Archiv für den Monat Dezember 2010

Der Lauf der Dinge

Es gehört zu den wenigen kollektiven Ritualen der Menschheit, sich mit dem Lauf der Dinge zu beschäftigen. Dieses geschieht zumeist nach bestimmten Zyklen, die das Werden und Vergehen beschreiben. In Kulturen, die den Tod nicht ausklammern, werden diese Zyklen ganzheitlich beschrieben. In unserer, von der cartesianischen Logik geprägten Welt, nehmen wir schlicht das Maß des Kalenders und schließen das Jenseits aus unserer Betrachtung aus. Dieses ist festzustellen, nicht zu beklagen, auch wenn Kulturen, die auch das Jenseitige der Existenz reflektieren, letztendlich reicher zu sein scheinen.

Dennoch, zum Ende eines Jahres die vergangene Sequenz noch einmal Revue passieren zu lassen, ist eine gute Sache. Sie ermöglicht uns, vor allem bei der ungeheuren Geschwindigkeit des Alltäglichen, ein Bild davon zu bekommen, was tatsächlich zählte und wichtig war. Wenn wir uns dieser Auswahl hingeben, merken wir sehr schnell, dass unsere eigene Entscheidung sehr von dem abweicht, was die Medien zu solchen Anlässen für uns vorbereiten. Uns wird deutlich, wie sehr doch unser individuelles von dem täglich kollektiven Bewusstsein abweicht.

Da sind Menschen, mit denen wir viele Jahre zusammen durchs Leben geschritten sind, die nicht mehr bei uns weilen, da gibt es Lieder, deren Sänger nicht mehr sind und Bücher, deren Autoren endgültig die Feder zur Seite gelegt haben. Nachbarn sind umgezogen, Freunde sind in andere Länder gezogen. Andererseits sind neue Menschen hinzugekommen, deren Horizonte und Erfahrungen uns bereichern, Freundschaften, die aufgrund unterschiedlicher Lebensumstände viele Jahre ruhten, konnten reaktiviert werden, im Umfeld wurden neue Familien gegründet und das Viertel, in dem wir wohnen, erhielt durch Zuzug neue Impulse.

Was bleibt ist das große Spiel der Mächte, von Menschen gemacht, die irdischer und fehlbarer nicht sein könnten, die aber ihre Existenz mit Haut und Haaren diesem Spiel gewidmet haben und von dem profanen Lauf der Dinge nichts mehr erfahren. Und wie immer ärgern sich die meisten Zeitgenossen über die Mächtigen und Großen, wobei sie natürlich Recht und Unrecht zugleich haben. Denn unser aller Sein ist eine Verpflichtung. Jeder von uns trägt Verantwortung. Und alles, was wir in unserem kleinen Umfeld zum Guten zu bewegen vermögen, zählt mehr in der Bilanz als fallende Staaten oder gerettete Banken.

Es ist gut, zum Ende eines Jahres die Steinchen zu zählen. Wir sehen, was wichtig ist und bekommen einen schärferen Blick für die Zukunft. Und die sieht anders aus als beschworene Programme. Die Lebenspraxis zeigt, wie sinnvoll unser Dasein sein kann. Es nicht zu nutzen ist ein Vergehen. Uns muss bewusst sein, dass wir nur Gast sind auf dieser Erde. Unsere Zeit ist begrenzt, alles andere ist eine Fieberphantasie von Prothesengöttern.

Allen, die auch in Zukunft etwas bewirken wollen, Freiheit und Glück!

Columbo in Sankt Petersburg

Fjodor Dostojewski. Verbrechen und Strafe

Sankt Petersburg im Jahre 1860: Eine aus dem Nichts, genauer gesagt nach dem Willen eines Zaren in einem Sumpfgebiet entstandene Metropole. Umgeben von einer ins Unendliche fließenden Agrargesellschaft konzentriert sich hier die politische Macht, der Reichtum und das Kapital. Wenn es irgendwo im weiten Russland Kapitalismus gibt, dann hier an der Newa. Hunderttausende verarmte Landsklaven zieht es ebenso in die Stadt wie wissenshungrige Studenten, die sich über die Bildung aus der Armut befreien wollen. Jenseits der Herrschaftshäuser drängen sich die Besitzlosen in Holzhütten, die hygienischen Bedingungen eine Katastrophe, die Armut in ihrer bestialischsten Form, die Prostitution als ehrlicher Broterwerb und Massenphänomen.

In diesem Milieu strandet Raskolnikow, der Held. Jurastudent, klug, jung. Er strebt eine gerechte Welt an und findet sich in der Hölle wieder. Schnell macht er die bösen Elemente aus. Und kaum hat er eine gierige Pfandleiherin als den Ausbund menschlicher Degenerierung ausgemacht, schmiedet er den Plan eines perfekten Mordes. Mit cartesianischer Logik geht er vor, erschlägt wie geplant das Monster mit einem Beil und gleichsam noch eine ungewollte Zeugin, eine intellektuell eingeschränkte Schwester des Opfers.

Nach der kalten cartesianischen Tat quält Raskolnikow das Gewissen. In seiner wachsenden Pein gesteht er alles der Prostituierten Sonja, deren Name im deutschen nicht zufällig Traum bedeutet. Die verinnerlichten Werte treiben den Logiker in das Feuerbad der Schuld. Immer wieder übermannt ihn das Fieber. Raskolnikow wird zerrieben in dem Konflikt zwischen Vernunft und Mythos. Letztendlich obsiegen die ethisch gesetzten Werte.

Der ermittelnde Staatsanwalt, der mit seiner Unschuldsmiene, seinen zirkulären Fragetechniken und selbst in seinem Outfit die Regievorlage für den späteren Columbo gedient hat, führt das Unbewusste heim ins Geständnis. Mit großer Empathie und seiner eigenen Distanzierung von einem Kraftfeld, in dem Schuld eine Rolle spielt, gelingt es ihm, Raskolnikow zu suggerieren, dass es eine Logik gibt, die frei ist von seelischer Pein. Allerdings nur bis zu dem Zeitpunkt, an dem der Deliquent im Netz zappelt. Danach geht die Reise nach Sibirien, wo erst Gefühle wie Reue aufkommen können.

Dostojewskis Wurf, der ebenfalls sehr modern als Fortsetzungsroman in einer Tageszeitung begann, nebenbei mit Schuld und Sühne verheerend ins Deutsche übersetzt wurde und fast einhundert Jahre eine vernünftige Interpretation verhinderte, ist eine grandiose Inszenierung eines Universalthemas der Moderne. Der Konflikt zwischen Sach- und Wertorientierung, zwischen cartesianischer Logik und christlichem Werteensemble bestimmt Erfolg und Misserfolg der handelnden Subjekte. Nicht der Rote Oktober, sondern dieser Roman ist das Modernste, was Russland je hervorgebracht hat.

Indikatoren für den Wandel

In seinem ebenfalls erfolgreich verfilmten Roman Der Eissturm, erschienen 1996, beschrieb der Autor Rick Moody die Emanzipationsversuche des Mittelstandes in den wohlhabenden Neuenglandstaaten. Um den Jüngeren zu erklären, wie sie sich die siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts vorzustellen hätten, zählte Moody, quasi als Einleitung, auf einer halben Seite auf, was es damals noch nicht gab:

Keine Anrufbeantworter. Keine Rückruffunktion. Keine Fernabfrage. Keine CD-Player, keine Laserdiscs, keine Holographie, kein Kabelfernsehen, kein MTV. Keine Multiplex-Kinos, keine Textverarbeitung, keine Laserdrucker, keine Modems. Keine virtuelle Realität. Keine Einheitliche Feldtheorie, kein Vielfliegerbonus, keine elektronische Benzineinspritzung, kein Turbo, kein prämenstruelles Syndrom, keine Rehabilitationszentren, keine Erwachsenen Kinder von Alkoholikern. Keine Ko-Abhängigkeit. Kein Punkrock, kein Hardcore, kein Grunge. Kein HipHop. Kein erworbenes Immunschwächesyndrom, kein HIV, keine mysteriösen, aidsähnlichen Krankheiten. Keine Computerviren. Keine Klone, keine Gentechnologie, keine Biosphären, keine Farbkopierer, keine Tischkopierer und schon gar keine Fernkopierer. Keine Perestroika. Kein Platz des Himmlischen Friedens.

Einmal abgesehen von den leichten ironischen Anspielungen durch die Einstreuung kultureller Innovationen könnte man ad hoc die Aufzählung aus unserem heutigen Blickwinkel, der wiederum eineinhalb Jahrzehnte später anzusiedeln ist, vieles als überaltert entfernen und durch Neues ersetzen. Es würde allerdings keine neue epistemologische Dimension eröffnen. Die vielen kleinen und großen technischen Neuerungen, welche zweifelsohne unsere direkte Lebenswelt beeinflusst und verändert haben, sind genau das, womit wir in der Regel den Fortschritt beschreiben. Die wirklich spannende Frage ist jedoch, inwiefern die veränderte Lebenswelt die Lebensverhältnisse vermocht hat zu ändern. Sind die politischen Verhältnisse, die sich hinter diesen großartigen Perioden des technischen Wandels verbergen, genauso radikal verändert worden wie der Umgang mit Kabeln oder den Depots von Nachrichten?

Stellen wir uns diese Fragen, so können wir spontan die Frage beantworten, ob der technische Wandel zur Emanzipation neuer Schichten beigetragen hat. Leider müssen wir die Antwort verneinen, weil der Zugang zu Wissen nicht das Wissen vergrößert und der Besitz von Wissen nicht zum Zugang zur Macht verholfen hat. Ganz im Gegenteil, neben der sozialen Stigmatisierung zunehmend größerer Sozialkohorten ist der gleichzeitige Verfall von Bildung zu beklagen, weil die Sozialstrukturen nicht mehr genügend Halt und Orientierung zu vermitteln in der Lage sind.

Bildung, soziale und materielle Teilhabe jedoch müssen nach wie vor als Indikatoren für den Wandel angesehen werden, weil sie darüber entscheiden, ob die soziale Emanzipation der Ausgegrenzten voranschreitet. Die Reduzierung der Kriterien auf technische Mittel hingegen ist eher ein böses Mystifizierungsmanöver, weil es von den sozialen Dimensionen des Wandels ablenkt. Zudem ist es für die, die es propagieren, mehr als lebensgefährlich, weil die Akzeleration die Propagandisten einzelner Instrumente immer schneller von der Bildfläche fegt. Aber das soll nicht unser Problem sein.