Der Gedanke ist folgerichtig und niemand, der sich einem vernünftigen Bildungs- oder Integrationsanspruch verschreibt, würde ihn negieren. Das neue Paradigma in Bildung, Soziologie und zunehmend Gesellschaftspolitik heißt Inklusion. Grundgedanke ist die Inszenierung des Individuums zum Mittelpunkt institutioneller Angebote und Bestrebungen. Ein Kind, das in der Schule erfolgreich sein soll, wird gemäß seiner individuellen Neigungen, Begabungen und Einschränkungen von Lehrern, Psychologen, Logopäden, Pädagogen, Sporterziehern etc. unterstützt. Genauso wie bei der Gestaltung öffentlicher Räume die Architektur determiniert wird von den individuellen Bedürfnissen der tatsächlichen Bewohner. Und die Politik als Gestaltungsfeld sozialer Entwicklungsmöglichkeiten orientiert sich an oder wird sogar gesteuert von den partikularen Erfordernissen der Individuen.
Alle vorherigen Gesellschaften der Moderne wie der Prä-Moderne arbeiteten mit einem anderen Paradigma. Sie definierten sich über einen Konsens. Rousseaus Contrat Sociale wie Napoleons Code Civil, beides die Kollektivmetaphern für die bürgerliche Gesellschaft, schlossen vom Allgemeinen auf das Einzelne. Der Konsens einer Gesellschaft war die Vorbedingung für eine akzeptierte Individualität. Zwar waren die Rechte des einzelnen Individuums definiert, aber immer mit der Einschränkung der Nicht-Gefährdung des Allgemeinen.
Aus dieser Sichtweise wurden die so genannten Standards entwickelt, die es zu erreichen galt. Ziel des Individuums blieb es, gesellschaftlich definierte Maße zu erreichen. Umgekehrt zu denken, dass Gesellschaft sich an der Diversität des Individuums zu orientieren habe, dass es gar Zweck der Gesellschaft sei, dieser Orientierung zu folgen, galten nicht nur als absurd, sondern wurden empfunden als Rudiment der Barbarei.
Nun, mit der Inklusion, stehen wir an einem neuen Anfang gesellschaftlichen Räsonnements, das bereit ist, sich auf den Fokus des Individuums einzulassen. Das an sich ist kein Vergehen, dabei aber die Sinnstiftung des gesellschaftlichen Konsenses auszublenden, ist eine extrem gefährliche Haltung, die zu einer Erosion des gesellschaftlichen Zusammenhaltes führen kann.
Bei aller Wertschätzung der Inklusion als einem pädagogischen und sozial-integrativen Prinzip ist es angebracht, die Frage zu stellen, welchen Stellenwert der gesellschaftliche Konsens und daraus abgeleitete Anforderungen an das Individuum noch für die Gesellschaft haben. Es ist dringend erforderlich, das Bindende und Zwingende an Sozialität neu zu beschreiben und zu erörtern, um das Zugehen auf die Individualität nicht irgendwann als gesellschaftlich absurdes Manöver der Zerstörung begreifen zu müssen. Nicht alle modernen Gesellschaften, die eine analoge Entwicklung durchmachen, vermeiden den Fehler, aber aus den bereits gemachten Fehlern zu lernen, wäre ein Indiz für die Fähigkeit, im Niemandsland eine Orientierung zu finden, die auf historischen Erfahrungen beruht.
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