Archiv für den Monat Oktober 2014

Ist das Prinzip des westfälischen Friedens passé?

Dreißig Jahre hatte das Gemetzel angedauert. Von Nord nach Süd, von Ost nach West hatten Horden den Kontinent überzogen, gebrandstiftet und geplündert. Aufgrund des damaligen Umgangs mit Zahlen kann man die Schäden kaum beziffern. Unbeschreibliches Leid hatte der europäische Kontinent erfahren, angefangen hatte alles wegen der Finanzierung eines Tempels in Rom und dann gab es kein Halten mehr. Die Welt, die für Europäer damals nur aus Europa bestand, war aus den Fugen geraten. Es ging, wie immer in der Geschichte, um Macht, Geld und Einfluss. Ausgetragen wurde das Ganze allerdings auf der Folie des Glaubens. Katholische Kirche oder Protestantismus. Unter dieser Fragestellung war vieles subsumierbar. Dass die beiden Glaubensvorstellungen allerdings auch für ein anderes Konzept der Nationenbildung und des Umgangs miteinander standen, spielte auf der Straße, beim Gemetzel, keine Rolle. Nachdem zwischen 1618 und 1648 unzählige Seelen ganz irdisch verbrannt worden waren und ein Kontinent im Dauerkriegszustand vor dem Kollaps stand, trafen sich die Protagonisten in einem Saal zu Münster und beschlossen etwas, das den Namen des westfälischen Friedens tragen sollte.

Ohne es zu wissen schrieben die Handlungsbevollmächtigten der Kriegführenden Parteien ein Prinzip fest, das weder den Westen noch den Rest der Welt jemals wieder loslassen sollte: Das Equilibrium. Gemeint ist das Gleichgewicht derer, die miteinander verkehren oder verhandeln, unabhängig von ihrer jeweils eigenen Disposition hinsichtlich von Faktoren wie Größe, Macht, Religion und Eigenbild. Der westfälische Frieden sanktionierte das Gleichgewicht sehr unterschiedlicher Parteien in einer ungleich gewordenen Welt. Der westfälische Frieden legte das Fundament für die moderne Vorstellung von Diplomatie. Er beendete die Idee von der Beherrschung der Welt durch eine Macht, die alles dominiert und somit die Standards für das Leben aller setzt. 30 Kriegsjahre mit ungeheurem Leid und entsetzlicher Zerstörung auf allen Seiten waren nötig gewesen, um allen diese Vorstellung als Lösungsmodell zugänglich zu machen.

Ohne es explizit zu wissen, haben sich die europäischen Staaten diese Vorstellung in den meisten Fällen zu eigen gemacht und bis hin zur Philosophie und den Grundsätzen der Vereinten Nationen lebt das Diktum des westfälischen Friedens fort. Equilibrium, das Trachten nach Gleichgewicht bei Akzeptanz der Unterschiede und Eigenheiten. Das war seit 1648 nicht immer so, aber immer wenn der Pfad des westfälischen Friedens verlassen wurde, wie im I. und II. Weltkrieg, wie bei den vielen „lokalen“ Kriegen, dann endete das Ganze im Desaster. Und immer, wenn in besonders schwierigen Situationen an den Prinzipien des westfälischen Friedens festgehalten wurde, wie z.B. bei der neuen deutschen Ostpolitik, dann konnten Erfolge erzielt werden, die vorher nicht für möglich gehalten worden waren.

Seit der Haltung der deutschen Außenpolitik Ende der Neunziger Jahre im Balkankonflikt und seit der aggressiven Interpretation des EU-Auftrages auf dem Kontinent im Falle der Ukraine ist eine radikale Abweichung von dem Paradigma des Equilibriums festzustellen. Das muss nicht apodiktisch so sein, ist aber ein gewichtiger Grund zur Beunruhigung. Zumal die Akteure, die im Auftrag vermeintlicher europäischer Interessen durch Ignoranz und Großmannssucht auf dem fragilen Gebilde des europäischen Kontinents herumtrampeln, nicht den Eindruck erwecken, als hätten sie eine Vorstellung von den möglichen Verheerungen, die ihre absurden Aktionen auszulösen in der Lage sind. Kleinbürgerlicher Moralismus, wie ihn der verdauungsphilosophische Mittelstand propagiert, war in Deutschland immer eine Garantie für temporäre Untergänge, die Abweichung von den Prinzipien des westfälischen Friedens birgt jedoch nahezu die Garantie für ein böses Erwachen.

Die Umdeutung des europäischen Kontinents

Auch wenn oder gerade weil sich die schreibende Zunft immer weniger um ihr eigenes Metier kümmert, die Sprache ist das beste Indiz dafür, was in den Köpfen vor sich geht. Und obwohl mittlerweile eine breite, allerdings nicht subventionierte Öffentlichkeit darüber Kenntnis besitzt, dass die Zunft selbst alles hinter sich gelassen hat, was zu einem gewissen Ethos und einem Minimum an Professionalität gehört, ist es dennoch erstaunlich, mit welcher Hemmungslosigkeit wieder einmal das Spiel der Täuschung betrieben wird. Es ist kein Zufall, dass einem bei der gegenwärtigen Art, wie die aggressiven, irreführenden und verhetzenden Texte und Filme über das Publikum ausgekübelt werden, die Titel einer Trilogie des guten alten Leo Malets in den Sinn kommen: 1. Das Leben ist zum Kotzen. 2. Die Sonne scheint nicht für uns. 3. Träume, schlimmer als der Tod.

Zum einen fiel in den letzten Tagen auf, dass sich in den öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten zunehmend und konzentriert Spielfilme im Programm finden, die allesamt nur eines im Sinn haben, nämlich das alte, schreckliche Bild aus den Tagen des Kalten Krieges vom bösen Russen wieder zu beleben. Entweder wird Russland als das Reich des Bösen selbst beschrieben, wo exklusiv die Verbrecher das Sagen haben und rechtschaffene Leute terrorisiert werden. Oder das Russenpack hat sich in unserem schönen Berlin oder im ach so seriösen London festgesetzt und treibt aus der dunklen Unterwelt ein höllisches Spiel mit den Werten der Demokratie. Das es so etwas auch gibt, steht außer Frage, die Konzentration dieser Klischees zu den besten Zeiten des Abendprogramms bezeugen jedoch den Willen, neben den politischen Tiraden, die seit dem Konflikt um die Ukraine die Trommelfelle terrorisieren, nun auch die emotionalen Zorndepots aufzuladen.

Und nun die Wahlen in der Ukraine. So wie es aussieht, sind die Politiker, die heute die Ämter bereits innehaben, in ihrem Zugriff bestätigt worden. Zum einen wurde das auch höchste Zeit, denn legitimiert im Sinne demokratischer Denkweise waren sie vorher nicht. Dass in der bevölkerungsreichen Ost-Ukraine bis jetzt nicht gewählt wurde, wird mit dem lapidaren Satz erklärt, demnächst gäbe es ja noch Provinzialwahlen im Osten, aber die würden an dem Ergebnis wohl nicht viel ändern. So kann man es auch sehen, aus der Perspektive des Propagandisten versteht sich.

Die sprachlich allerdings markanteste Entlarvung geschieht durch ein anderes, wie heißt es so anglizistisch verbrämt, genau, Wording. Da wird nämlich davon gesprochen, das Wahlergebnis der Ukraine sei ein eindeutiges Votum für Europa. Zur Erklärung für alle Begriffsstutzigen: Europa wird hier synonym für die EU gebraucht. Für Europa heißt für die EU und die von ihr initiierte Politik der Osterweiterung der NATO. Oder anders herum erklärt: seit den Wahlen in der Mittel- und West-Ukraine hat der europäische Kontinent ca. 2500 Km Richtung Osten verloren. Er zählt nicht nur nicht mehr bis in die Ost-Ukraine, sondern auch nicht mehr bis Moskau und auch nicht mehr bis an den Ural. Der Umstand suggeriert eine prompte Asiatisierung eines Großteils des europäischen Kontinents quasi über Nacht. Aus einem von hier aus, d.h. den Studios in Mainz und Hamburg inszenierten semantischen Wandels eines Teils der Ukraine, Weissrusslands und Russlands selbst als asiatisch kann auch schnell eine asiatische Okkupation werden, die sich die Europäer zurück ins Reich des Guten holen müssen. Zuzutrauen ist diesen seidigen Opportunisten alles. Das haben sie bewiesen. Das riecht nach schlechtem Leben, wenig Sonne und höllischen Träumen.

Erschöpft und lakonisch

Jack Bruce & His Big Blues Band Live 2012

Zwei Jahre Cream brachten Weltruhm. White Room, Sunshine of Your Love, Spoonful. Welthits. In der Bilanz stehen bis heute 35 Millionen verkaufte Tonträger. Bevor sich der große Erfolg mit dieser zur Legende erhobenen Band einstellte, hatte es eine andere Entwicklung gegeben. Ganz jung zuerst Cello, viel später der Bass. Aus dieser Sozialisation stammt der Satz, den er nie revidierte, Johann Sebastian Bach habe die besten Basslinien geschrieben. Das behaupteten noch andere Bassleute, sie können es beurteilen. Der Schotte mit dem harten Akzent spielte zuvor, als er London erkundete, in den Bands von Alexis Korner und John Mayall, das waren die Kaderschmieden des folgenden weißen Blues und des Rocks. Was er lernte und sich herausarbeitete war die Entwicklung des Bass zu einem gestaltenden Element in dem Genre. John Entwistle von den Who interpretierte seine Rolle so und John Symon Asher „Jack“ Bruce.

Die großen Erfolge erlebte Jack Bruce zusammen mit Ginger Baker und Eric Clapton. Die Band rockte die Welt für zwei kurze Jahre, dann gingen die drei Alpha Dogs wieder ihre eigenen Wege. Ginger Baker, den Freak, trieb es nach Afrika, Eric Clapton blieb da, wo das Geld verdient wurde und Jack Bruce wurde politischer. Seine Texte nahmen ernst zu nehmende lyrische Formen an, und mit seinem Bassspiel versuchte er immer wieder Elemente des Jazz in die Halle des Populären zu locken. Was ihm mal gelang und mal scheiterte. Dennoch sind die Jahrzehnte, die ihm bis zu seinem Tod blieben, eine wunderbare Illustration seines musikalischen Lebenskonzeptes, bei dessen Rückblick die Cream-Geschichte nahezu als Unfall erscheint.

Um einen Musiker, der soeben verstorben ist, zu würdigen, können entweder die großen Erfolge aufgezählt oder die eigenen Lieblingsstücke präsentiert werden. Oder etwas, das die Werkstätte des Lebens offenbart. Im Jahr 2012 trat Jack Bruce & His Big Blues Band auf. Da war er 69 und gezeichnet. Dennoch ist der Auftritt bemerkenswert, weil er die Titel, die die großen Erfolge markierten, genauso gespielt werden wie die vielen anderen Werke, die in den späteren Jahren entstanden. Zudem hat er in der Big Blues Band, die seinen Namen trug, das realisiert, was er immer im Auge hatte: Der Bläsersatz baut die Brücke zur Avance an den Jazz. Spoonful mit einem Posaunensolo, da wird deutlich, dass schon die Konzeption des Stückes derartige Passagen im Ohr hatte, vor über vierzig Jahren, nur war die Zeit in den westlichen Mittelstandsclubs für so etwas noch nicht reif. Theme from an Imaginary Western ist so eine andere Geschichte, da kommt der Poet zum Vorschein, der die Reise beschreibt, nicht die geographische, sondern die existenzielle, die sich erzählen lässt als eine Reise durch die Natur wie der Erkenntnis, mit allen wunderbaren Erscheinungen, die selbst den vermeintlichen Weg zeichnen. Oder Deserted Cities, wieder völlig anders. Da inszeniert der Musiker das Onomatopoetische der Metropole und der Texter plaudert mal so eben das Wesen der Big Cities aus: Konzentration, Konfrontation und Diversität, das ist schon nahezu genial. Dass so etwas abseits des Mainstreams goutiert wurde, liegt in der Natur der Sache. Und, nahezu zum Abschluss, White Room, die Referenz an die Entfremdung des Individuums in den Zeiten seiner Inthronisierung, musikalisch präsentiert, wie es sich gehört, etwas erschöpft und lakonisch. Der Blick auf die Welt durch einen scharfen, an ihr ermüdenden Geist.