Archiv für den Monat Juni 2016

Die Mittagsbrezel

Ja, in der Literatur der 1920iger Jahre, da tauchten plötzlich Figuren auf, die vorher so gar nicht existierten, die niemand auf dem Schirm hatte und die aus dem Boden schossen wie die Waldpilze. Weltverbesserer, Mystiker, Reformbewegte, Sterndeuter, Sonnenanbeter, Verdauungsphilosophen und Verschwörungstheoretiker. Als hätte die damalige Gesellschaft wie ein Seismograph reagiert auf die bevorstehende Katastrophe, die den europäischen Kontinent heimsuchen sollte wie kein Ereignis zuvor. Das irre Funkeln in den Augen, flüsterten diese schrägen Gestalten ihre Phantasien und Horrorszenarien in das Halblicht der Handlung. Die Literaten, die das beschrieben, hielten sich an ihre Beobachtungsgabe, ohne das, was sie da beobachteten, zeitgleich zu deuten zu vermögen.

Erst bei Werken, die nach Eintreten der großen Katastrophe erschienen, begannen die Interpretationen, die der wachsenden Zahl irrlichternder Individuen eine Art Frühwarncharakter für den großen Knall zuwiesen. Widersprochen wurde dem nie, aber so interessant, dass es eine Debatte mit Für und Wider gegeben hätte, war es bis heute auch nicht. Um offen zu sein: Ich glaube an die These, dass eine ansteigende Anzahl von Lunatics ein Indiz für einer vehemente gesellschaftliche Krisenentwicklung ist.

Umso mehr besorgt mich ein Erlebnis, das ich gestern hatte. Nach einer längeren Sitzung am Vormittag und einer weiteren, wichtigen, eine gute Stunde später entschied ich mich, nur eine kurze, informelle Auszeit zu nehmen, um den Mittag zu überbrücken. So fuhr ich mit dem Fahrrad in einen Stadtteil, von dem ich wusste, dass es dort mehrere ganz gute Cafés gab, wo man formlos und leger eine Kleinigkeit zu sich nehmen konnte. Dort angekommen, entschied ich mich sogar für eine Bäckerei, kaufte zwei Brezeln und einen Kaffee und setzte mich direkt auf eine kleine Bank auf dem Trottoir direkt vor dem Schaufenster und begann das Gekaufte zu konsumieren. Dabei beobachtete ich das Treiben in der lebhaften Straße und genoss das Grundrauschen des Alltags. Was ich nicht bemerkt hatte, war ein auch auf der Bank sitzender Nachbar. Erst als dieser begann, mich in ein Gespräch zu verwickeln, nahm ich ihn wahr.

Ganz harmlos sprach mich ein ungefähr siebzigjähriger Mann an, der zwischen seinen Füßen eine angetrunkene Flasche Bier stehen hatte und in der Hand einen Kaffeebecher aus Styropor hielt. Stellen Sie sich vor, so begann er, die da drüben, und dabei wies er auf ein Café vis-a-vis, nehmen doch tatsächlich für einen Kaffee Einssechzig, die sind doch völlig verrückt geworden. Und hier, da nehmen sie Einszwanzig, da ist doch klar, wohin man geht. Abwesend und vielleicht auch etwas abweisend stimmte ich dem Mann zu, signalisierte aber wohl durch meine Körpersprache, dass ich ganz gerne einige Minuten mit mir allein gewesen wäre. Aber wie so oft im Leben, mein Signal wurde gänzlich anders aufgenommen von dem Mann, der durchschnittsgepflegt und -gekleidet aussah und keinerlei Verwahrlosung vermuten ließ.

Wissen Sie, so spann er seinen Faden weiter, nicht, dass ich so knapp wäre, dass ich bei einem Tässchen Kaffee gleich rechnen müsste, denn meine Rente ist nicht schlecht, aber bescheuert, bescheuert bin ich schon lange nicht. Und, ehe ich mich versah, befand ich mich in einer wilden Geschichte, die ich aufgrund ihrer Vehemenz, ihres Tempos, ihrer wachsenden Lautstärke und meiner nach dem Verzehr der Brezel abrupt beschlossenen Flucht nur noch bruchstückhaft in Erinnerung habe.

Es begann mit einem Ärztekomplott, einer jener typischen Veranstaltung der Faschisten in Weiß, die ihm, meinem Nachbarn, doch alle Diabetes diagnostizierten, wo er doch kerngesund sei. Diese dreckige Mischpoke jedoch wolle ihn mit den der Krankheit zugedachten Medikamenten Schachmatt setzen. Aber da, so der immer lauter werdende Banknachbar, da müssten diese Schlafmützen früher aufstehen. Die Killerdrogen hätte er entweder gleich vor der Apotheke in den Gully gekippt oder später zuhause ins Scheißhaus geworfen. Nun, etwas erstaunlich, bekam sein Gesicht einen milden Zug und er sinnierte, immer noch gleich laut, über die Weißkittel nach, die natürlich auch nur Oper seien.

Die eigentlichen Schweinehunde seinen nämlich die Staatsbullen. Die hätten es schon immer auf ihn abgesehen. Aber, und nun war er so laut, dass vorbeigehende Passanten auch mich fragend anzusehen begannen, diese Arschlöcher sollten sich bloß nicht so sicher sein. Seit Jahrzehnten verfolge er ihr abgekartetes Spiel, tausendmal hätten sie versucht, ihn zur Strecke zu bringen, aber immer, immer sei er diesen Halbintelligenzlern auf die Schliche gekommen. Mit seinem Namen, und jetzt wurde es nahezu literarisch, mit meinem Namen, so schrie er völlig ungehemmt über die Straße, ist euer Scheitern verbunden. Nun saß er auch nicht mehr, sondern er stand auf der Bank, hatte die Faust geballt und drohte nun, so wie es aussah, dem ganzen Viertel. Passt gut auf Freunde, ich habe das lautlose Töten gelernt. Wenn ihr glaubt, mich fertigmachen zu können, dann seid ihr schief gewickelt. Ohne dass einer was hört, wringe ich euch euer armseliges Dasein aus, bevor ihr was merkt, liegt euer hässlicher Kadaver hier im Rinnstein.

Als nun doch der Verkehr zum Erliegen kam, bezog mich der schrille Zeitgenosse wieder in seine heißblütige Eloge mit ein. Verstehen Sie, ich habe das lautlose Töten gelernt und wissen Sie was, das Wichtigste wissen diese bekloppten Staatbullen noch gar nicht! Ich bin nämlich mit Graf Stauffenberg befreundet!

Nun bekam ich die Vision, dass ein längeres Verweilen auf ein und derselben Bank eventuell dazu führen könnte, dass ich mit dem Rhetor der Straße in fürsorgliches Gewahrsam genommen werden könnte. Meine Brezel war verzehrt und so sprang ich, nicht ohne kollegialen Wink zu dem Killer und Stauffenbergfreund und zur Verwunderung einiger Passanten auf mein Fahrrad und machte mich von dannen. Auch Stunden später noch dachte ich immer wieder an das kleine Erlebnis. So irrsinnig vieles auch klang, diese Bankbekanntschaft hatte mich heftig zum Nachdenken gebracht.

Das finale Ende der Westprovinz und Englands Reise nach Ultima Thule

Es bleibt dabei. Der Fußball liefert die Bilder, die eine im freien Fall befindliche Technokratie nicht mehr in der Lage ist, zu schaffen. Montag, der 27. Juni 2016, ein scheinbar ganz normaler Tag bei der Fußballeuropameisterschaft, bot mit zwei dramatischen, ja, historischen Spielen ein ganzes Museum an Bildern für die Nachwelt. Mit den Begegnungen Italien gegen Spanien und England gegen Island trafen jeweils analoge Kulturen aufeinander, die allerdings zeigten, wie unterschiedlich die Stadien wie die Befindlichkeiten sein können, wenn der direkte Vergleich naht.

Spanien, das den Weltfußball nahezu uneingeschränkt für eine Dekade beherrscht hatte, war vor zwei Jahren bei der Weltmeisterschaft in Brasilien in einem denkwürdigen Spiel von den Niederlanden zerlegt worden, hatte sich aber anscheinend in der Zwischenzeit erholt und bis auf die Niederlage gegen Kroatien jetzt in Frankreich seine alten Qualitäten wieder gezeigt. Italien hingegen, das zu Anfang des Turniers manchmal müde belächelt wurde, trat auf wie das alte Rom in seiner Blütezeit und verwies die aufmüpfige Provinz in die Schranken. Das im Schatten des Imperiums entwickelte System des Tiki-Taka  erhielt nicht nur keine Sanktion als allgemeine Verkehrsform, sondern eine regelrechte Untersagung. Italien zeigte, zu was ein Imperium, das seit Unzeiten Höhen und Tiefen erlebt hat, letztendlich doch in der Lage ist, wenn es um Strategie und Taktik geht.

Einem ersten, schmerzhaften Schlag folgte eine Phase der Zermürbung, die immer wieder in die Länge gezogen wurde, in dem den Spaniern kleine Dosen von Hoffnung eingeflößt wurden. Und dann, als die so ersehnte Wende mit trockenen Kehlen am lautesten beschrien wurde, setzten die Strategen vom Tiber zu einer tödlichen Figur an. Pellè, der wuchtige Mittelstürmer, schlug mit funkelnder Klinge durch den porösen Haufen der iberischen Phalanx und setzte damit der luziden Phase der Westprovinz ein finales Ende. Ist die Sonne erst einmal untergegangen, dann ist es auch im Westen dunkel. So borniert das Resümee klingen mag, so verheerend das Resultat für die lichtverwöhnten Bewohner dieser Zonen.

Glich Spaniens Hinrichtung einem tiefen Fall, so war Englands Niederlage ein Desaster mit Ansage. Zu jedem Turnier, an das sich die heute Lebenden noch erinnern können, fahren sie mit lautem Geläut an und verkünden den großen Sieg, auf den sie schon so lange warten. Einmal, 1966, als die Queen auf der Tribüne des heimischen Wembley saß, war ihnen dieser Coup gelungen. Seitdem wiederholt sich das Versagen nach dem gleichen Muster: Große Ankündigung mit der Beinote, diesmal sei alles anders, frühes Ausscheiden und anschließende Sündenbocksuche.

Doch das Ausscheiden Englands, das einer letzten Fahrt nach Ultima Thule, dem dunklen, mystischen Ende der Welt glich, war nicht nur der durchaus zu beobachtenden eigenen Unzulänglichkeit zu verdanken. Trotz aller Kritik, die berechtigt aus dem englischen Profigeschäft abgeleitet und mit den damit einhergehenden geringen Chancen für den Nachwuchs verbunden wird, hat ein Team aus dem Hohen Norden die Herzen Europas bereits erobert. Island, mit durchaus zeitgenössischer Taktik, einer aus den Arsenalen der Wikingerblüte entlehnten Athletik und einem nur im Nordmeer überlebensfähigen Willen zwang die Engländer nahezu mit große Leichtigkeit in die Knie. Da schlichen zahnlose britische Löwen über den Platz, juvenil aber satt, brillant trainiert aber ohne Motiv. Islands Erfolg glich einer materialisierten Zivilisationskritik.

Und die Lehren? Imperien haben Bestand, wenn sie sich nicht durch die Arroganz der Parvenüs blenden lassen und Reiche fallen, wenn der Mammon drückt und die jungen Gegner hungrige Mägen haben. Kein schlechter Erkenntnisstand für zweimal 90 Minuten.

Ein Strategem, Quaresmas Todesstoß und die Frage nach der Feuerfestigkeit

Es wird alten chinesischen Militärs zugeschrieben, das Zitat, das so gar nicht chinesisch klingt: Kennst du deine Feinde, kennst du dich selbst, hundert Schlachten ohne Schlappe. Im Grunde ist es auch egal, woher es stammt, es könnte auch eine Verballhornung clausewitzscher Weisheit sein, aber es trifft den Kern von Strategie und Taktik. Wenn der Sieg das Ziel ist, stellt sich die Frage, wie die eigenen Stärken wie Schwächen gegen die Pole der Gegner zu stellen sind. Wer die Stärken des Gegners zu neutralisieren weiß und den Neutralisierten gar irgendwann mit den eigenen Stärken konfrontieren kann, der hat gute Chancen, das Spiel für sich zu entscheiden.

Portugal hat dieses Strategem aktiviert und im Spiel gegen Kroatien zum Erfolg gebracht. Emotional waren Pluspunkte für Kroation ebenso verteilt wie die Spekulationen über den Verlauf kommuniziert. Portugal hatte sich in einem torreichen, offenen Schlagabtausch mit Ungarn nur mit der berühmten Haaresbreite für das Achtelfinale qualifiziert. Dagegen stand ein Kroatien, das ohne Modric, aber mit Bravour und Löwenherz die iberischen Könige des Tiki-Taka schlichtweg gedemütigt hatte. Nun, mit Modric, galt Portugal bereits vielen Experten vor dem Spiel als gehäutet.

Portugal vollbrachte taktisch eine Meisterleistung, indem es durch eine geschickte Verteidigung das kroatische Mittelfeld neutralisierte und so einen Zermürbungskampf einleitete, der in der 117ten Minute durch den Todesstoß Ricardo Quaresmas endete. Das war taktisch genial und führte zum Sieg. Die deutsche Expertise mokierte sich kollektiv über diese taktische Finesse und sprach von einem Grottenkick. Allein die eingangs zitierte Betrachtungsweise geht diesen Mainstream-Wellenreitern vermutlich zu weit, rein intellektuell versteht sich.

Polen spielte gegen die Schweiz wie gegen Deutschland, d.h. mit wenigen Ausnahmen wurde die Defensive gepflegt und auf Konter gesetzt. Die Sache ging zwar mit einem Elfmeterschießen gut aus, aber als Akteur für Höheres hat sich das Team nicht empfohlen. Es ist stark zu vermuten, dass die Reise bald beendet ist.

Dass Frankreich Irland bezwang, entsprach den Erwartungen, und dennoch bleibt, wie nach allen Spielen des Gastgeber-Teams, ein Restzweifel über die Feuerfestigkeit. Deutschland wusste gegen die Slowakei zu überzeugen, die Variante mit dem Mittelstürmer scheint sich als die vielversprechendere zu etablieren. Und die belgische Konterqualität lieferte wiederum Anschauungsmaterial für das Lehrbuch. Der deutlichste Sieg des Turniers bis jetzt läutete auch die Zeit des Erwachens ein, nun kommen die Spiele, in denen es um alles geht.

Bevor die Dramaturgie neue Höhen erreicht, stellt sich die Frage, inwieweit sich der Aufbau von Feindbildern bereits erledigt hat. Nach den Russen, die durch ihr frühzeitiges Aus und die Abreise ihrer Hooligans nicht mehr als Hauptfeinde des gesamten Turniers beschrieben werden können, könnte es sein, dass die Engländer zum ersten Spiel nach dem Brexit diese Vakanz einnehmen. Vor der Abstimmung im eigenen Lande, als noch Hoffnung auf den Verbleib existierte, konnte selbst das Auftreten englischer Hooligans in Marseille, die die Stadt drei Tage lang in den Ausnahmezustand versetzten, die Stimmung nicht vermiesen. Das kann sich gegen Island sehr schnell ändern und einen neuen Beweis dafür liefern, dass längst Marketingunternehmen mit einem genau beschriebenen politischen Programm die Kommunikation dieses Turniers bestimmen. Früher nannte man das Propaganda. Es bleibt dabei, Europa zeigt bis auf wenige sportliche Ausnahmen seine momentan so gar nicht attraktive Physiognomie.