Archiv für den Monat November 2014

Der Tod des Flaneurs

Das Bild derer, die die Welt in sich aufnehmen und auf sich wirken lassen, um ein Begriff von ihr zu bekommen und sie zum Teil erklären zu können, hat sich im Laufe der Geschichte verändert. Das ist nur logisch, denn die Umstände, die die verschiedenen Zivilisationen produzierten, wiesen die Individuen in sehr unterschiedliche Perspektiven. Der antike Philosoph Europas unterschied sich nicht sonderlich von seinen spirituellen asiatischen Pendants und auch nicht von den Weisen anderer Hochkulturen auf anderen Kontinenten. Ihre Erklärungswelt lag in den Bewegungsläufen der Natur. Daher entsagten sie mehrheitlich der zivilisatorischen Störung, wie sie diese empfanden. Mit Nationenbildung und Verstaatlichung durchliefen die Zivilisationen einen entscheidenden Veränderungsprozess, der zur Folge hatte, dass die menschliche Zivilisationsstufe selbst als Erklärungsmuster und Untersuchungsgegenstand in den Fokus geriet. Die monotheistischen Religionen sind wohl das mächtigste Abbild hierarchischer Herrschaft.

Die Aufklärung sollte Licht in das entsetzliche Abgleiten menschlicher Erkenntnis in die Dunkelkammern der eigenen Machenschaften bringen. Die Philosophie der Aufklärung wählte deshalb den Weg über die Naturwissenschaften, um aus dem Tunnel wieder herauszukommen. Das gelang zum Teil, denn eine entscheidende Hürde war in der emotionalen Unfähigkeit vieler Menschen begründet, die gewonnenen Erkenntnisse, die auf einem freien Willen begründet waren, weder umsetzen zu können noch zu wollen.

Das, was als Industrialismus und Moderne bezeichnet wird, brachte eine zivilisatorische Konzentration hervor, die die naturwissenschaftlich prolongierten Erkenntnisse der Aufklärung wieder verschlüsselte. Alles, was folgte, widmete sich den Erscheinungen des Prozesses der Zivilisation. Das plumpe Hilfsmittel menschlicher Entwicklung, die Technik, erhielt einen nie geahnten Status. Je höher der Organisationsgrad von Wirtschaft und Staat wurde, desto stärker wurde der Eindruck, dass gerade die Technik das Wesen der Dinge sei. Technik bekam einen eigenen Charakter, der immer entfremdeter von der menschlichen Schöpfung einen eigenen Weg zu gehen schien. Plötzlich griff die vermeintliche Erkenntnis um sich, das Wesen des Daseins sei die Technik selbst. Die Erklärung der Welt wurde verwechselt mit der Entschlüsselung einer zivilisatorischen Krücke. Das technokratische Zeitalter war geboren und sein Ende ist noch lange nicht in Sicht.

Nicht, dass die ganze Moderne und alles was ihr zu folgen schien arm gewesen wäre an Versuchen, diesen Fluch zu durchbrechen. Einerseits versuchten die radikalen Ökonomen, das Wesen der wirtschaftlichen Organisation und Funktion zu durchdringen. Sie bedienten sich dabei wissenschaftlicher Kategorien, die sich notwendigerweise an das logische Instrumentarium der eigenen Disziplin halten mussten. Daher ist es aus heutiger, bescheidener Sicht nicht verwunderlich, dass sie analoge Gebilde wie die analysierten hervorbrachten. Ein anderer Versuch, der nahezu kuriose Anfänge beinhaltete, war der, durch nahezu rauschhafte Sinneswahrnehmung zivilisatorische Impressionen zu sammeln, um sie zu dekonstruieren und zu rekonstruieren. Der erste Versuche dieser Art war Walter Benjamins Haschisch in Marseille, die logische Folge das Pariser Passagenwerk desselben Autors. In letzterem schuf er den bis heute letzten philosophischen Versuch, die Moderne mit ihrer orkanartigen zivilisatorischen Entwicklung zu entschlüsseln. Benjamins dezidiert genannter Protagonist dieses Prozesses war der großstädtische Flaneur, der wachen Auges durch die Passagen und Korridore des zivilisatorischen Konzentrats wandelt und assoziativ nach neuen Wegen der Erkenntnis sucht.

Allerdings haben sich nicht nur die Formen der Mobilität verändert. Die Frage ist, ob sich aufgrund der von den Organisationsformen immer enger verwalteten Zeitkontingenten, die davon abhalten, die Rolle des Flaneurs einzunehmen, nicht auch die Fokussierung des menschlichen Blickes die Fähigkeit der Sinneswahrnehmung erheblich eingeschränkt hat. Der Blick auf Smartphones und Tablets, selbst beim Laufen in der Stadt, legt die Vermutung nahe, dass der Flaneur schon lange tot ist. Zumindest der, der zur Welterkenntnis beitragen könnte.

Das Gesetz des Gleichgewichts

Henry Kissinger. World Order

Nun ist er über Neunzig und umstritten wie eh und je. Und ja, sein Leben hat einiges zutage gebracht, er war einerseits ein genialer Stratege, andererseits ein eiskalter Machtpolitiker, einerseits Historiker und andererseits heißblütiger Parteigänger. Henry Kissinger, der mittelfränkische Jude, den die Verfolgung in die USA trieb, wo er es bis ins Zentrum der Macht brachte, hat dank seiner Wissenschaftskarriere auch die Fähigkeit, die Schätze an Geheimwissen wie der analytischen Schärfe ab und zu in ein Buch zu bringen. Gerade das vor nicht allzu langer Zeit erschienene Werk mit dem knappen Titel China war alles andere als die Memoiren eines alternden Politikers, sondern die Erkenntnisse eines Zeitgenossen, der aufgrund seiner exponierten Stellung mehr weiß als andere. Mit World Order ist jetzt ein neues Buch auf dem Markt, dass endlich das Thema zum Fokus hat, für das Kissinger in der Wahrnehmung der meisten Zeitgenossen steht: Diplomatie. Und um es vorweg zu sagen. Wer sich aufgrund des Autorennamens davon abschrecken lässt, es zu lesen, dem werden bestimmte Einsichten verwehrt bleiben.

In den ersten beiden Kapiteln von World Order beschäftigt sich Kissinger mit der Genese der modernen Diplomatie. Deren Geburtsstunde sieht er in den Verträgen zum Westfälischen Frieden aus dem Jahre 1648, welcher in Münster geschlossen wurde. Einmal abgesehen, dass auch in Osnabrück verhandelt wurde, dass keine Synchronisation der Positionen der einzelnen Parteien an den verschiedenen Orten vorgenommen werden konnte und keine Rückversicherungen den jeweiligen Verhandlungsführern gegeben werden konnten, was alles aus der Perspektive des digitalen Zeitalters sehr befremdlich erscheint, ist das Wesen des Vertrages die Grundlage der modernen Diplomatie. Nach dreißig Jahren des Zerrüttungskrieges sicherten sich die unterschiedlichen Parteien zu, dass ein Gleichgewicht der Macht entstünde, das unbesehen der einzelnen religiösen oder kulturellen Ausrichtung des jeweiligen Staates seine Grenzen, Souveränität und Autonomie respektiert werden müssten. Der Begriff, der für dieses Gleichgewicht der Kräfte steht, ist das Equilibrium.

Laut Kissinger basiert nicht nur die moderne bürgerliche Demokratie auf diesem Gedanken des Equilibriums. Kissinger geht noch weiter und schreibt dem Geist des Westfälischen Friedens den Charakter einer friedensstiftenden Außenpolitik generell zu und verweist darauf, dass bis hin zur Konstituierung der Vereinten Nationen dieses Gedankengut das Fundamentale war. Und immer, wenn durch die Einführung von Religion, Ideologie oder Moral aufgrund der eigenen Überhebung die Vorstellung eines Equilibriums geleugnet wurde, geriet das gesamte Projekt der Verständigung nicht nur in Gefahr, sondern mündete in einem Krieg. Dass bei diesem Prozess der Negation der bürgerlichen Vorstellung der Kommunikation ausgerechnet das revolutionäre Frankreich die Ursünde beging, wird nicht weiter vertieft, sondern nüchtern zur Kenntnis genommen.

Interessant sind vor allem die auf dieser Argumentation aufbauenden Analysen des Nah-Ost-Konfliktes und des ihr in vielen Fällen zugrunde liegenden Islam, der in seiner missionarischen Vision da Equilibrium tendenziell ausschließt. Und auch die USA, als Weltmacht aus den Kriegen des 20. Jahrhunderts hervorgegangen, hatten aufgrund ihres tiefen Glaubens an eine systemische Suprematie dazu beigetragen, eine auf Gleichheitsgrundsätzen beruhende Weltordnung dahin gehend obsolet zu machen, als dass sich die Prinzipien von Freiheit, Demokratie und Wohlstand nur durchzusetzen brauchten. Divergierende Perspektiven wie digitale Gleichzeitigkeit haben es so sehr schwierig gemacht, nach einer Verortung zu suchen, die alle als Ausgangspunkt einer neuen globalen Ordnung akzeptierten. Auch dort würde Kissinger das Equilibrium favorisieren. Jede Tagesnachricht aus der internationalen Politik dokumentiert, wie aktuell dieses Buch ist.

Kann der Wandel verstetigt werden?

Es reicht nicht aus, die Guillotine zu schmieren und das Personal auszuwechseln. Abgeschlagene und neu installierte Köpfe garantieren nicht unbedingt das neue Denken. Die Frage, wie der Wandel festgehalten werden kann, bewegt seit je die Gemüter. Was ist erforderlich, um das Neue auf Dauer zu implementieren? Eine Revolution ist ein Paradigmenwechsel. Es werden die Grundlagen des Denkens, der damit verbundenen Logik und die entscheidenden Bewertungen für gesellschaftliches Handeln verändert. Die Frage, wie das, was programmatisch gefordert wird, über die stürmischen Tage des Umschwungs hinweg gerettet werden kann, ist es wert, genauer betrachtet zu werden. Denn es ist klar, dass ein Machtwechsel alleine die beabsichtigte Veränderung nicht zu sichern vermag. Wenn es um neues Denken und eine neue Ethik geht, dann muss sich menschliches Verhalten ändern. Geschieht dieses nicht, dann sind Restaurationserscheinungen die Folge, wie sie so treffend in George Orwells Roman Die Farm der Tiere beschrieben wurden. Die Bezeichnungen und Erscheinungsformen haben sich geändert, aber die Wirkungsmechanismen sind die gleichen geblieben.

Die Verstetigung des Wandels ist folglich nur durch eine sehr konsequente Vitalisierung von Verhaltensmustern zu erreichen. Nur, wenn das neue Denken vorgelebt wird und wenn das Vorleben entsprechend im sozialen Vergleich gelobt wird, sind die Voraussetzungen für einen gegeben, der die Voraussetzung für einen tatsächlichen Wandel ist. Eine Organisation, die sich mit der Abbildung einer neuen Struktur und personeller Neubesetzungen der geschaffenen Funktionen begnügt, wird sehr schnell die alten Verhältnisse unter neuem Namen wieder herstellen. Eine Organisation, die nie neuen Strukturen dazu benutzt, um das neue Verhalten in ihnen zu üben und permanent zu überprüfen, hat hingegen die Voraussetzung für einen Wandel in Denken und Verhalten geschaffen. Das Scheitern im Neuen, die kritische Reflexion dieses Scheiterns und die erneute Erprobung der korrigierten Vorgehensweise ermöglichen einen Erkenntniszuwachs, der der neuen Organisation und den neuen Zielen zu Gute kommt. Allerdings nur dann, wenn das temporäre Scheitern als eine Notwendigkeit auf dem Weg zu Verbesserung kommuniziert wird.

Die Lernprozesse des Wandels müssen dem neuen Denken, der neuen Sittenlehre und den neuen Verhaltensmustern verpflichtet sein. Folglich sind die zu initiierenden Lernprozesse mit einem sehr hohen pädagogischen und didaktischen Aufwand verbunden. Auch die Art und Weise, wie das Neue vermittelt wird, muss sich von den Gepflogenheiten der Vermittlung des Althergebrachten unterscheiden. In einem System, das davon ausgeht, dass die einzelnen Glieder des Ganzen ein hohes Maß an Autonomie genießen, ist es erforderlich, dass auch die Lernprozesse in der Umgebung großer Unabhängigkeit stattfinden. Der ständige, dringende und penetrante Wunsch der Technokraten, die Lernprozesse genau monitoren und kontrollieren zu wollen, korrespondiert nicht mit der Freiheit, die Gestaltung voraussetzt.

Die Lerninhalte sind anders, die Methoden sind neu und die Zeiträume zur Internalisierung des Gelernten sind länger als diejenigen, die zur Verinnerlichung des bereits Bekannten, Eingeübten erforderlich sind. Sind diese Erkenntnisse auch nicht sonderlich aufregend, so sind für die tradierte technokratische Betrachtungsweise dennoch neu. Für die Technokratie ist die Angelegenheit des Wandels mit der Übertragung der Macht erledigt. Die tatsächliche Verstetigung des Wandels vollzieht sich jedoch nur durch langanhaltende, langwierige und intensive Lernprozesse mit ihrer eigenen Pädagogik. Ihre Dimensionen erstrecken sich auf Inhalte, Methodologie und Verhalten. Und einer Reflexion des Prozesses selbst., d.h. die Reflexion des Wandels findet in einer Kategorie der zweiten Ordnung statt. Auch das ist neu und löst großes Unbehagen aus.