Archiv für den Monat September 2016

Aleppo: Die Perversion der Entrüstung

Wer ist schon für den Krieg? Und wer findet Gefallen daran, dass die Zivilbevölkerung besonders unter ihm leidet? Die Berichterstattung über die Leiden von Aleppo setzt an dieser weit und zu Recht verbreiteten Haltung an. Sie zeigt die weinenden Frauen, die verstümmelten Kinder und die gebrochenen Männer. Wem sollte es nicht das Herz zerreißen? Oder anders herum, was ist das für ein Mensch, der da nicht tief berührt ist und sich empört gegen diejenigen, die für dieses Leid verantwortlich sind?

Und genau an diesem Punkt bricht die innere Logik derer, die da berichten. Sie stellen das Debakel um die Menschen in Aleppo, stellvertretend für alle anderen in Syrien, als eine Geschichte dar, die vor eineinhalb Jahren einsetzte, als die bösen Russen dem Tyrannen Assad militärisch zur Hilfe eilten. Der Krieg in Syrien dauert nur schon ein wenig länger, genau genommen fünf Jahre, er begann, als der so genannte arabische Frühling ausbrach. Da sahen auch viele Syrer ihre Chance, aus einem autokratischen Land eine Demokratie zu machen, oder zumindest eine Gesellschaft mit mehr Freiheit und Toleranz.

Das Pech der syrischen Opposition war es, dass die Gelegenheit, etwas zu verändern, auch von den USA, denen Assad ein zu unsicherer Kantonist war im Spiel um Pipelines und Öl, so gesehen wurde. Deswegen begannen die USA mit militärischen Operationen in Syrien. Und das Pech der syrischen Opposition war es, dass Hegemonialkräfte in Saudi-Arabien begannen, in für sie bewährter Weise Terrorkommandos nach Syrien zu senden, die dazu beitragen sollten, Assad zu stürzen und damit den Iran vom Mittelmeer zurück zu drängen. Und es kamen noch andere Faktoren hinzu, die alles nur noch komplexer und komplizierter machten und den Syrern, die ihr Land verbessern wollten, die Totenfratze vor das Gesicht hielten.

Es ging weder den USA noch dem Rest der NATO jemals um die Interessen derer, die damit begonnen hatten, gegen Assad zu opponieren. Sonst wären nicht tonnenweise Bomben gefallen, sonst hätte man den IS nicht unterstützt. Von 2011 bis heute haben die USA mehr als 20.000 Luftangriffe auf syrisches Gebiet gefahren. Und noch 2015, als man in Washington Aleppo als den Ort der Entscheidungsschlacht gegen Assad erklärte, warfen US-Flugzeuge ihre Bomben gezielt auf Kraftwerke und Wasserwerke in Aleppo, um das Leben lahm zu legen und Seuchenverbreitung zu begünstigen. Davon war nichts zu sehen oder zu hören in den Medien, es gab keine Sondersitzungen des Weltsicherheitsrates, in denen die Taten verabscheut wurden und die Verletzung der Menschenrechte beklagt wurden.

Wieder feiert die Doppelmoral fröhliche Urstände. Die Heuchelei hat ein Ausmaß angenommen, dass die Frage angebracht ist, ob man verzweifelter sein soll über die Bilder der Leidenden in Aleppo oder den Ekel gegen die frivolen Moralisten, die das Elend kalten Herzens dazu benutzen, um fleißig an einem neuen Feindbild zu arbeiten, ein Feindbild mit dem Namen Russland. Nur zur Erinnerung: Feindbilder sind dazu da, um Menschenmassen emotional gegen ein Land aufzuladen. Feindbilder zu schaffen ist eine Maßnahme der gezielten Kriegsvorbereitung.

Die besondere Perversion derer, die sich zu den besten Sendezeiten über das menschliche Leid in Aleppo beklagen, ohne die wahre Geschichte dieses Krieges zu erzählen, besteht darin, dass sie schnurstracks auf Verhältnisse hinarbeiten, die sich von den Bildern in Aleppo nicht unterscheiden. Kriegstreiber, die über das Antlitz des Krieges klagen…

 

 

Vom Bumster zum UMA

Zuletzt schaffte es der Begriff UMA sogar in eine deutsche Comedy-Show. Der professionelle Harlekin gefiel sich in der Rolle, einen Polizisten, der von UMAs sprach, als lallenden Volltrottel darzustellen. Was sich hinter dem missglückten Witz verbirgt, ist jedoch in vielerlei Hinsicht eine der traurigen Geschichten der Globalisierung. Der Begriff UMA steht im Deutschen für den Zustand des „unbegleiteten minderjährigen Ausländers“. Sein Status wurde mit der Immigration im letzten Jahr erst als Massenphänomen erkannt und hat dazu geführt, dass sich vor allem die Kommunen mit ihren Jugend- und Sozialämtern um diese Gruppe kümmern. Es handelte sich vor allem um heranwachsende Männer, die aus den Krisengebieten geflohen waren, weil sie die Kriegsperspektive erschreckt hatte. Es kann mit Fug und Recht davon gesprochen werden, dass die Gruppe der UMAs zeigen wird, ob ein Land dazu fähig ist, erfolgreich zu integrieren, denn einfach wird es nicht sein bei den mitgebrachten spezifischen Erfahrungen.

Nun, in der zweiten und numerisch abgemilderten Bewegung von Immigration, hat sich auch der Charakter der UMAs geändert. Sie kommen nicht mehr aus Syrien oder dem Libanon, sondern zumeist aus Gambia, Kenia und Tunesien. Und mit ihnen taucht ein Begriff auf, der ihre frühere Tätigkeit charakterisiert. Es handelt sich um sogenannte Bumster (eigentlich Schnorrer), die in den obigen Urlaubsländern im Tourismus eine Rolle spielen. Genauer gesagt, es handelt sich um minderjährige junge Männer, die für die zumeist europäischen reiferen Frauen Sexdienste anbieten. Die Entlohnung erfolgt in der Regel in Form von Kost und Logis und kleineren Geschenken, nicht durch Geldzahlung. Bei Mädchen hätte der Begriff des Sextourismus längst die Runde gemacht und der moralischen Entrüstung könnte niemand mehr entgehen. Bei den Bumstern zählen die Zusammenhänge um den Sextourismus der europäischen Frauen noch zum Geheimwissen.

Die momentan hier ankommenden minderjährigen jungen Männer aus Gambia, Kenia und Tunesien sind zumeist mehrsprachig. In der Regel beherrschen sie sehr gut das Niederländische und Englische, aber auch sehr passabel das Deutsche. Abgesehen davon, dass dieser Umstand etwas über die Herkunft der ehemaligen Kundinnen aussagt, ist es nicht sonderlich schwierig, sich auszumalen, was die Bumster-UMAs machen werden, um zu Geld zu kommen. Denn UMAs dürfen natürlich hier noch nicht arbeiten. Die Bedürfnisse, die sie haben, und die Kenntnisse und Fähigkeiten, über die sie verfügen, werden unweigerlich dazu führen, was sie bereits auch schon kräftig tun: Sie werden sich an hiesige Frauen verkaufen, und wenn es geht, diesmal für richtiges Geld. Dadurch werden sie sofort zu Kriminellen, was dazu führen wird, dass sie entweder abgeschoben werden oder in einen Teufelskreis von Illegalität und Kriminalität geraten.

Einmal abgesehen von der bornierten Tabuisierung des Sexgeschäftes überhaupt, muss der Gedanke erlaubt sein, dass die Bumster ein prächtiges Indiz dafür sind, wie eine feministische Diskriminierung funktioniert. Weder haben die Bumster den Status von Opfern, noch haben die Freierinnen von Gambia den Status von verabscheuungswürdigen Schweinen wie z.B. ihre männlichen Kollegen in Bangkok. Da scheint etwas gehörig schief zu laufen auf beiden Seiten der Wahrnehmung: Entweder sollte das Sexgeschäft in toto legalisiert oder mit der gleichen Konsequenz nach beiden Seiten bekämpft werden. Letzteres ist allerdings noch nie gelungen. Und den markantesten Beweis dafür liefert ausgerechnet der Feminismus.

Systemrelevanz und Eigeninteresse

Der Begriff „System“ ist im Deutschen in hohem Maße kontaminiert. War es doch seit der klassischen deutschen Philosophie ein unbedingtes Muss, gleich ein ganzes, in sich abgestimmtes System begründen zu müssen, um sich der Anerkennung sicher zu sein. Spätestens seit den Tagen Kants und Schellings, Fichtes und Hegels ist es Pflicht, ein ganzes Haus der Erkenntnis zu bauen, auch wenn es nur um einen im Tageslauf winzigen Aspekt gehen mag. Das Momentum des großen Systems schwebt über allem und es gibt wahrscheinlich kaum ein Volk, das sich dem so verpflichtet fühlt wie die deutsche Kohorte, die bis in die entlegensten Winkel ihrer Bürokratie die Kohäsion des großen Systems spüren will. Nichts könnte dem angelsächsischen Pragmatismus ferner stehen als die Systemophilie der teutonischen Denker.

Eine kurze Episode gab es, da war dann alles anders. Da wurde die Demokratie als Staatsform mit dem Begriff System gleichgesetzt und die Kritik an diesem politischen Gebilde nannte sich fortan Systemkritik. Vieles an der Kritik, mal von rechts und mal von links geäußert, hatte sicherlich Substanz, nur ein Gegenmodell, das die Fehler aufhob, war nirgends zu sehen als in den Köpfen derer, die nicht wussten, was sie wollten, aber die sich sicher waren, was sie nicht wollten. Die nihilistische Prämisse der Systemkritik führte bekanntlich in die Katastrophe.

So ist es kein Wunder, dass seitdem der nahezu erotische Drang zum Gesamtsystem nur im Unterbewusstsein vieler Zeitgenossen existiert, während der offene, transparente Diskurs das Konstrukt neuer Systeme eher meidet. Und so kam es, dass mit der soziologischen Systemtheorie, die erst Jahrzehnte nach der Katastrophe den Versuch machte, das System als Ding in seiner Gesetzmäßigkeit zu analysieren, eine andere Disziplin erschien, die sich systemische Beratung nannte und therapeutischen Ursprung hatte.

Warum das alles? Weil es illustriert, dass das manische Streben nach Ganzheitlichkeit eine lange Tradition in diesem Land hat, dass das para-religiöse Verhältnis zum „System“ seine rationale Durchdringung verhindert, dass das metaphysische Verhältnis zum System in die Katastrophe führt, dass selbst destruktive Gebilde mit dem Signum der Systemrelevanz überleben und dass eine Regenerierung der Geschädigten nur in einem therapeutischen Rahmen geschehen kann. Das ist genug, um einen anderen Umgang mit „Systemen“ zu begründen.

Der berühmte Satz des chinesischen Reformers Deng Hsiao Ping, ihm sei egal, ob eine Katze schwarz oder weiß sei, Hauptsache, sie fange Mäuse, ist ein nahezu königliches Angebot des Pragmatismus, durch einfache Betrachtungsweisen das Seichte und Metaphysische der Systemrhetorik zu entzaubern. Analog dazu helfen die Fragetechniken, derer sich immer wieder Bertolt Brecht bediente, wenn er dem System der Herrschaft den Garaus machen wollte. Wer hat welches Interesse? Wem nützt es, wenn etwas ist, wie es ist? Wem geht es schlecht? Wer will nicht, dass sich die Verhältnisse ändern?

Das alles sind banale Fragen, aber ihre Banalität dokumentiert die noch größere Banalität des Systems, des schlechten Systems natürlich, denn es gibt auch gute. Das schlechte System kann nur aufrechterhalten werden mit ungeheurem Aufwand. Mit Aufwand der Steuerung, mit Aufwand von Kommunikation, mit Gewalt. Dem gegenüber steht die einfache, aber viel bestechendere Plattform der eigenen Interessen, die nicht belastet sind von Systemrationalität. Auf diese Interessen zu hören, hat etwas berauschend Befreiendes.