Dreißig Jahre hatte das Gemetzel angedauert. Von Nord nach Süd, von Ost nach West hatten Horden den Kontinent überzogen, gebrandstiftet und geplündert. Aufgrund des damaligen Umgangs mit Zahlen kann man die Schäden kaum beziffern. Unbeschreibliches Leid hatte der europäische Kontinent erfahren, angefangen hatte alles wegen der Finanzierung eines Tempels in Rom und dann gab es kein Halten mehr. Die Welt, die für Europäer damals nur aus Europa bestand, war aus den Fugen geraten. Es ging, wie immer in der Geschichte, um Macht, Geld und Einfluss. Ausgetragen wurde das Ganze allerdings auf der Folie des Glaubens. Katholische Kirche oder Protestantismus. Unter dieser Fragestellung war vieles subsumierbar. Dass die beiden Glaubensvorstellungen allerdings auch für ein anderes Konzept der Nationenbildung und des Umgangs miteinander standen, spielte auf der Straße, beim Gemetzel, keine Rolle. Nachdem zwischen 1618 und 1648 unzählige Seelen ganz irdisch verbrannt worden waren und ein Kontinent im Dauerkriegszustand vor dem Kollaps stand, trafen sich die Protagonisten in einem Saal zu Münster und beschlossen etwas, das den Namen des westfälischen Friedens tragen sollte.
Ohne es zu wissen schrieben die Handlungsbevollmächtigten der Kriegführenden Parteien ein Prinzip fest, das weder den Westen noch den Rest der Welt jemals wieder loslassen sollte: Das Equilibrium. Gemeint ist das Gleichgewicht derer, die miteinander verkehren oder verhandeln, unabhängig von ihrer jeweils eigenen Disposition hinsichtlich von Faktoren wie Größe, Macht, Religion und Eigenbild. Der westfälische Frieden sanktionierte das Gleichgewicht sehr unterschiedlicher Parteien in einer ungleich gewordenen Welt. Der westfälische Frieden legte das Fundament für die moderne Vorstellung von Diplomatie. Er beendete die Idee von der Beherrschung der Welt durch eine Macht, die alles dominiert und somit die Standards für das Leben aller setzt. 30 Kriegsjahre mit ungeheurem Leid und entsetzlicher Zerstörung auf allen Seiten waren nötig gewesen, um allen diese Vorstellung als Lösungsmodell zugänglich zu machen.
Ohne es explizit zu wissen, haben sich die europäischen Staaten diese Vorstellung in den meisten Fällen zu eigen gemacht und bis hin zur Philosophie und den Grundsätzen der Vereinten Nationen lebt das Diktum des westfälischen Friedens fort. Equilibrium, das Trachten nach Gleichgewicht bei Akzeptanz der Unterschiede und Eigenheiten. Das war seit 1648 nicht immer so, aber immer wenn der Pfad des westfälischen Friedens verlassen wurde, wie im I. und II. Weltkrieg, wie bei den vielen „lokalen“ Kriegen, dann endete das Ganze im Desaster. Und immer, wenn in besonders schwierigen Situationen an den Prinzipien des westfälischen Friedens festgehalten wurde, wie z.B. bei der neuen deutschen Ostpolitik, dann konnten Erfolge erzielt werden, die vorher nicht für möglich gehalten worden waren.
Seit der Haltung der deutschen Außenpolitik Ende der Neunziger Jahre im Balkankonflikt und seit der aggressiven Interpretation des EU-Auftrages auf dem Kontinent im Falle der Ukraine ist eine radikale Abweichung von dem Paradigma des Equilibriums festzustellen. Das muss nicht apodiktisch so sein, ist aber ein gewichtiger Grund zur Beunruhigung. Zumal die Akteure, die im Auftrag vermeintlicher europäischer Interessen durch Ignoranz und Großmannssucht auf dem fragilen Gebilde des europäischen Kontinents herumtrampeln, nicht den Eindruck erwecken, als hätten sie eine Vorstellung von den möglichen Verheerungen, die ihre absurden Aktionen auszulösen in der Lage sind. Kleinbürgerlicher Moralismus, wie ihn der verdauungsphilosophische Mittelstand propagiert, war in Deutschland immer eine Garantie für temporäre Untergänge, die Abweichung von den Prinzipien des westfälischen Friedens birgt jedoch nahezu die Garantie für ein böses Erwachen.
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