Archiv für den Monat Juni 2021

Abgang

Die Frage nach dem richtigen Zeitpunkt stellt sich immer wieder. Wann sollten Menschen, die in einer wichtigen Funktion sind, die sich in einer herausragenden Position befinden, die eine Führungsrolle wahrnehmen, selbst die Entscheidung ihrer Verabschiedung wählen oder wann ist es die Aufgabe der Organisation, in der diese wirken, darüber entscheiden, wann der Zeitpunkt da ist, sich voneinander zu trennen? Da spielen verschiedene Faktoren eine Rolle: Emotionen, Selbstwertgefühl, Respekt, Nutzen und vor allem, die Prognose auf eine positive Zukunft.

Menschen in dem Individualismus verschriebenen Kulturen neigen dazu, bei der Beurteilung der Lage die subjektiven Eindrücke und Wünsche überzubewerten und die eigene Befindlichkeit ins Zentrum ihrer Überlegungen zu stellen. Nur Wenige bewahren sich die Fähigkeit, sich selbst in das Koordinatensystem zu stellen, das bei einer Beurteilung der Lage von Nutzen sein könnte. Zu diesem gehört die Einschätzung der eigenen Fähigkeiten, die Zweckausrichtung der Organisation, in der sie tätig sind, eine Analyse der Rahmenbedingungen, die sich permanent verändern und neue Herausforderungen mit sich bringen wie die Taxierung der Möglichkeiten, die neben dem Individuum die Organisation mit ihren Potenzialen selbst in sich bergen. 

Ist das Individuum selbst aus der Zeit gefallen und verspricht es nicht, mit den ständigen Umwälzungen standzuhalten, dann muss die Organisation dafür sorgen, dass der richtige Zeitpunkt einer Trennung getroffen wird. Kommt die der Organisation vorstehende Persönlichkeit zu der Einsicht, dass sie in der Lage wäre, die notwendigen Veränderungen innerhalb der Organisation vorzunehmen, die Organisation allerdings durch eine systemerhaltende Eigendynamik dieses zu verhindern in der Lage ist, dann ist es klug, selbst den Hut zu nehmen. Das Gemeinsame, das Führungsindividuum und Organisation aufweisen, ist immer temporär. Ist dieses weder dem Individuum noch der Organisation bewusst, dann ist ein Ende mit Schrecken unausweichlich. Misserfolge stellen sich ein, Schuldige werden gesucht, Fortschritte im Sinne einer gemeinsamen Zielerreichung bleiben aus.

Unter diesen Aspekten ist es immer interessant, sich das ganze Portfolio von Politik, Wirtschaft, Sport und die vielen Mikrosysteme einer Gesellschaft anzuschauen. Was überwiegt? Die kritische Analyse und das Zurückstellen der eigenen Befindlichkeit, der eigenen Wünsche und Motivlagen oder eine problematische Wahrnehmung der Gesamtlage und der Hang zur Nostalgie, der den Fokus auf bessere, goldene vergangene Zeiten richtet und sich in Durchhalteparolen verliert?

Das besagte Portfolio bietet bei näherem Hinschauen einen Befund, der nicht zuversichtlich stimmen kann. Ob in der Politik, die sich von dem Instrument der Selbstkritik verabschiedet hat, ob in den wesentlichen Bereichen der Industrie, die sich am schalen Rausch vergangener, goldener Zeiten labt, ob in der Verwaltung, die sich in einem längst verblichenen Ruf sonnt oder ob in den großen Organisationen des Sports und in vielen kleinen Gesellschaften und Vereinen: die gravierenden globalen Veränderungen haben bis heute nicht dazu geführt, dass die wichtigsten Funktionsträger wie die Organisationen selbst den Weg frei gemacht hätten, sich auf eine Standortbestimmung zu konzentrieren, die die eigenen Defizite, Potenziale und Ressourcen einer kritischen Revue passieren ließen, um den Weg für eine positive Zukunftsgestaltung frei zu machen. 

Stattdessen herrscht eine Apologetik vor, die alte, nicht mehr zielführende Prinzipien hoch- und an dem zunehmend überforderten Personal festhält. Das Gros des führenden Personals wie die gesellschaftlich wichtigen Organisationen erliegen dabei einer flächendeckenden Emotionalisierung, die zu Hysterie und Schuldzuweisung führt. Ausnahmen bestätigen wie immer die Regel, doch der richtige Zeitpunkt für den Abgang und die Einleitung des Wandels wird zuverlässig verpasst.        

Zum Export westlicher Werte — Neue Debatte

Dass ausgerechnet die Teile der Welt, die heute nicht den Individualismus als zentrales Thema ihrer gesellschaftlichen Existenz begreifen, auf ein unendliches Journal der eigenen Ausplünderung und Demütigung durch die zivilisatorisch begründeten Imperien blicken, führt zu der Gewissheit, dass sich dort die Faszination westlicher Ideale in Grenzen hält. Der Beitrag Zum Export westlicher Werte erschien zuerst…

Zum Export westlicher Werte — Neue Debatte

Export westlicher Werte?

Hochgerechnet auf die Weltbevölkerung sind die Gesellschaften, die sich der Entfaltung des Individuums verschrieben haben, mit ungefähr einem Zehntel zu beziffern. Das heißt nicht, dass im Rest der Welt der Einzelne und seine individuellen Rechte und Möglichkeiten keine Rolle spielen. Aber es bedeutet, dass bei 90 Prozent der Weltpopulation eine Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaft, wie immer dieses auch kulturell definiert ist, eine größere Rolle spielt als in den puristisch individualisierten Gesellschaften. Die Perspektive ist deshalb von Bedeutung, weil sie die mentalen wie quantitativen Kräfteverhältnisse in der Welt beleuchtet und die Frage aufwirft, ob es den politischen Systemen, die das Individuum in den Mittelpunkt stellen, die Möglichkeit besitzen, dem überwältigenden Rest der Weltpopulation die eigenen Vorstellungen näher zu bringen, geschweige denn sie von der Überlegenheit des eigenen Systems zu überzeugen. 

Historisch hat es das immer wieder gegeben. Wirtschaftlich starke politische Gebilde, die nach Hegemonie strebten, die allerdings auch ständig humane und natürliche Ressourcen brauchten, um andere zu dominieren, vor allem wenn sie aufgrund der eigenen Verfügbarkeit von Potenzialen diesen Anspruch ohne Expansion nie hätten einlösen können. Das ging von Alexander dem Großen über das Römische Reich bis zum britischen Kolonialismus, seinen europäischen Derivaten und dem modernen Imperialismus. Das ideologische Transportmittel für die Expansion reichte vom Wissen um den richtigen Gott bis hin zu dem Argument der Überlegenheit der eigenen Zivilisation und dem damit verbundenen politischen System. Der Ideologie, d.h. der Begründung der eigenen Überlegenheit folgten immer gewaltsames Handeln und Krieg. 

Dass ausgerechnet die Teile der Welt, die heute nicht den Individualismus als zentrales Thema ihrer gesellschaftlichen Existenz begreifen, auf ein unendliches Journal der eigenen Ausplünderung und Demütigung durch die zivilisatorisch begründeten Imperien verfügen, führt zu der Gewissheit, dass sich dort die Faszination westlicher Ideale in Grenzen hält. In Russland blickte gerade eine Nation auf den letzten Feldzug aus dem Westen mit eigenen 27 Millionen Opfern zurück, in China weiß jedes Kind, wie Hongkong als Folge eines von Großbritannien geführten Opiumkrieges in britische Hände kam, der Kongo blickt auf Sklaverei, Kinderhandel, Ressourcenraub und Mord an eigenen Politikern zurück, die die eigenen Interessen vertreten wollten, genauso wie der Iran und zahlreiche Länder in Südamerika, in Indonesien richtete die Sicherung der westlichen Suprematie ein Blutbad mit mehr als zwei Millionen Toten an und in Indochina sind die Folgen der letzten Kriege in jeder Familie präsent. Die Liste ist nicht nur lang, sondern sie illustriert die Hypothek, die sich der selbst als Zivilisationsmacht sehende Westen in Jahrhunderten erarbeitet hat.

Wer in diesem Kontext glaubt, durch die Berufung auf die eigenen Werte, die übrigens durch das Anwenden doppelter Standards aktuell täglich kontaminiert werden, im Rest der großen, weiten Welt Punkte sammeln zu können, ist ein Opfer sensorischer Isolation und eines als pathologisch zu bezeichnenden Subjektivismus. Und wer dann noch der Auffassung ist, dass notfalls die reklamierten Werte durch martialisches Gebaren, Anwendung von Gewalt und Kriege in die des Kolonialismus und Imperialismus überdrüssigen Länder dieser Welt transportiert werden könne, hat seine Zurechnungsfähigkeit eingebüßt. Die Mordlust des Kolonialismus ist entlarvt und die Schätze, die immer wieder zu solchen Manövern locken, liegen nicht mehr ungeschützt in der Sonne. Wer jetzt auf Beutezug geht, wird sich eine blutige Nase holen, wobei die Metapher verharmlosend ist. 

Es ist ratsam, Bilanz zu ziehen und das Ende der Kolonisierung der Welt zu akzeptieren. Wer jetzt mit dem Säbel rasselt, hat die Gunst der Stunde nicht begriffen. Angesichts der globalen Existenzbedingungen ist das Zeitalter der Kooperation längst angebrochen. Und ohne das große Ganze bleibt selbst dem Individuum das Glück versperrt.