Archiv für den Monat Oktober 2008

Die Chance der Skepsis in Zeiten des Größenwahns

Von Gerhard Mersmann

Derzeit kursiert ein Gedicht von Kurt Tucholsky, veröffentlicht 1930 in der Weltbühne und eine Reaktion auf den Schwarzen Freitag im Jahr zuvor. Bei der Lektüre dieses Gedichtes reiben sich die heutigen Leser die Augen, weil der kritische Geist genau das beschreibt, was wir in diesen Tagen im Auge der derzeitigen Weltfinanzkrise erleben. Den Crash aufgrund der wilden Praktiken mit Leerverkäufen und Derivaten, die Spekulation mit geliehenem Geld und der Hoffnung auf Börsenstürze, um seinen eigenen Schnitt zu machen. Und Tucholsky beschreibt in der ihm eigenen ironischen Weise auch die Ironie der Rettung des Finanzsystems durch staatliche Intervention. Nicht zu Unrecht mokiert er sich über die Sozialisierung von Verlusten und die Privatisierung von Gewinnen.

Hätte man dieses Gedicht vor sechs Wochen aus den Archiven der Weltbühne geholt, man wäre wahrscheinlich als ein ewig Gestriger verschmäht worden. Jetzt ist es aktuell, sozusagen brandaktuell, denn es trifft mit wenigen Zeilen das, was wir gerade jetzt erleben: Eine weltweiter Absturz an den Börsen, der daraus resultiert, dass mit einer Wertüberhöhung von mehr als siebzig Prozent gegenüber dem, was an Waren- und Kapitalwerten überhaupt vorhanden ist, spekuliert wurde und an einem kritischen Punkt das Netz der Illiquidität zerrissen ist.

Als die Krise an der New Yorker Wall Street virulent wurde, wurden die Politiker der Bundesrepublik nicht müde zu beteuern, so etwas sei in Deutschland nicht möglich, weil man hier nicht so irrsinnig und wagemutig spekuliere wie dies in Amerika der Fall sei. Es dauerte keine Woche, und die deutsche Bundesregierung tauchte mit einem Sicherheits- und Sanierungsprogramm auf, das – berücksichtigt man das Kursverhältnis von Euro und Dollar, noch über den siebenhundert Milliarden Dollar der US-Regierung liegt. Kein Wunder, dass sich die Frage aufdrängt, ob hier nicht noch wilder spekuliert wurde, weil die Kapitalmasse an der Wall Street beträchtlich größer als in Frankfurt am Main ist.

Noch verwunderlicher ist die Tatsache, dass die ersten Banken, die nach den offerierten staatlichen Subventionen greifen, die Landesbanken sind, die unter Kontrolle der öffentlichen Hand stehen. Die bayrische Landesbank, quasi ein Derivat derer, die seit Jahrzehnten vorgeben, mit Geld umgehen zu können, griff die ersten fünf Milliarden gleich schon einmal ab. Das sollte die öffentliche Meinung zumindest bewegen, ins Kalkül zu ziehen, dass die staatliche Kontrolle des Finanzwesens wohl nicht der Königsweg sein kann, um halsbrecherische Spekulationen in der Finanzwelt in den Griff zu bekommen.

Hier wie dort, im privaten Bankensektor wie im politischen Finanzmanagement ist ein Phänomen zu beobachten, das als Unzurechnungsfähigkeit aus Größenwahn am besten bezeichnet werden kann. Und die etatistische Intervention zur Begrenzung der Krise wird die Bürgerinnen und Bürger der betroffenen Länder teuer, sehr teuer zu stehen kommen. Da geraten Beteuerungen, die Sparbücher seien sicher, zur nackten und einfallslosen Demagogie. Das Geld wird fehlen, zum Konsum, zur Finanzierung von Infrastruktur und zur Investition in Bildung und Innovation.

Die Krise, der wir gegenüber stehen, birgt allerdings auch eine große Chance: Sie kann dazu führen, dass die Geschädigten kritischer werden und in Zukunft deutlicher bestimmen wollen, was mit ihrem Geld geschieht. Momentan steigen die privaten Tresorkäufe dramatisch, was verständlich ist, aber wohl schon mittelfristig keine Perspektive ist. Auch subventioniert wird hierzulande eine Reihe von Geldinstituten über die Klinge springen, weil es einfach zu viele davon gibt. Und es ist nicht unwahrscheinlich, dass der Genossenschaftsgedanke in neuem Design dazu in der Lage ist, die Freiräume für diejenigen, die der Schweizer Altbörsianer André Kostolany als unseriöse Zocker zu bezeichnen pflegte, deutlich einzugrenzen.

On The Road. The Original Scroll

Fünfzig Jahre nach dem Erscheinen von Jack Kerouacs Kultbuch On The Road kommt eine Version auf den Markt, die durch die Offenlegung der Produktionsbedingungen erst das Lesegefühl vermittelt, das der Autor eigentlich intendiert hat. Kerouac hatte seit Ende der vierziger Jahre an einer Version geschrieben, die auf einer einzigen Rolle zustande kam. Insgesamt fünfzig Meter lang hat er diese Rolle betippt, ohne Absatz, ohne Überschriften und ohne Umbrüche. Auf über dreihundert Seiten fegt das Original durch die rastlose Handlung und vermittelt dadurch das Tempo und den Herzschlag, der sich hinter den Aufzeichnungen verbirgt. Kerouac beschreibt seinen Aufbruch von Ozone Park auf Long Island durch New York, Denver, San Francisco, Los Angeles, zurück nach New York, wieder nach Denver und San Francisco, zurück nach New York, Abstecher nach North Carolina, New Orleans, Chicago, immer wieder New York bis hin zu der langen Reise nach Mexico City. Es ist die Jagd nach dem Glück und der Traum einer immerwährenden Freundschaft, die sich einzulösen sucht in den Gelagen, in denen Alkohol, Marihuana und die freie sexuelle Beziehung zu Frauen das vermeintliche Ticket des Glücks bilden. Durchaus bekannte Persönlichkeiten wie Allen Ginsberg, William Borroughs und Henri Cru sind immer wieder mal mit von der Partie und sie suchen alle ihren Weg heraus aus dem Festgefügten und der Tristesse des Profanen. Aufgrund unterschiedlicher Sozialisation sind die Mittel verschieden, da spielt noch die absurde Poesie eine Rolle, die bewusste soziale Durchmischung und das intensive Ausleben des Jazz. Die tragische Figur in diesem Spiel ist Neal Cassady, Sohn eines Trinkers und Obdachlosen aus Denver, der selbst schon als Minderjähriger in Besserungsanstalten sein Dasein gefristet hat. Cassady taucht irgendwann in den intellektuellen Kreisen im New Yorker Village auf und fragt Ginsberg, wie man das Schreiben lernt. Es entstehen die wilden Reisepläne und alle suchen den Ausweg auf der Straße, dem Freiheitssymbol der amerikanischen Siedlergesellschaft. Ohne Geld trampen sie durch Nächte und Wüsten, tagelang ohne Essen, dann mal wieder Gelegenheitsjobs und außergewöhnliche Lifts mit Typen, die die amerikanische Gesellschaft nicht besser beschreiben können. Kerouac jagt Cassady immer wieder hinterher. Sind sie mal zusammen, zerstört Cassady durch seine Extravaganz und seine Wildheit die schnell entstehenden sozialen Ensembles und wird durch die eine oder andere ahnungslose Frau gerettet. Eigentlich kommt er nie herein in die nach Emanzipation strebende verwegene Gemeinschaft, er setzt die Impulse und wird danach immer wieder ausgesondert und ehe sich das entstandene Ensemble versieht, ist Cassady schon wieder on the road. Kerouac muss beim Einhämmern auf seine Schreibmaschine gewusst haben, dass sie alle scheitern werden, denn aus der original scroll schreit die Sehnsucht nach einer Freundschaft, die auch bei der Auflösung aller gesellschaftlichen Gesetztheiten niemals von Bestand ist. Neal Cassady verliert dabei immer mehr den Verstand und Kerouac räsoniert zunehmend über die Vergeblichkeit des Daseins. Auf einem letzten Trip nach Mexico stürzen sich die Freunde in die letzten Gelage, landen in den Tropen zu einem letzten Auftanz in einem Bordell und durchleben noch einmal die ganze Exquisität der Hoffnungslosigkeit in einer letzten Nacht, bevor sie sich in ihrem klapprigen Ford bis Mexico City schleppen und Kerouac durch ein schweres Fieber handlungsunfähig wird. Cassady reist ab, Kerouac kehrt Wochen später nach New York zurück, wo er als Schriftsteller reüssiert und heiratet. Cassady besucht ihn dort noch mal, ohne zu wissen, warum und reist sprachlos wieder ab zur Westküste. Es ist eine traurige Geschichte, die den Leser dennoch nie loslässt, sie peitscht gleichsam durch alle Venen und durchkämmt die Lebenserfahrung einer ganzen Generation. Sprachlich ist the original scroll gewaltiger und authentischer als alle Versionen, die vorher erschienen. Die Faszination, die Kerouac vermittelt, ist das Ergebnis außergewöhnlicher Literatur, die Größe des Autors bestand darin, dass er das Scheitern antizipierte und dennoch weitermachte, bis es auch bei ihm nicht mehr ging.

Der babylonische Bildungskollaps

Nichts hätte die Irrationalität, den Defätismus und den Depressionskult besser bedienen können als die seit fünf Jahren immer wieder auftauchenden Testergebnisse des OECD-Projects of International Student Assessment, PISA.

Urplötzlich wird die Befindlichkeit einer immer in den Wolken der Hegemonie schwebenden Gesellschaft ins Mark getroffen. Diagnose: Trotz Milliarden, die in die Bildungs- und Schulsysteme gesteckt werden, haben die jungen Menschen, die sie durchlaufen, keine großen Erfolge und sind zudem schlecht qualifiziert. Und, trotz einer über Dekaden nach den Zielen der Chancengleichheit ausgerichteten Bildungspolitik, sind die Chancen für Kinder aus Schichten der sozialen Benachteiligung noch schlechter geworden. Deutschland, die nahezu gesetzte Heimat von Weltmeistern jeglicher Art und Güte, sieht sich seither im unaufhaltsamen Strudel Richtung Mittelmaß, und der Drang, sich dennoch wieder in die Weltspitze mit vorzuarbeiten ist so groß, dass man sich nicht scheut, sich bereits auf der Höhe Mexikos zu wähnen (Baden-Württemberg), während ein anderes konkurrierendes Bundesland (NRW) immer noch auf dem Niveau von Guatemala dahindümpelt.

Und es kam und kommt täglich noch schlimmer, die Mediokrität erfasst alles, was die Nation zu bieten hat: Wirtschaft, Arbeit, Soziales, Bildung, Sport, Kunst, Literatur. Nur in den Bereichen, die zum einen die Seelenlage der Nation betrifft, zum anderen die Politik beschreibt, wird die Mittelmäßigkeit noch unterboten.

Und es könnte gehörig missverstanden werden, wenn an dieser Stelle in dem gleichen Stile weiterfabuliert werden würde. Dann nämlich suggerierten die meisten Leserinnen und Leser zu Recht, es handele sich um das Elaborat einer umgestülpten Depression, die sich nun in Form des Zynismus Luft zu verschaffen suchte.

Mitnichten. Das Leiden an den gegenwärtigen gesellschaftlichen Zuständen ist echt und der Versuch, die vitalen Linien der Krise mit wenigen Strichen vor das Auge des Betrachters zu werfen entspringt dem Wunsch, Menschen aufzuspüren, denen nach wie vor die Energie zur Veränderung zur Verfügung steht.

Eine Diskussion, deren Ziel es sein muss, eine solide Grundlage für eine ordentliche politische Utopie zu schaffen, darf nur mit Kürze und Prägnanz die Gemüter bewegen. Daher sei es erlaubt, nur zwei Bereiche – Bildung und Politik – zu skizzieren, um Widerspruch hervorzurufen und Wallung in die Auseinandersetzung zu bringen.

Mit dem PISA-Schock setzte in der Bundesrepublik eine Diskussion ein, deren Verlauf das Dilemma einer stagnierenden und strategisch nicht mehr fruchtbaren Gesellschaft dokumentiert. Alle in den Bildungskosmos verstrickten Gruppen bringen es seit über fünf Jahren ohne Probleme fertig, die eigenen Historie und ihre kritische Reflexion auszublenden und nach Feldern einer Surrogatkritik zu suchen.
Lehrerinnen und Lehrer sind, jeweils immer nach den eigenen Referenzsystemen, noch nie so engagiert und innovationsfreudig, so emanzipatorisch und zielorientiert gewesen wie in diesen Tagen. Die Kommunen hatten noch nie eine derartige Verantwortung für die gesellschaftlichen Implikationen von Bildungsverläufen wie heute, die Landesbürokratie hat zu keiner Zeit vorher die Stimulanzen für das hoch qualifizierte pädagogische Personal besser geschaffen und mehr für die spirituelle Erbauung dieser Leistungsträger getan. Der Bund war nie liberaler und letztendlich fördernder, wenn es um Bildungsinitiativen ging und die kritische Elternschaft hat die öffentlichen Organe, die für die Organisation und Gewährleistung von Bildung verantwortlich zeichnen, nie besser kontrolliert als heute.

Da ist es schon erstaunlich, dass die Quote derjenigen, die ohne Schulabschluss dastehen, steigt, die Übergänge auf weiterführende Schulen nicht sonderlich hoch sind und diejenigen, die ihre Schule erfolgreich abschließen, nur selten eine berufliche Perspektive geboten bekommen.

Natürlich hängt alles zusammen, und gerade weil es so ist, sollte kein Hehl daraus gemacht werden, dass die Lehrerschaft im Laufe von Dekaden zu einer verbeamteten Spezialklientel mutierte, deren Besitzstandsinteressen von den freigestellten Kolleginnen und Kollegen in den Parlamenten gesichert wurden und auf deren Verpflichtung auf die Schülerschaft kaum noch jemand trotz stärkster Überlegung kommt.

Ebenso wenig verwundert es, dass die Kommunen in einem langen Erosionsprozess ihrer demokratischen Vitalität beraubt wurden. Steuerlich versiegende Hähne sorgen dafür, dass die strategische Aufgabe, sich den regional erforderlichen Bildungsfragen auch programmatisch zu widmen, untergehen in hitzigen Debatten über schulbauliche Maßnahmen, als liege der Wert und die Qualität menschlichen Denkens einzig und allein an architektonischen oder hygienischen Fragen.

Den Irrweg dieser Auseinandersetzungen haben vor allem Elternverbände geebnet, die versuchen, die Entmündigungstechniken der professionellen Politik auf die eigenen Kinder zu übertragen. Da hilft es dann auch wenig, wenn der Bund die Erfordernisse einer groß angelegten Bildungsreform formuliert, zur gleichen Zeit aber das Ruder zu einer nationalen Einflussnahme völlig aus der Hand gibt und dem miniaturaristokratischen Balztanz unserer Kleinstaaten das Wort redet.

Wer sagt, früher sei alles besser gewesen, der wagt sich am besten erst gar nicht in die Redaktionsräume der AKTION. Dennoch soll der Mut nicht fehlen, eine Entwicklung als degressiv darstellen zu können, wenn dies der Fall ist. Das, was sich in den letzten Jahren in der politischen Welt der Bundesrepublik konturiert, ist die Degression von einer interessengeleiteten Entscheidungskultur hin zu einer polyzentrischen Besitzstandsdiffusion und einer systematischen Kastration von Entscheidungspotenzialen.

Das kluge Wort, wonach man die Güte großer Organisationen danach bemessen kann, inwieweit es ihnen gelingt, gute Entscheidungen in kurzen Zeiträumen zu fällen, gerinnt zu Staub auf der Zunge angesichts dessen, was wir zu beobachten haben.

Die Ursache dafür kann anhand dreier Thesen abgearbeitet werden:

Die Expansion der Operationalität

Die Elektronisierung der menschlichen Kommunikation hat keineswegs das eingelöst, was unter dem Label der Emanzipationslogik vermarktet wurde. Freier Zugang zu allen Information, Entprivilegierung der Herrschenden in Bezug auf versteckte Wissensarsenale, freie Vernetzung freier Individuen und Assoziationen, globales Lernen und was immer noch, der Eintritt in eine neue technische Ära der Kommunikation wurde mit einer extravaganten Zunahme von Qualität versprochen.

Die Resultate verhalten sich analog zu den gleichen Wellen von Telefon, Radio und Fernsehgerät, deren Verbreitung ebenfalls unter dem Bildungs- und Aufklärungslogo betrieben wurde, bis die massenhafte Anwendung garantiert war und die repressive und eindimensionale Infiltrierung der vermassten Massen fort entwickelt werden konnte.

Allerdings hat keine der vorhergehenden Informations- und Kommunikationstechnologien derartig verheerende Wirkungen angerichtet wie das simultane Konzert aller Entwicklungsstufen bis zum Internet. Der menschliche Denkapparat hat keine augenscheinlichen qualitativen Verbesserungen erfahren, sondern die sich mehr und mehr durchsetzende Interaktion Mensch – Maschine hat zur Folge, dass die Sozialkompetenz der humanen Interaktionspartner degrediert, die Phantasie paralysiert, der Code restringiert und die syntaktische Kompetenz eliminiert wird.

Vorausgesetzt, und romantische Rekurse seien bitte erlaubt, der Mensch braucht die Fähigkeit, sich in einem sozialen Ensemble zu bewegen, er braucht Ideen, um sich selbst zu verwirklichen, seine Sprache befähigt ihn, komplex zu denken und seine Syntax ist ein ziemlich zuverlässiges Abbild seines Vermögens, logische Interdependenzen und Kausalitäten zu erkennen und zu konstruieren, dann ist der Mensch – Maschine – Dialog eine desaströse Angelegenheit.

Doch damit nicht genug: die scharfe Beobachtung Siegmund Freuds, dass der Mensch mit der kapitalistischen Instrumentalisierung und Verwertung der gegenständlichen Welt zu einer Art Prothesengott mutiere, hat sich durch das Anfixen der Arbeitsindividuen an die Rauschmittel der elektronischen Kommunikation verkehrt. Die Computer erscheinen als die Prothesengötter über die Humanwelt, die Menschen sind zu Anhängseln der Verdinglichung geworden.

Ein Terminus technicus verweist auf die Grandiosität der Enthüllung, der der Standardisierung. Da kann dann immer wieder ein Intermezzo der individuellen Lösung gespielt werden, letztendlich bestimmt der Standard das Terrain humaner Kreativität und dementsprechend sieht das Areal aus: Öde, flach und depressiv.

Mit internalisierten Verhaltensstandards gerüstet, treiben sich die freien Individuen des Servicezeitalters in die spannende Galaxie einer modular vorgestellten Welt, derer sie sich aber leider nicht bemächtigen können, weil sie Intervalle der Netzunabhängigkeit immer kürzer werden und die neuerliche Verlinkung droht, welche wiederum eine Zufuhr an operationaler Pflichterfüllung mit sich bringt.

Der bleibende Eindruck elektronisch oktoyierter Operationalität ist jedoch der der Verflüchtigung. Je mehr „operatives Geschäft“ an den Suchtportalen der neuen Technik erledigt wird, desto oberflächlicher wird die Konzentration, ein quasi ätherisches Hinabsteigen in die semi-bewusste Halbfähigkeit muss als Entree gelöst werden, um die subjektive Erfahrung der Folter zu meiden und das Sedativum ungebremster Dekonzentration konsumieren zu können.

Was wir beobachten, ist eine Gerinnung des Scheins in die harten Formen der Materialität und eine Verflüchtigung realen Seins in die illusionäre Sphäre des reinen Scheins. Menschen, die dieser Transformation ausgesetzt sind, haben keinen Zugang mehr zu den Wegen in eine eigene Identität.

Die Atomisierung des Bewusstseins

Zudem ist die unaufhaltsame Auflösung der tradierten sozialen Zusammenhänge bis dato nicht abgelöst worden von neuen Strukturen, die eine Weiterentwicklung gewährleisten könnten. Alt, fad und wirkungslos ist die Medizin der Konservativen jeder Couleur, durch staatliche Trefferprämien bei der Zeugung von Kindern die antiquierte Form der Familie wieder zu etablierten. In den Metropolen der Republik dominieren die Singlehaushalte die der familiären und das nicht ohne Grund. Weder gibt es Kinderbetreuung ausreichende in den Wohnvierteln, noch am Arbeitsplatz und schon gar keine steuerlichen Anreize, die gewährleisten könnten, sich eine qualitativ ausreichende Betreuung vom freien Markt leisten zu können. Ganztagsschulen werden zwar propagiert, scheitern aber meist an der Finanzpolitik der Landesregierungen oder an den Besitzstandslobbies der Lehrer.

Je höher die Menschen qualifiziert sind, desto schwieriger wird es für sie, sich in familiären Bindungen zu arrangieren. Das, was als die biologisch regenerative Phase für die Gesamtpopulation bezeichnet werden muss, deckt sich mit der Zeit, in der die Absorption im Verwertungsprozess am größten ist. Außer beruflicher Hochleistung und notdürftiger Organisation der Reproduktion ist da nicht mehr viel drin. Sozialkontakte werden zunehmend über das Internet geknüpft und die Halbwertzeiten ihres Bestands sind allenfalls mit der Mandelblüte vergleichbar.

Vereine und kulturelle Zusammenschlüsse klagen über ein Ausdörren, erklärt wird dieser Prozess mit der demographischen Entwicklung, nicht mit dem Arbeitsleben, was dann auch haarscharf am Kern des Problems vorbei geht. Die politischen Parteien besitzen nur noch Attraktion für diejenigen, die entweder beruflich etabliert sind oder es erst gar nicht versuchen, einer bürgerlichen Geschäftsmäßigkeit nachzugehen.

Was bleibt, ist eine rudimentäre soziale Kommunikation, die sich selten nur noch auf einen fundierten Zusammenhalt stützen kann. Die atomisierten Individuen sitzen an ihren elektronischen Schaltstationen, substituieren ihre humanen Sozialbedürfnisse durch Mensch-Maschine Interaktionen und artifizielle Gemeinschaftserlebnisse. Menschliche Gesichter verkommen zu Ikonen des High-Tech, Sprachkompetenz, die in der Lage wäre eine gewisse Wärme zu erzeugen, wird syntaktisch reduziert auf Maschinencodes und das Vokabular mutet zuweilen an wie enigmatisch submarines Blubbern.

Es verwundert kaum, dass die zivilisatorische Kultur des Streits und des Aufbegehrens nur noch in metaphorischen Etüden auftaucht, die von einer kleinen und elitären Gruppe im Dunstkreis des Kulturbetriebs exerziert werden, an der großen Masse aber vorbei gehen. Die soziale Deprivation ist voran geschritten, die Individuen verletzt und vereinzelt, das gemeinsame Ziel nichts anderes mehr als ein Traum aus tiefer Ohnmacht.

Die Unfähigkeit, strategisch zu denken

Wie kann es da verwundern, dass sich das ganze gesellschaftliche Ensemble so schrecklich schwer tut, Entwürfe strategischen Ausmaßes zur Welt zu bringen? Der Blick bleibt introvertiert, asozial und mit viel Glück manchmal retrospektiv. Als Entschuldigung für das Unvermögen, weite Perspektiven zu entwickeln, in denen sich die Menschen, die in der Lage wären, Veränderungen vorzunehmen wieder finden, wird entschuldigt mit der unüberschaubaren Komplexität und Diversität des Seins.

Die Erklärung ist bereits ein Dokument der Mystifikation. Nicht das Sein ist so unüberschaubar komplex und divers geworden, sondern der Schein hat sich ins Millionenfache aufgefächert, er überstrapaziert die kognitiven Sinne, weil er eine kosmische Unergründlichkeit vorspiegelt, die das archaisch soziale Dasein überstrahlt. Topoi wie die von Herrn und Knecht, von Dominanz und Abhängigkeit, von Macht und Ohnmacht, von Selbst- und Fremdbestimmung, von Verwirklichung und Entfremdung sind noch auszumachen an jedem Terminal, in jedem Koordinationsbüro, in jeder Fabrikhalle und jedem Laptop in der Karibik.

Der Rekurs auf eine Reflexion der Befreiung beginnt mit der Ableuchtung des Scheins. Das Surfen durch das vermeintlich brisante Wellenmeer der unkritischen Begriffe, hypertropischen Events und der thematischen unendlichen Verlinkung droht die letzte, gattungsspezifisch unabdingbare Kompetenz zu verstümmeln, die erforderlich ist, um eine voluntative Gestaltung der Lebenswelt bewerkstelligen zu können.

Insofern kollabieren nicht einzelne Subsysteme unserer Gesellschaft, sondern die Grundfunktionen des menschlichen Gedankenapparates drohen zu veröden, wenn wir nicht die Notwendigkeit sehen, uns zumindest von Zeit zu Zeit von den sublimiert geladenen Teilchen einer Kommunikation abzukoppeln, deren Verlauf und Inhalt wir selbst nicht mehr bestimmen.