürdigen einerseits abhängig von der humanen Entscheidung über den Wert der einzelnen Tat, aber auch von der Konservierungsfähigkeit dessen, was man späteren Generationen weiter vermitteln will. Von früher Architektur, die dechiffriert werden kann über Runen und Papyrusrollen bis zum Buch vermochten relativ stabile Datenträger das Relevante einer Epoche zu übermitteln.

Mit der Digitalisierung unserer Operationen sind zwei Phänomene aufgetreten, die die bisherige Wirkung des kollektiven Bewusstseins als einem historischen Artefakt existenziell bedrohen. Zum einen sind die Träger labile, vor allem durch ihre technische Halbwertzeit, sodass massiver Datenverlust droht. Zum anderen sind sie durch ihre nahezu grenzenlose Speicherkapazität ein tödliches Gift gegen bewusste gesellschaftliche Selektion. Die Fähigkeit, technisch alles sichern zu können, verursacht eine Nonchalance gegenüber notwendiger Struktur. Die heutige Gesellschaft verliert die Fähigkeit, zwischen Bedeutendem und Unbedeutendem zu unterscheiden. Archiviert wird alles, und dechiffrieren kann es niemand mehr. Das beobachtete Phänomen, dass selbst Studenten der historischen Wissenschaften unreflektiert die Datenfriedhöfe aus dem Internet in ihren Arbeiten verwenden, ohne Validität oder Relevanz zu reflektieren, ist ein alarmierendes Symptom für den Verlust der Selektionsfähigkeit und Strukturbildung.

Gesellschaften, die sich nicht mehr darauf einigen können, was für sie bedeutsam und identitätsbildend ist, sehen dem Schicksal entgegen, vom Ozean der Belanglosigkeiten hinweggespült zu werden.