Archiv für den Monat Januar 2014

Defizite im technokratischen Raumschiff

Die Protagonisten unserer Zeit, ob in Politik, Wirtschaft, im Kulturgewerbe oder im Sport werden aus der Perspektive der zuschauenden Masse nicht selten für ihr Fehlen an einem tiefen, sozialisierten Verständnis für die profanen Belange des Daseins kritisiert. Nicht zu Unrecht, denn wie oft fragen wir uns, wie es sein kann, dass Dinge in der Öffentlichkeit verhandelt werden, die mit den tatsächlichen Lebens- und Existenzbedingungen der großen Masse nichts zu tun haben? Die Ursachen dafür sind vielschichtig und nicht einfach damit zu erklären, dass Macht zu Zynismus verleitet.

Eine der Ursachen für die beklagte Weltfremdheit liegt sicherlich an den Existenzbedingungen der Mächtigen selbst. Egal wie sie dorthin gekommen sind, wo sie sich befinden, sie werden in der Regel sehr schnell in ein System integriert, das sie selbst abschirmt. Wie in einen Kokon eingehüllt werden sie gedämmt von den Gravitationskräften eines Alltags, der aus Widrigkeiten, Widerständen und Beschwerlichkeiten besteht. Wie viele derer, die wir beobachten, benötigen nicht einmal mehr ein Portemonnaie, um ihre Kosten zu bestreiten, wieviele von denen müssen sich nicht um ihre Mobilität kümmern, um sich fortzubewegen, Räume anmieten, in denen sie wirken können oder in einer Schlange stehen, um Karten für ein Konzert zu bekommen? Sie sind eingewoben in ein Netz der Gefälligkeiten, das ihnen das wahre Leben fern hält.

Ein anderes Phänomen der Entwirklichung resultiert aus den Formen der Sozialisation. Letztere führt in vielen Fällen nicht mehr über die Navigation durch ein beschwerliches Leben, sondern sie besteht aus Anforderungsprofilen für die Position der Macht, die diesen Weg nicht mehr vorsehen und geringschätzen. Eingebettet in institutionalisierte Karrierepfade, die aus den Zauberworten der modularen Qualifikation und der Netzwerkbildung bestehen, wird eine systematische Entfremdung aus dem profanen Dasein vorprogrammiert. Das, was bei charismatischen Persönlichkeiten in den noch wenigen zu beobachtenden Fällen vorliegt, ein Instinkt für Situationen, die weder vorhersehbar sind noch eingeübt werden können, resultiert aus einem zuweilen schmerzhaften Prozess von Irrtum und Niederlage. Nur, wenn derartige Erfahrungen gemacht werden und eine gewisse Lernfähigkeit aus diesen Erlebnissen entwickelt wird, entsteht ein Sinn für nicht deklarierte Umstände und non-verbal erahnte Empathie für Gefahr, Bedürfnis und Verständnis. Wird dieser epistemologische Dreck nicht gefressen, helfen auch keine Bücher oder Seminare über Empathie oder soziale Intelligenz. Die Anzahl dieser Publikationen und Veranstaltungen sind eher ein Indiz über fehlerhafte Sozialisationsprozesse, die das profane Leben nicht mehr vorsehen.

Die Frage, die sich in diesem Kontext stellt, ist die nach einer notwendigen Abkehr von den normativen, technokratischen Modellen folgenden Anforderungsprofilen und Auswahlprozessen. Solange Wert darauf gelegt wird, eine institutionalisierte Vorgabe im Sinne technischer Fertigkeiten und Befähigungen auszurichten, wird die Metapher des Zauberlehrlings weiterhin Gültigkeit besitzen. Menschen, die, um einen treffenden Begriff Jean Paul Sartres zu aktivieren, als Techniker des Geistes firmieren, ohne die soziale Tiefe ihrer Operationen zu erahnen, werden die Kluft zwischen der Ausübung von Gestaltungsmacht und denen, die ihre eigenen Daseinsformen ignoriert sehen, nur noch vergrößern. Die Bedingung, die demokratisch definierte Systeme in ihre Auswahl derer, die die Gestaltung des Gemeinwesens voran treiben sollen, muss streng gebunden sein an eine Sozialisation, die die Erfahrung vermittelt hat, dass der Kampf um die tägliche Existenz der eigentliche Konsens ist, der dynamischen Gesellschaften die notwendige Kohärenz verschafft. Dazu gehören soziale Traumata genauso wie eine sprachliche Kommunikationsfähigkeit, die weit über den restringierten Code des technokratischen Raumschiffes hinausgeht.

Der gedemütigte Mann

Patrick Hamilton, Hangover Square

Das Schicksal guter Literatur ist eng mit dem menschlicher Karrieren verbunden. Wo immer und unter welchen Umständen sie auch entstanden sein mag, zu ihrer Verbreitung ist es erforderlich, dass sie zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort erscheint. Viele großartige Werke sind nie zu unserer Kenntnis gekommen, weil diese Werke entweder in Gesellschaften erschienen, die akut mit anderen Problemen zu kämpfen hatten, als die Sujets der Bücher nahelegten, oder sie waren zu verwegen, als dass diese Gesellschaften es wagten, sich damit auseinanderzusetzen. Wenige Schriftsteller ließen sich durch derartige Rückschläge nicht zermürben, nur die Maniaks blieben, wenn es nötig war, selbst Jahrzehnte lang ihren Ideen verhaftet, bis der rechte Zeitpunkt gekommen war.

Der Brite Patrick Hamilton gehörte eher zu den tragischen Gestalten des Genres. Er schrieb zwei exzellente Bücher über das London kurz vor Ausbruch des II. Weltkrieges, der dann alles überblendete, was sich in den Nischen des Daseins abspielte. Als die Zeit gekommen gewesen wäre, war er selbst in dem rauchigen, Whiskey getränkten Milieu versunken, über dessen Spähren er so feinfühlig geschrieben hatte. Mit der Erzählung Hangover Square, die im London vor und bis zur Kriegserklärung an Deutschland spielt, griff Hamilton ein Thema auf, das damals selten in der Literatur Gegenstand war und heute aufgrund des Zeitgeistes gar unmöglich erscheint. Es handelt sich um einen jungen Mann, der um eine attraktive Frau buhlt, die ihn schamlos ausnutzt und erniedrigt. Das ist die Story, mehr nicht, aber so intensiv, dass es schmerzt. Die Handlung spielt in den Bars und Pubs um Earls Court, einem Viertel, in dem die damalige, verarmte Boheme herumlungerte und im Dunst des Alkohols an imaginären Karrieren arbeitete. Die Hauptfigur, George Bone, kratzt sein ganzes Geld zusammen, um sich in eine Clique einzukaufen, die sich um die Schauspielerin Netta Longdon rankt. Von den ersten Zeilen ist klar, dass es in dieser Konstellation und in diesem Leben kein Glück geben wird. Anhand der täglichen Routinen entsteht stattdessen ein dichtes Netz aus Abhängigkeiten, menschlichen Abgründen, verlorenen Illusionen, verderbten Trieben und zertretener Hoffnung. George Bone wird scheitern, er wird das Opfer sein, das als Täter in die Annalen eingehen wird.

Neben einem feinsinnigen Duktus bei der Zeichnung der verschiedenen Charaktere überzeugt Hamilton zudem mit einer subtilen Spannungsdynamik, der es gelingt, Leserin und Leser bis zum fatalen Ende, das nur spektakulär durch seine Folgerichtigkeit wird, zu bannen, denn eigentlich will man diesem Traktat über die menschliche Berechnung auf Kosten der Liebe gar nicht mehr folgen. Mit dem Kunstgriff von Absenzen des wachen, agierenden Bewusstseins zugunsten einer dumpfen, unterbewusst operierenden Agenda schafft Hamilton es zudem, die Reibung zwischen Ich und Es in der Figur des George Bone collagenhaft zu konfrontieren. Die Vielschichtigkeit und der Multiperspektivismus in der literarischen Konstruktion deuten darauf hin, wieviel Potenzial in dem Autor abrufbar gewesen wäre, hätten günstigere Umstände sein Feuer weiter gespeist.

Das Thema selbst ist im gleichen Zeitraum in Deutschland nur in Oskar Maria Grafs Bolwieser bearbeitet worden, der tragischen Geschichte eines Pantoffelhelden. Das Buch ging ebenso unter wie Hamiltons Hangover Square, nur Grafs Oeuvre wurde lange nach dem Krieg und vor der neuen Inquisition von Reiner Werner Fassbinder verfilmt. Hamilton schrieb außer Hangover Square noch Slaves of Solitude, das der Autor ungelesen weiterempfiehlt, sollte es die Stärke des vorliegenden Buches besitzen.

Ein morbider Tanz um den Heiligen Gral der Börse

Martin Scorsese. The Wolf Of Wall Street

Hollywood-Produktionen lösen beim kritischen Publikum nicht zu Unrecht Zweifel aus. Cineastische Werke, deren Herstellungsbedingungen industriell sind und deren Zweckbestimmung die Massenvermarktung ist, tragen schwerlich revolutionäre oder kritisch enthüllende Botschaften mit sich. Es gibt nur wenige Protagonisten im Ensemble Hollywoods, die es mit einem eigenen Label so weit gebracht haben, dass sie sich den Gestus des Epatez-le-Bourgeois leisten können, ohne dass die notwendigen potenziellen Investoren von vornherein die Rote Karte zeigten. Martin Scorsese ist so einer. Ihm verdankt das weltweite Publikum Filmproduktionen, die nicht mit affirmativer Ideologie langweilen, schlecht gemacht sind oder in der Belanglosigkeit versinken. Martin Scorsese steht für den Schock, er steht für Action und geniale Komposition von Bild und Musik.

The Wolf Of Wall Street ist sein neuestes Produkt. Mit der für Hollywood typischen Marketingmaschine angekündigt und einem Namen, der den Nerv des Zeitunbehagens trifft, greift Scorsese mit Jordan Belfort eine tatsächlich historische Figur auf, die in den achtziger Jahren mit ihren unkonventionellen Methoden die Wall Street aufmischte und Furore machte. Ein Mann aus der Working Class entschied sich, Broker zu werden, machte am ersten Tag nach seiner Zulassung mit dem ganzen Laden Pleite und dealte sich danach aus einem Garagenunternehmen mit Penny Stocks nach ganz oben, bis er den Neid der Konkurrenz und das wachsame Auge des FBI auf sich zog und der kometenhafte Aufstieg in mächtige Turbulenzen geriet.

Im Grunde ist es das, was der Film erzählt. Insofern nichts Neues und kaum der Rede wert, wäre da nicht die Art und Weise, wie es Scorsese erzählt und Leonardo DiCaprio darstellt. Das kongeniale Arrangement zielt mit Präzision und Tempo auf die Psychodynamik der Akteure des Wertpapierhandels, der tatsächlich in den achtziger Jahren einem Wandel unterlag und sich endgültig abkoppelte von einer tendenziell vorliegenden Prognostik für die Entwicklung realer Werte zu einer illusionsgesteuerten Machtphantasie, mit der gehandelt werden kann. In diesen Kreisen geht es um die Macht, und nur um die Macht. Hin und her geschobene Geldwerte bilden nur noch den Schmierstoff für die Beschaffung der Trieb eskalierenden Mittel zur Realisierung der Allmachtsvisionen. Das, was sich in den immer größer werdenden, in immer edler gelegenen Stockmärkten des Jordan Belfort abspielt, ist ein einziges Happening, ein höllisches Gesamtkunstwerk aus Kokain, Alkohol, Psychopharmaka und Prostitution. Belfort, der König der Broker ohne Werte, belohnt seine Krieger mit archaischen Riten des Überflusses und der Verschwendung. Ihre Macht beschränkt sich auf Geld, Rausch und Verfügbarkeit über den Sex, befeuert und immer wieder angetrieben werden sie von einer Rhetorik totalitärer Qualität.

Die routinemäßigen Ansprachen Belforts vor seinen Brokern allein sind es Wert, sich den Film anzusehen. Sie sind in ihrer charismatischen Qualität genial, in ihrer Vernichtung sozialer Werte diabolisch. Er appelliert an den archaischen Instinkt der Macht und ihm gelingt es, aus Hinterhoffuzzis regelrechte Killermaschinen zu machen. Belforts Reden sind Oden an die Kraftzentren der Macht und des Wahns, sie treiben eine koksfüsilierte Horde auf die Expropriationsbeutezüge gegen den solide erwirtschafteten Wert. Grunzend und sabbernd geht die Meute auf die Einfaltspinsel los, die so naiv sind, für ihr Auskommen überhaupt noch zu arbeiten. Und der Wolf wäre kein Artefakt Scorseses, wenn nicht immer wieder Passagen wie Smokestack Lightning von der Urgewalt des bluesigen Howlin‘ Wolf zu hören wären und klirrende Gitarrenriffs den morbiden Tanz um den Heiligen Gral der Börse begleiteten. Nein, das ist nicht abgedroschen, das ist wirklich großes Kino.