Archiv für den Monat Juni 2014

Das kalte Herz des Jägers

Wer bei der Begegnung zwischen den Niederlanden und Mexiko auf eine eindeutige Angelegenheit der ersteren gesetzt hatte, wurde bitter enttäuscht. Eigentlich war es das Spiel Mexikos. Im Gegensatz zu ihren bisherigen Partien wartete Louis van Gaal mit einer Taktik auf, die dem bisherigen Verlauf des Turniers entsprechend das Attribut europäisch verdient hat. Abwarten, den Gegner kommen lassen, auf Sicherheit spielen und auf die Chance zum Gegenschlag lauern. Oranje spielte ohne Verve und Esprit, das Team wirkte wie ausgetauscht und lieferte besonders in der ersten Hälfte eine müde Vorstellung. Davon, den Löwen nicht untergehen zu lassen, war nichts zu bemerken.

Mexiko dagegen trat nicht nur couragiert auf, war gewohnt technisch gut und spielte sich mehrere Gelegenheiten heraus. Zu Beginn der zweiten Hälfte wurden sie mit einem sehenswerten Tor belohnt. Danach befreiten sich die Niederländer zwangsläufig von der selbst verordneten, auf Sicherheit zielenden Spielweise und versuchten auf Angriff zu spielen. Auch das war jedoch nicht überzeugend und Gefahr drohte immer nur dann, wenn Robben den Ball bekam und im Strafraum auf Elfmeter spielte. Das misslang zunächst und bis kurz vor Schluss sprach alles für ein verdientes, erkämpftes Weiterkommen Mexikos.

Doch dann holte van Gaal van Persie vom Platz und brachte einen Mann, den sie den Hunter nennen, Jan Klaas Huntelaar. Er war es, der das Spiel drehte. Zunächst gab er eine Flanke per Kopfball auf den gut und glücklich postierten Wesley Snijder zurück, der fünf Minuten vor Schluss mit einem gelungenen, wuchtigen Schuss das 1:1 erzielte. Und wiederum wenige Minuten später bekam Robben dann endlich, beim vierten oder fünften Versuch, den Elfmeter, diesmal sogar berechtigt. They call me the hunter, and that´s my name nahm sich kurz entschlossen den Ball und verwandelte den Strafstoß mit kaltem Herzen.

Wer glaubt, der Sieg der Niederländer sei das Ergebnis einer genialen taktischen Leistung, unterliegt einem Trugschluss. Es war das Glück, das selbst in wenigen Momenten auch dem Arroganten beschieden ist. Sollten daraus Analogieschlüsse für die nächsten Begegnungen europäischer gegen amerikanische Mannschaften auf diesem Turnier gezogen werden, so können sie nur ins Verderben führen. Wer sich dort nicht der Herausforderung des emotionalen Kampfes stellt, der wird bittere Enttäuschungen erleben. Das Bild sei erlaubt: Europa verwaltet die Verteilung des Kuchens, Amerika kämpft unerbittlich nicht um ein großes Stück davon, sondern um ihn in seiner Gesamtheit. Das hat symbolischen Charakter, es zeigt Tendenzen der globalen Entwicklung und dass nun auch die ansonsten weltbewanderten Niederländer zu provinziellen Kleingeistern mutierten, löst eine gewisse Traurigkeit aus. Noch reichte das kalte Herz des Hunters, ein zweites Mal wird ein solcher Schachzug nicht reichen.

Griechenland, im Spiel gegen Costa Rica, zeigt sich auf diesem Turnier unbeirrt von seiner kämpferischen, alles andere als hinhaltenden und einschläfernden Seite. Auch hier zeigt sich, dass die Lage der Nation auf dem Grünen Rasen immer eine Rolle spielt. Die Griechen, die in den vergangenen Jahren so gelitten haben, teils wirtschaftlich, was enorm ist, aber auch in Bezug auf ihr Selbstwertgefühl, zeigen eine Reaktion, die die richtige ist. Die Nation ist zu groß, sie ist zu wichtig als dass sie es sich erlaubte, depressiv im Staube zu versinken. Da ist Kampf die angemessene Antwort. Egal, wie es in dieser Nacht noch ausgehen wird, mit der vorher gesehenen Mentalität, einen abgezockten Coup landen zu wollen, ist weder bei Griechenland noch bei Costa Rica zu rechnen.

Große Oper

Bereits das Eröffnungsritual zeigte die Brisanz. Obwohl für das Abspielen der Nationalhymnen nur neunzig Sekunden vorgesehen sind und somit nur eine Strophe Platz findet, sang der chilenische Anhang die Hymne ohne Musik und gegen einen gellendes Pfeifkonzert der brasilianischen Fans zu ende. Das gleiche passierte danach umgekehrt und aus den Mienen aller Beteiligten war zu lesen, dass es sich bei dem bevorstehenden Spiel um mehr als nur um ein sportliches Ereignis handelte. Was folgte, war eine Werbung für den Fußball, soweit man mit ihm eine Form von Passion verbindet, die sich in Inspiration, gegenseitiger Unterstützung und Hingabe ausdrückt.

Nein, und das flüsterten die Souffleure der deutschen Fernsehanstalten auch schnell und beflissen in die Mikrophone, das höchste technische und taktische Niveau war dieses erste Spiel des Achtelfinales nicht. Richtig in diesem Zusammenhang anerkanntermaßen der Hinweis, dass in dem gegebenen Fall, d.h. dem Aufeinandertreffen des großen Brasilien auf das kleine Chile keine Kontrolle möglich ist und Traineranweisungen nur begrenzte Wirkung haben. Die Dynamik bekommt das Spiel aus der eigenen, überdimensionierten Motivation der Spieler selbst und dem grollenden, peitschenden, mal von Übermut, mal von Verzweiflung getragenen Feedback der Ränge.

Großen Respekt verdienen die Akteure für die Fähigkeit, im Kessel von Belo Horizonte nicht die Kontrolle verloren zu haben und fair geblieben zu sein. Verlauf wie Ausgang des Spiels waren ein Drama und gewonnen zu haben hätten beide verdient, aber das sieht das Reglement bekanntlich nicht vor. Brasilien war glücklicher, Chile fehlte das berüchtigte Quantum daran. Was bleibt sind Bilder, die den ungeheuren Druck, die große Menschlichkeit und die Haltung der Akteure festgehalten haben: Ein aufrecht in der Tragewanne sitzender und vom Platz transportierter chilenischer Verteidiger, der nicht mehr laufen konnte, aber über sein Ausscheiden verzweifelt, ein schon vor dem Elfmeterschießen ergriffener Julio Ceasar, der Minuten später der Held des Tages war und ein nach einem dreist ausgeführten Elfmeter, der eine Schnoddrigkeit sondergleichen vermuten ließ, kurz darauf von Emotionen übermannten schluchzenden Neymar, der auf den Rasen sinkt wie ein von einem Dolch gemeuchelter Prinz. Das waren die Erlebnisse, für die die Weltmeisterschaft im Jahr 2014 steht, die im Zeichen des amerikanischen Kontinents zu finden sind, der andere Werte vertritt wie die immer wieder staunenden Europäer lernen müssen und der vom Temperament auf einem anderen Stern liegt.

Im zweiten Achtelfinalspiel kam eine, da wiederum amerikanische, nicht minder brisante Konfrontation zustande. Mit Kolumbien traf der Rising Star dieser WM auf die mit Hochprofis gespickte Elf aus Uruguay. Hier, und das sollten alle Beobachter aus dem professionellen Lager begreifen, wurde trotz der durchaus vorhandenen Emotionen in starkem Maße von der Taktik instruiert gespielt. Mit dem einstigen argentinischen Nationaltrainer Pekerman spielt Kolumbien ein kühl kalkuliertes Brett, das man kaum erkannt wird, wenn Akteure wie Zuniga mit brennender Spur über den Platz fegen. Und das neben einem James Rodriguez, der in seiner juvenilen Unbekümmertheit Tore schießt, als stammten sie aus einer Animationskonsole für schönes Spiel. Hier war früh klar, dass Jugend, gepaart mit kluger Taktik und technischer Brillanz einer alternden Mannschaft, deren Aura aus vergangenem Ruhm, einem Handicap mit dem von der FIFA hingerichteten Suarez und Kampfkraft keine Chance gab. Dass Brasilien nun auf Kolumbien trifft, verspricht ein weiteres Erlebnis zu werden, einer Werbung für das Metier, die nahezu exklusiv auf das Konto Amerikas geht.

Straßenjungs und Richter

Früher nannte man sie Straßenjungs, heute meistens Straßenkids. Beide Bezeichnungen täuschen darüber hinweg, dass es sich nicht immer nur um Minderjährige handelt, sondern auch um Menschen fortgeschrittenen Alters, die immer noch ihr Wohnzimmer auf der Straße haben. Diese Gruppe von Menschen teilt in der Regel ein hartes Los, das sie sehr viel gelehrt hat. Zumeist weisen sie eine instinktive Sicherheit auf, wenn es darum geht, Gefahren auszumachen. In der medialen Öffentlichkeit finden sie und ihre Fähigkeiten allerdings nicht statt, es sei denn, wenn irgendwelche karitativen Kampagnen sie wieder einmal als Opfer auf dem Schirm haben. Dabei wäre es von großem Nutzen, sie ab und zu zu Rate zu ziehen, wenn es um die Beurteilung gesellschaftlicher Entwicklungen geht. In diesen Tagen weisen nämlich gerade sie auf Missstände hin, an denen man ihnen gar kein Interesse zutraut. Eines davon ist die Praxis der Rechtsprechung in unserem Land.

Juristen ihrerseits haben einen sehr spezifischen Auftrag. Sie sollen sich, je nach Rolle im Rechtssystem, darum kümmern, die in der Verfassung verankerten Rechte zur Geltung zu bringen. Das verlangt Kenntnis, Weitsicht, Unbestechlichkeit und Ethos. Dieser hehre Auftrag ist umso schwerwiegender, als dass auch diese Individuen, die für Rechtsprechung und Rechtsauslegung verantwortlich sind, einer allgemeinen gesellschaftlichen Sozialisation ausgesetzt sind, die ihre Haltung beeinflusst. Letzteres wird im Moment an den illustren Fällen von Rechtsprechung immer deutlicher.

Wenn ein Rentner, der seit vierzig Jahren in einer Wohnung lebt, den juristischen unterlegten Verweis aus seiner Wohnung erlebt, dann hat das sehr viel mit dem gesellschaftlichen Mainstream zu tun, aber wenig mit den im Grundgesetz verbrieften Rechten. Und wenn die höchste Instanz im Staate darüber entscheiden muss, ob eine ohne eigenes Verschulden Geschädigte den vollen Anspruch bekommt, weil untergeordnete Instanzen ihr das Nichttragen eines Fahrradhelmes einschränkend zum Vorwurf machen, obwohl letzteres nicht gesetzlich vorgeschrieben ist, dann fragt man sich, wie solche Vertreter der Zunft ihr erstes juristisches Staatsexamen erlangen konnten. Und wenn andererseits immer mehr Beispiele dafür vorliegen, dass gleiche Tatbestände aufgrund unterschiedlicher kultureller Motivlagen und Erklärungszusammenhänge unterschiedlich bewertet werden und zu unterschiedlichen Strafmaß führen, dann wird evident, dass die Rechtsgrundlage der Gleichheit längst verlassen wurde zugunsten eines nebulösen Gerechtigkeitbegriffs, der in der Rechtsprechung nichts zu suchen hat.

Ausgeschlossen davon sind Urteile, die kein Mensch mehr nachvollziehen kann, wie das berühmte Bienenstich-Urteil, in dem einer Beschäftigten mit rechtlicher Sanktionierung fristlos gekündigt wurde, weil sie ein Stück Bienenstich aus der übrig gebliebenen Ware, die ansonsten am selben Abend vernichtet worden wäre verzehrte im Vergleich zu dem Strafmaß bei einer Steuerhinterziehung in astronomischer Höhe. Und das obwohl sich die Richterinnen und Richter konform zur Gesetzeslage bewegt haben. Da fehlt es lediglich an Fingerspitzengefühl, was man als Chiffre für so etwas wie soziale Empathie bezeichnen muss.

Das Schwingen im Mainstream der juristischen Klasse bedeutet für die weitere gesellschaftliche Entwicklung eine große Gefahr. Die teilweise rituellen Urteile wie der Rausschmiss des Rentners aus seiner Wohnung füllen nämlich die Zorndepots derer, die in dem naiven Glauben leben, unsere Rechtsprechung basiere noch auf dem Grundsatz der Gleichheit. Er ist längst erodiert und einer Deutung zugunsten des Zeitgeistes gewichen, der im Sinne von Toleranz und Gerechtigkeit zwar gut gemeint ist, aber große Teile der Unterprivilegierten zur Exekution freigibt. Ihr Zorn wird sich richten gegen die Werte der den Zeitgeist dominierenden Mittel- und Bildungsschichten, zu denen die Juristen auch gehören. Ein Roll Back wäre die Folge. Vielleicht wäre es sinnvoll, einmal Audits für Juristinnen und Juristen zu organisieren, mit Straßenjungs als Feedback-Gebern.