Archiv für den Monat April 2014

Die gaucksche Normalverpeilung

Es ist abenteuerlich. Während man sich hierzulande über die Verstöße gegen diplomatische Gepflogenheiten seitens Russlands echauffiert, reist das Staatsoberhaupt der Bundesrepublik in die Türkei und zeigt der Welt, was er unter Diplomatie versteht. Die Art und Weise, wie er dies tat und die Anlässe, die er wählte, sind beredte Dokumente für ein Paradigmenwechsel in der deutschen Politik. Der Schwenk von einer säkularen Strategie in der internationalen Politik zu einer irrationalen Kreuzfahrermentalität ist vollzogen. Das, was der Priester aus Rostock in der Türkei abgezogen hat, ist dazu geeignet, die Bundesrepublik international zu isolieren. Und das zu Recht.

Der erste Anlass war ein gut gemeinter: Der Präsident besuchte ein Flüchtlingslager an der syrischen Grenze und lobte die Türkei für die zweifelsohne großen Anstrengungen ihrerseits, um den Flüchtlingen aus dem kriegerischen Nachbarland zu helfen. Doch dann machte Gauck sich, von allen guten Geistern verlassen, bei einem Besuch der deutschen Truppe vor Ort, die zum Nato-Krisenmanagement gehört, über Russland her und klage dessen Doppelzüngigkeit und Zynismus angesichts der Situation in der Ukraine an. In der Türkei! Vor einer Formation des deutschen Militärs! Eine Anklage gegen Russland! Ohne Vorlage von Beweisen! Das sind „diplomatische“ Akte, die das Zeug haben, in tödliche Spiralen zu führen. Chapeau!

Dann, einen Tag später, hat Gauck den nächsten Auftritt, in einer Universität, vor handverlesenen Studenten, hält er einen Vortrag über das Wesen von Demokratie, über die Rolle einer kritischen Presse und über die Bedeutung einer unabhängigen Justiz. Er, der Mann aus der zweiten deutschen Diktatur in einem einzigen Jahrhundert, fährt mal eben zum Bosporus und erklärt den zurück gebliebenen Anatolen, wie die Demokratie funktioniert. Chapeau!

Dass dieser Mann ins Amt gekommen ist, weil sein aus Eitelkeit verklebter Vorgänger bei seinen Auftritten nur noch kollektiven Schmerz auslöste, macht ihn tatsächlich nicht automatisch zu einer qualitativ besseren Alternative. Vielmehr ist die Nominierung Gaucks zu einem Indikator für eine politische Entwicklung in der Bundesrepublik geworden, die die Schwelle zu kriegerischen Handlungen absenkt. Dieses hat mit der Moralisierung der internationalen Politik zu tun. Im Mittelpunkt stehen tatsächlich nicht mehr staatliches Handeln, die Verfolgung nationaler Interessen und die Respektierung des Prinzips der gegenseitigen Nichteinmischung, sondern die Strategie der Belehrung, der Skandalisierung und notfalls der Intervention. Beide Auftritte Gaucks in der Türkei sind ein beredtes Dokument für diese These und in der Beschreibung möglicher Konsequenzen scheint nichts mehr übertrieben zu sein.

Vergegenwärtigt man sich die derzeitigen, angesichts des einhundertjährigen traurigen Jubiläums der Entstehung des I. Weltkrieges geschriebenen neuen Geschichtsbücher und Dokumentationen, fragt man sich schon, ob wir es mit einer kollektiven Amnesie zu tun haben, dass kein Aufschrei durchs Land geht, wenn der Präsident derartig Amok läuft oder der Außenminister ganz nonchalant darüber plaudert, im Falle der Ukraine sei man in eine unvorhersehbare Sache geschliddert. An diesem Wesen wird kein Land genesen. Nicht das eigene, und andere schon gar nicht.

Als der türkische Ministerpräsident Erdogan vor zwei Jahren Auftritte in Köln und Berlin hinlegte, bei denen er vor den dortigen türkischen Communities davor warnte, sich im Gastland zu assimilieren, da sprachen viele nicht zu Unrecht von einer groben Verletzung diplomatischer Gepflogenheiten und von einer Attitüde imperialer osmanischer Phantasie. Nun, nach Gaucks Auftritt in der Türkei, könnte man von einer imperialen deutschen Geste sprechen. Oder vielleicht doch nur von einer typisch gauckschen Normalverpeilung? Wären da nicht so fatale Konsequenzen!

Die Russen

Bei uns in der Stadt, am Rande des Ruhrgebiets, mit der nördlichsten Zeche, gab es eine Gruppe von Männern, die überall nur die Russen genannt wurden. Anfangs dachten wir, d.h. meine Freunde und ich, es handele sich um eine der üblichen Beschimpfungen, mit denen man sich in dieser sehr unterschiedlichen Gesellschaft begegnete. So gab es ja auch den Ausdruck Mexiko, oder die Kolonie für die Wohngebiete der Bergleute im Süden. Bei vielen Bürgern polnischer Herkunft, von der es zahlreiche gab, sprach man von Krakusen, andere wiederum wurden als Hottentotten bezeichnet. Wie zu sehen ist, war unser Pflaster nicht unbedingt von gegenseitiger Zuneigung geprägt. Da konnte umgekehrt auch schon einmal passieren, dass ein Pfarrer aus dem Viertel der Pfahlbürger im Norden in der Zechensiedlung eine Abreibung bekam, weil sich herumsprach, wie selbst und gerade die Klerikalen in den gehobenen Schulen der Stadt die Nachkommen der Püttrologen, wie die Kinder der Bergarbeiter dort verächtlich genannt wurden, behandelten.

Doch die Russen, von denen immer wieder die Rede war, erschlossen sich uns nicht so gleich. Zum einen waren sie keine Rand-, sondern Hauptfiguren, zum anderen sprach man oft von ihnen mit unverkennbarer Abneigung, aber nicht ohne Respekt. Von ihren Namen her konnten es keine Russen sein, von ihrer sonstigen Herkunft auch nicht. Im Laufe unserer aus Neugier betriebenen Recherchen wurde uns mit der Zeit bewusst, worum es sich bei dieser Geschichte handelte. Es ging nicht um Herkunft, sondern um Politik. Eines Tages, als wir uns wieder einmal als politisch interessierte Schülergruppe im Nebenraum des Centro Obrero Espangnol trafen, um Texte zu lesen, die es in der Schule nicht gab, kam ein Freund ganz aufgeregt und erzählte uns, der Franz Z., auch liebevoll in Bergarbeiterkreisen Fränzken genannt, habe uns alle in seinen Garten eingeladen und sei bereit, mit uns ein bisschen zu plaudern. Wir ließen uns das nicht zweimal sagen und gingen zu dem angegebenen Termin dorthin.

Franz Z. war tatsächlich ein kleiner Mann, den man geneigt war Fränzken zu nennen, bevor man ihn erlebt hatte. Wie ein Kumpel kam er daher, mit breitem Lachen und klopfte jedem von uns auf die Schulter. Er hatte einen grauen Bart, eine rote Knollennase und trug eine altmodische Brille. Er lud uns ein, auf den alten Holzstühlen im Garten Platz zu nehmen, während seine Frau Erna Schinkenschnittchen verteilte. Franz Z. selbst wies auf den Bierkasten mit der Order: Bedient euch. Wir fühlten uns gleich wohl und schon waren wir in einem Gespräch, in dem uns das Russentum unseres Gastgeber deutlich wurde.

Franz Z. war anfang der dreißiger Jahre zum Betriebsratsvorsitzenden der Zeche gewählt worden. In dieser Funktion war er einer der mächtigsten Männer der Stadt. Mit der Machtübernahme der Nazis wurde alles viel politischer, wie Franz uns erklärte, obwohl er schon immer Kommunist gewesen sei und auch als dieser sterben werde. Mit den Nazis sei es richtig gefährlich geworden. Aber die Bergleute wären alle gegen Hitler gewesen und deshalb seien die Aktionen auf der Zeche alle gegen das neue Regime gerichtet gewesen und hätten kaum noch wirtschaftliche Zielsetzungen gehabt. Eines morgens dann hatte ein LKW auch vor Franz. Z.s Haus gehalten und ihn mitgenommen. Z.s Angaben damals im Garten der Zechensiedlung klingen bis heute lakonisch: Na ja, Jungs, da gibt es nicht viel zu erzählen, das Übliche eben. Verhöre, Schläge, Abtransport zum KZ, Zwangsarbeit, Verhöre, Folter.

Franz Z. war dann eine abenteuerliche Flucht gelungen. Und im Gegensatz zu vielen Intellektuellen floh Franz Z. in die Sowjetunion. Dort mochte man ihn auch nicht unbedingt in Regionen, wo die deutsche Armee auftauchen konnte, obwohl er über alle Zweifel erhaben war. Franz Z. verschlug es als Facharbeiter bis hinter den Ural, wo er, nach eigenen Worten, Raketen gegen Hitler baute. Auf die Sowjetunion ließ er nichts kommen und er sprach ausschließlich vom Großen Vaterländischen Krieg.

Nach dem Krieg tauchte Franz Z. plötzlich wieder in unserer Stadt auf, abgeklärt und welterfahren. Die Bergleute begrüßten ihn nicht nur warmherzig, sondern sie wählten ihn auch wieder zum Betriebsratsvorsitzenden. Seitdem sprach man in unserer Stadt von ihm nur als dem Russen. Und es stellte sich heraus, dass Franz. Z. nicht der einzige war, der vom Ruhrgebiet in die UdSSR geflohen und nach dem Krieg zurückgekehrt war. Als es uns dämmerte, warum also immer wieder von den Russen die Rede war, wurde zum Bier bereits ein Schnaps mit dem verwegenen Titel Flöz Sonnenschein gereicht. Franz Z., nun Rentner, freute sich über soviel Interesse seitens der jungen Leute. Und wir staunten, wieviel Weltgeschichte sich doch in dem aus unserer Sicht gottverlassenen Nest abgespielt hatte.

Weltschmerz, Nikotin und Psychoanalyse

Robert Seethaler. Der Trafikant

Vier Romane, drei Drehbücher, eine Anthologie und verschiedene Rollen als Schauspieler, Wohnsitze in Wien und Berlin. Der 1966 in Wien geborene Robert Seethaler bringt vieles mit, was unter dem neuzeitlichen Terminus eines Multitalents figurieren könnte. Letzterer steht allerdings nicht nur für die Fähigkeit, sich in verschiedenen Genres beweisen zu können, sondern auch für eine verlorene Gründlichkeit und Tiefe, die die Flexibilität einfordert. Das trifft allerdings nicht auf Robert Seethaler zu, den das deutsche Publikum auch als Gerichtspathologen in der Krimiserie Ein starkes Team bereits als Edelkomparse zur Kenntnis genommen hat. Sein neuer Roman Der Trafikant, seinerseits im Schweizer Edelverlag Kein & Aber veröffentlicht, hat ihm wahrscheinlich zum endgültigen Durchbruch als ernst zu nehmendem Schriftsteller verholfen.

Es kommt alles sehr leicht daher, in dem Roman, dessen Handlung im Jahre 1937 spielt und dessen Protagonist ein Junge vom Land ist, der aus Armut der Mutter vom Salzkammergut in die Trafik, d.h. das Tabak- und Zeitschriftengeschäft eines Bekannten nach Wien geschickt wird, um dort zu leben und zu lernen. Damit ist auch bereits das Motto des Romans genannt. Es geht um den Prozess der Großstadtsozialisation eines liebenswürdigen Landeis, das neben den Justierungsprozessen ins Erwachsenenleben Zeuge und Mitleidender wird bei der Faschisierung der österreichischen Gesellschaft, bei ihrem Abgleiten aus einer tradierten, vielleicht auch durch Nonchalance getriebenen Toleranz in eine Form der Verkommenheit und Barbarisierung, die aus dem heutigen öffentlichen Bewusstsein der rot-weiß-roten Rasse längst eliminiert wurde.

Seethalers narrative Konzeption ist bemerkenswert: Ein Strang führt vom Land in den Wiener Moloch mit seiner Zeitverwirrung, einer skizziert die Existenz des eigentlichen Trafikanten als den längst kleinbürgerlich etablierten Immigranten vom Balkan und einer den zum Bildungsbürgertum gehörenden Professor Sigmund Freud, der Kunde im Tabakladen ist und zwischen dem und dem Lehrling sich eine Beziehung entwickelt, die als Metapher gelten kann für die Tragik einer untergehenden Epoche.

Die Beziehung der beiden steht für die Dialogfähigkeit von Welten, wie sie unterschiedlicher nicht sein konnten. Die soziale Permissivität des mit positiver Konnotation genannten Ancién Regime des Wiens der zwanziger Jahre tanzte in den Tagen der Schuschnigg-Regierung bereits den Makabré. Die Dialoge zwischen dem Lehrling Franz Huchel und Professor Sigmund Freud sind große Literatur. Da fragt der einfache Landmensch den Intellektuellen nach einer Welterklärung, die dieser nicht geben kann und will. Da wird versucht, das große Geheimnis der menschlichen Beziehungen zu lüften, indem der Gelehrte mit kubanischen Zigarren, entwendet aus dem Laden, bestochen werden soll. Letzterem gelingt es aber, mit der Magie des eigenen Zuhörens den Erkenntnisprozess des ersteren einzuleiten und zu fördern und somit die Theorie seiner therapeutischen Schule nicht zu erklären, sondern fühlbar zu machen.

Der Roman ist eine Referenz an die Qualität menschlicher Bindungen, eine Hommage an die Loyalität aus einem humanistischen Urgefühl. Dokumentiert wird dieses nicht nur durch die Dialoge zwischen Franz und Freud, sondern auch seine wunderbare Korrespondenz mit der Mutter auf dem Land sowie die wortlose Übereinkunft mit dem Trafikanten, der mit dem Anschluss Österreichs an das nationalsozialistische Deutschland genauso untergeht wie Franz, der sein Erbe rasend schnell einzulösen bereit ist, will er keinen Sinn mehr sieht in einem Leben ohne Moral. Freud, der Greis, quält sich noch ins englische Exil. Was bleibt, ist ein Wien, das nur noch in der Erinnerung existiert. Das Unwiederbringliche findet in diesem Roman eine prächtige Gestalt.