Archiv für den Monat November 2011

Ein Theorem der post-heroischen Gesellschaft

Der Gedanke ist folgerichtig und niemand, der sich einem vernünftigen Bildungs- oder Integrationsanspruch verschreibt, würde ihn negieren. Das neue Paradigma in Bildung, Soziologie und zunehmend Gesellschaftspolitik heißt Inklusion. Grundgedanke ist die Inszenierung des Individuums zum Mittelpunkt institutioneller Angebote und Bestrebungen. Ein Kind, das in der Schule erfolgreich sein soll, wird gemäß seiner individuellen Neigungen, Begabungen und Einschränkungen von Lehrern, Psychologen, Logopäden, Pädagogen, Sporterziehern etc. unterstützt. Genauso wie bei der Gestaltung öffentlicher Räume die Architektur determiniert wird von den individuellen Bedürfnissen der tatsächlichen Bewohner. Und die Politik als Gestaltungsfeld sozialer Entwicklungsmöglichkeiten orientiert sich an oder wird sogar gesteuert von den partikularen Erfordernissen der Individuen.

Alle vorherigen Gesellschaften der Moderne wie der Prä-Moderne arbeiteten mit einem anderen Paradigma. Sie definierten sich über einen Konsens. Rousseaus Contrat Sociale wie Napoleons Code Civil, beides die Kollektivmetaphern für die bürgerliche Gesellschaft, schlossen vom Allgemeinen auf das Einzelne. Der Konsens einer Gesellschaft war die Vorbedingung für eine akzeptierte Individualität. Zwar waren die Rechte des einzelnen Individuums definiert, aber immer mit der Einschränkung der Nicht-Gefährdung des Allgemeinen.

Aus dieser Sichtweise wurden die so genannten Standards entwickelt, die es zu erreichen galt. Ziel des Individuums blieb es, gesellschaftlich definierte Maße zu erreichen. Umgekehrt zu denken, dass Gesellschaft sich an der Diversität des Individuums zu orientieren habe, dass es gar Zweck der Gesellschaft sei, dieser Orientierung zu folgen, galten nicht nur als absurd, sondern wurden empfunden als Rudiment der Barbarei.

Nun, mit der Inklusion, stehen wir an einem neuen Anfang gesellschaftlichen Räsonnements, das bereit ist, sich auf den Fokus des Individuums einzulassen. Das an sich ist kein Vergehen, dabei aber die Sinnstiftung des gesellschaftlichen Konsenses auszublenden, ist eine extrem gefährliche Haltung, die zu einer Erosion des gesellschaftlichen Zusammenhaltes führen kann.

Bei aller Wertschätzung der Inklusion als einem pädagogischen und sozial-integrativen Prinzip ist es angebracht, die Frage zu stellen, welchen Stellenwert der gesellschaftliche Konsens und daraus abgeleitete Anforderungen an das Individuum noch für die Gesellschaft haben. Es ist dringend erforderlich, das Bindende und Zwingende an Sozialität neu zu beschreiben und zu erörtern, um das Zugehen auf die Individualität nicht irgendwann als gesellschaftlich absurdes Manöver der Zerstörung begreifen zu müssen. Nicht alle modernen Gesellschaften, die eine analoge Entwicklung durchmachen, vermeiden den Fehler, aber aus den bereits gemachten Fehlern zu lernen, wäre ein Indiz für die Fähigkeit, im Niemandsland eine Orientierung zu finden, die auf historischen Erfahrungen beruht.

Konstitutionsprinzipien der Innovation

Miles Davis Quintet, Live in Europe 1967

Das Jahr 1967 gehört sicherlich zu den im musikalischen Sinne innovativsten des 20. Jahrhunderts. Bahn brechende Alben eines Jimi Hendrix gehörten genauso dazu wie neue Dimensionen in der Musik von Beatles und Stones. Der Jazz hatte zu dieser Zeit bereits längst die Schallmauer der Moderne durchbrochen, der Bebop eines Charly Parker oder Dizzy Gillespie hatten Marken abgesteckt, die bis heute qualitative Unterscheidungen zulassen. Dass sich zu dieser Zeit auch revolutionäre Geister wie Hendrix und Miles Davis in einem New Yorker Apartment treffen sollten, um gemeinsame Projekte auszuloten, verwundert da nicht. Die Zeit war reif, alte Mauern einzureißen und Konzepte zu entwickeln, die sich jenseits aller Vorstellungskraft bewegten.

Es spricht für die damals noch kleine Gemeinschaft europäischer Jazz Afficionados, dass es seit dem II. Weltkrieg immer wieder gelang, die Protagonisten des amerikanischen Jazz auf den alten Kontinent zu holen. Im Winter 1967 reiste Miles Davis mit seinem Quintett nach Europa, um in mehreren Städten Konzerte für ein erlesenes Publikum zu geben. Diesem Umstand ist es zu verdanken, dass neben Miles Davis keine geringeren Musiker als Wayne Shorter, Herbie Hancock, Ron Carter und Tony Williams mit auf der Bühne standen und demonstrierten, welchen Entwicklungslinien sie momentan folgten.

Die vorliegenden Aufnahmen, die den Konzerten in Antwerpen, Kopenhagen und Paris entstammen, gehören auch im Werk Miles Davis zu den Journalen des Umbruchs. Er selbst wie Wayne Shorter zitieren in den längst etablierten eigenen wie entlehnten Standards Themen des Fusion, sie folgen den unbeschriebenen Wegen der Interpretation mit offenem Ende. Es ist zu vermuten, dass die Offenheit, in der sich die gesamte Band zum Experimentellen bekennt, nicht einmal an der amerikanischen Ostküste so honoriert worden wäre, wie in den damaligen Hochburgen des Jazz auf der anderen Atlantikseite. Vor allem Miles Davis wusste um den hohen Sachverstand des europäischen Publikums und suchte sich immer mal wieder ganz bewusst Engagements in Europa aus, um die Reaktion dieses sachkundigen wie toleranten Publikums zu erfahren.

Doch jeder Musiker des Quintetts markierte auf diesen Konzerten seine Positionen. Herbie Hancock fegte in Footprints so ziemliche jede Fixierung auf Synchronität aus dem Saal, Wayne Shorter vermied in seinen Soli auf On Green Dolphin Street jedes Happy End, Ron Carter konterkarierte in Agitation so ziemlich jede Melodielinie und Miles Davis zerpflückte in Round Midnight die melancholische Harmonie, wie immer in jener Zeit eskortiert von Wayne Shorter, der mit seinem Tempo aus der Mitternachtsballade ein Hunderennen machte, das mit einer langanhaltenden Salve Tony Williams endete. In No Blues, Masqualero und Gingerbread Boy finden sich Spuren von Fusion, aber auch Andeutungen von Sphären einer neuen Modalität, die bis dato im Jazz ungehört schienen.

Die vorliegenden Konzertmitschnitte sind nicht nur ein wichtiges Dokument einer revolutionären Phase des Jazz, sie verdeutlichen auch die notwendigen Konstitutionsprinzipien von Innovation, die aus dem Willen und Können der Akteure genauso besteht wie aus der Akzeptanz der korrespondierenden Röhre. Dass die meisten Stücke weder einen richtigen Anfang noch ein ebensolches Ende aufweisen, hat im Jahre 1967 dass Publikum ebensowenig gestört wie die Entfremdung der bekannten Themen. Da hat vieles gestimmt, und es ist immer noch eine Bereicherung, dieses heute hören zu können.

Steuergelder für die Ortsgruppe

Angesichts der Erkenntnisse über Unterlassungen, Pannen, Finanzströme und gezielte Desinformation in den Organen des Verfassungsschutzes und der polizeilichen Ermittlungsbehörden den Rücktritt des gegenwärtigen Innenministers zu fordern, wie dieses momentan so gerne Sozialdemokraten und Grüne tun, zeugt von einer beschämenden Heuchelei. Nein, selbst die Vorgänge, um die es in diesem Fall geht, weisen auf Zeiten zurück, als Otto Schily als Innenminister noch voll im Saft stand und selbst diese Rückschau greift zu kurz. Der deutsche Verfassungsschutz in die ihm zuarbeitenden Organe sind seit ihrer Gründung ein Problem für die Demokratie, weil sie sich seit jeher einem politischen Linienkampf gegen Links widmen und beim Aufbau rechter Infrastrukturen nicht nur immer seelenruhig zugeschaut hat, sondern durch so genannte V-Leute auch aktiv dabei war.

Alle, die die Hochzeiten der RAF noch mitbekommen haben und in Autos saßen, wenn Straßenkontrollen durchgeführt wurden oder in Wohnungen waren, wenn sie von Sondereinsatzkommandos überrascht wurden, weil ein angetrunkener Nachbar halluzinierte und die Polizei angerufen hatte, wissen, mit welch rigorosem Vertrauen Verfassungsschutz & Co von der gesamten politischen Klasse ausgestattet wurden, um die Gefahr für die Demokratie zu bekämpfen. In jeder politischen Rede von Relevanz wurde den Organen, denen ein fataler genetischer Gründungsfehler anhaftet, ein Blankoscheck für die Arbeit ausgestellt.

Befreit von den Alliierten, die schon nach der Kapitulation des faschistischen Deutschlands die Karten neu für einen globale Machtkonstellation mischten, entgingen die zu gründenden und teilweise rekonstituierten Sicherheitsorgane im Westen einer gründlichen Entnazifizierung und legten gleich gegen den Feind von Links los. Wäre die Politik auf dem ehemaligen Terrain der DDR nicht in einem derartig desolaten Zustand, wie sie das heute ist, müsste sich massiver Widerstand gegen die dort zu erlebende Entstaatlichung gegenüber rechtsradikaler Kriminalität formieren. Wenn es eine Demütigung für die dortige Bevölkerung angesichts der Wiedervereinigung gibt, dann ist es der Umstand, ganze Regionen den Klauen eines neuen faschistischen Mobs kampflos zu überlassen. Stattdessen wurden V-Leute mit großen Summen aus dem Steuersack ausgestattet, die dazu verwendet wurden, Ortsgruppen mit einer modernen Infrastruktur aufzubauen.

Angesichts der drückenden Indizien für eine untragbare Situation im Verfassungsschutz hat es kaum Sinn, nach Schuldigen für das eine oder andere Vergehen zu suchen. Wenn aus den Hinrichtungsexzessen gegen Migranten eine Lehre in Bezug auf diese Institution gezogen werden kann, dann ist es die Notwendigkeit ihrer völligen Auflösung. Die Frage muss gestellt werden, inwieweit eine Organisation, die das organisierte Verbrechen aus politischem Kalkül gewähren lässt und teils gar aktiv unterstützt, einem demokratischen Auftrag entsprechen kann. Die Notwendigkeit von Organen zum Schutz des eigenen politischen Systems wird von den meisten Demokratien anerkannt, es ist jedoch im Vergleich ohne Beispiel, dass in anderen Ländern, die sich der Demokratie verschrieben haben, eine derartige Kollaboration mit dem Feind ohne systemische Konsequenzen bliebe.

Alle Appelle und Mahnungen, die an den Jahres- und Feiertagen zu Faschismus und Krieg in den Äther gesendet werden, sind belanglos, wenn diese Institution nicht erst liquidiert und dann von Grund auf erneuert wird.