Archiv für den Monat September 2010

Der Westwind und die Integration

Es wird immer spannender. Kaum ist der erste Hype um das Sarazin-Buch verflogen, kommt für die pietistische Dogmatikergarde der Integration die nächste Hiobsbotschaft. Die Konservativen und Liberalen der Niederlande scheinen es ernst zu meinen und mit dem Rechtspopulisten Geert Wilders eine Regierung bilden zu wollen. Entgegen aller sonstigen Gepflogenheiten kommen bereits kritische Kommentare aus dem Kanzleramt wie dem Willy-Brandt-Haus, noch bevor sich im Nachbarland eine Regierung konstituiert hat. Das ist eine neue Qualität, die dem Prinzip der Unabhängigkeit und nationalstaatlichen Souveränität entgegen steht und nur zu rechtfertigen wäre, wenn aus der lokal-niederländischen Entwicklung eine lebensbedrohende Gefahr für die Demokratien in Europa insgesamt zu befürchten wäre. Da dieses offensichtlich nicht der Fall zu sein scheint, stellt sich die Frage, was zu der Überschreitung einstudiertem zwischenstaatlichen Verhaltens geführt hat.

Die Niederlande galten über Jahrzehnte als das liberalste Land Europas, was die Integration von Migrantinnen und Migranten anbetraf. Dass dieses zumeist Zuwanderer aus ehemaligen Kolonien waren, verloren vor allem Beobachter aus der Bundesrepublik nicht selten aus dem Blick. Sicherlich nicht förderlich bei dem Versuch zu begreifen, was dort vor sich ging. Ein Molukker kann aufgrund der Besonderheiten der postkolonialen Geschichte mehr niederländischen Patriotismus in sich tragen als ein Niederländer aus dem weltoffenen Rotterdam. Dennoch treffen mit jeder Form von Migration Zivilisationslinien aufeinander, die ab einer bestimmten Dimenson die Frage nach der nationalen Identität des gastgebenden und integrierenden Landes aufwerfen und nach den allgemeingültigen Spielregeln des Zusammenlebens.

Sowohl die Niederlande als auch Frankreich hatten mit postkolonialen Immigrationswellen zu tun. Während Frankreich die koloniale Dominanz hochhielt und scheiterte, versuchten es die Niederlanden mit einer liberalistischen Position, was auch zum Scheitern führte. Zu den Unterstützern der rechtskonservativen Bewegung dort gehören heute ehemalige leidenschaftliche Vertreter der liberal definierten Integration. Gerade das Scheitern hat viele verbittert. Während bei der WM in Südafrika die Multikulturalität der deutschen Nationalmannschaft gefeiert wurde, konnte man beobachten, dass selbiges in Frankreich zu einer desaströsen Krise geführt hatte und in Holland bereits der Geschichte angehört.

Der Aufschrei, der momentan durch die deutsche Politik bei der Betrachtung der niederländischen Verhältnisse durch die Politik geht, ist ein Fall von Panik. Die holländischen Wahlergebnisse deuten nämlich an, was hierzulande auch noch geschehen kann und aller Voraussicht nach geschehen wird. Zunehmend wird deutlich, dass wir längst ein Einwanderungsland sind und uns mit dieser Tatsache nicht auseinandergesetzt haben. Die Frage nach unserer eigenen Identität ist genauso wenig beantwortet wie die nach den gültigen Regeln für das Zusammenleben. Ein Fiasko, das seinen Zins fordern wird, auch wenn man jetzt auch noch meint, Länder mit wesentlich größeren Integrationsleistungen belehren zu müssen.

Die unerträgliche Dreistigkeit des Schweins

Im Javanischen existiert eine Redewendung, die die Situationen der politischen Instabilität sehr metaphorisch beschreibt. „Die Hunde sind grimmig“, heißt es da, „und die Schweine“ sind dreist.“ Weiß ein Javaner sofort, was gemeint ist, so muss man die Situation für das zentraleuropäische Publikum etwas aufschlüsseln. Hat man dieses getan, so lässt sich der Eindruck nicht mehr vertreiben, eine sehr treffende Metapher für Phasen des politischen Übergangs und des Wandels gefunden zu haben.

Die javanische wie die indonesische Geschichte insgesamt ist reich an Epochen des Übergangs, allesamt gewalt- und mythenbesetzt. Das Phänomenale bei der Beobachtung dessen, wie dort die jeweilige Situation kommuniziert wird, ist der Bilderreichtum der Sprache und das kollektive Verständnis der Bilder. Wenn Metaphern benutzt werden und sie faszinieren, dann übernimmt das Schattenspiel deren Einübung durch die große Masse, in jedem Dorf taucht die Metapher beim Wayang Kulit, dem traditionellen Schattenspiel, auf und mausert sich so in kurzer Zeit zu einem festen Bestandteil der Kollektivsymbolik. Das faszinierende dabei ist, man erlaube den Vergleich zu analogen Prozessen kollektiv-symbolischer Prozesse hier, dass durch die gemeinsame Rezeption und Diskussion der Metapher jeder, der sie benutzt, auch versteht. Ein unschätzbarer Vorteil!

Bei dem zitierten Satz wird eine Situation beschrieben, in der die bestehende Verteilung der Macht in Frage gestellt wird. Während auf der einen Seite diejenigen stehen, die etwas zu verlieren haben, ist noch nicht entschieden, wer zu den Gewinnern gehört. Bei den grimmigen Hunden handelt es sich um die Machthaber, die ihre Dominanz gefährdet sehen. Sie fletschen die Zähne und sind voller Grimm, d.h. sie sind dazu bereit, ihre Macht auch gewaltsam zu verteidigen.

Obwohl nicht als geklärt gilt, wer letztendlich in dieser Transferperiode die Oberhand gewinnt, tauchen sehr aggressiv auftretende Profiteure der Situation auf den Plan. Das sind die dreisten Schweine, die mit Chuzpe und Biss ihren Nutzen aus der Unordnung ziehen wollen. Das kann die eigene Bereicherung sein, das kann das Streben nach Einfluss sein und letztendlich sogar die Okkupation der Macht. Das dreiste Auftreten der Schweine schüchtert viele Beteiligte ein und viele gut Meinende weichen vor ihrem Auftreten zurück.

Im Javanischen dient eine bewusst herbei geführte Unordnung dazu, eine neue, harmonische Ordnung wieder herzustellen. In der dortigen Wertigkeit stehen die Hunde als Vertreter der Macht längst nicht so in Misskredit wie die Parvenüs der Unordnung. Die Dreistigkeit des Schweins ist für einen Javaner unerträglich.

Masyarakat, das Volk, ist bei dieser javanischen Betrachtung übrigens kein unbeteiligter Zuschauer. Es verbirgt sich hinter weiteren Charaktermasken, die bewusst und willentlich die Ordnung der Disharmonie ins Wanken gebracht haben, um eine neue, verträgliche Ordnung zu etablieren. Nichts ist ihnen verhasster wie die bei uns of bezeichneten Kriegsgewinnler, die aus der konkreten Situation der Unordnung ihren privaten Nutzen ziehen, ohne das große Ganze im Auge zu haben. Wie deutlich, schön und klar kann doch eine wohl kommunizierte Kollektivsymbolik sein!

Von der Leistungs- zur Gelegenheitsökonomie

Nicht umsonst werden die Rufe nach einer Revision des Leistungsgedankens lauter. Die politischen Debatten der letzten Jahrzehnte drehen sich zunehmend um die Frage, wer Leistung erbringt und wie sie zu definieren ist. Hitzig sind sie, die Debatten, weil einiges aus den Fugen geraten ist. Zum einen haben sich Lager etabliert, die längst einem konservativen Leistungsbegriff nicht mehr entsprechen und fürchten, ihre Refugien würden zerstört, wenn eine Diskussion über transparente Kriterien geführt würde. Verstört hingegen sind auch die, welche von sich behaupten, nach einem klassischen Leistungsbegriff zu agieren und dennoch nicht die gewünschte Resonanz zu bekommen. Verwirrend ist das alles, zumal nicht so richtig deutlich wird, was eigentlich gespielt wird.

Tatsache scheint zu sein, dass das Bild von Leistung, wonach unter Anstrengung, Disziplin und Vermögen Ergebnisse erzielt werden, kaum noch unangezweifelt Geltung besitzt und gewürdigt wird. Deutlich wie kaum woanders wird der Verfall dieser Vorstellung an der Börse, wo Bewertung und Zuwachsraten das Resultat eines solchen Vorgehens nicht mehr zu würdigen scheinen. Vermögenswerte, Firmenphilosophien, Infrastruktur, menschliche Fertigkeiten und bedarfsorientierte Märkte sind längst keine Garantie mehr für das lukrative Geschäft an der Börse.

Vielmehr regieren dort Gesetze, die die schnelle Gelegenheit, die sich aus spekulativen Kombinationen ergibt, weit mehr honorieren als messbare Werte. Die großen Spekulationsbranchen- und blasen, die in den letzten zwei Jahrzehnten zu beobachten waren, sind keine zufälligen Ereignisse mehr, die als Abweichung von Grundregeln des Kapitalismus zu sehen sind. Nein, es scheint, als habe sich das Wert schöpfende Leistungsparadigma überlebt und als sei an seine Stelle das ungezügelte, alles riskierende Spekulieren auf die eine Chance hin getreten.

Es ist kein Zufall, dass der Paradigmenwechsel an den Weltbörsen eskortiert wird von einer pädagogischen Inszenierung auf allen Fernsehkanälen, wo das neue Paradigma für das Volk eingeübt wird. Von Big Brother bis zu den unzähligen Casting Shows wird Tag für Tag demonstriert, dass der dreiste Auftritt und die Chuzpe ein Mittel geworden ist, um Lebensläufe erfolgreich zu gestalten. No Names mit mittelmäßiger Begabung und geringer Bildung entpuppen sich als rücksichtslose Raubtiere, um ihre jeweiligen Konkurrenten auszustechen und werden, je bestialischer sie Vorgehen, als Prototypen für eine neue Entwicklung gewürdigt.

Hätte man eine böse Zunge, so könnte man behaupten, die Akteure aus den Casting Shows seien die pädagogischen Folien für die Erfolgreichen in Wirtschaft und letztendlich der Politik. Denn die Gelegenheitsökonomie in wirtschaftlichen und politischen Kontexten funktionierte vor ihrer Inszenierung in den Medien. Der klassische Leistungsgedanke, der auf Wertschöpfung durch Können basiert, ist längst abgelöst durch den der Nutzung von Gelegenheiten. Das Maß dieser Art von Leistung liegt in erster Linie einem aggressiven Impetus, der alles andere ausblendet.