Archiv für den Monat April 2015

Erkenntnisse aus dem Sonnentheater

Nicht erst seit dem auch aus heutiger Sicht als sehr gelungen zu bezeichnenden Film Moliere von Arian Mnouchkine sollte vor allem die Schlusssequenz dazu genutzt werden, das Leben öfters mal von seinem Ende aus zu denken. Die Chefin des Theatre du Soleil hatte das Leben Molieres 1978 filmisch inszeniert. Man sollte ihn sich heute noch einmal anschauen. Und zwar aus zweierlei Gründen. Zum einen ist der Film brillant inszeniert und der chaotische, kreative und widersprüchliche Charakter des Lebenskünstlers, Bühnenautors und Handwerkers Molieres wird in einer extravaganten, aber sich dennoch auf das Wesentliche konzentrierenden Weise dargestellt. Zum anderen, und das als Hinweis an alle, die sich einer dem Kommunikationszeitalter unkritisch ergebenen Fraktion zurechnen, war der intellektuell sehr anspruchsvolle Film Mnouchkines ein großer, massenwirksamer Erfolg. Das, als Randglosse, wäre heute nicht mehr der Fall, da ein Publikum, das den Ansprüchen des besagten Filmes genügte, schlichtweg in dieser Dimension gar nicht mehr existiert.

Das Interessante jedoch ist die Idee Mnouchkines, den Tod des queren Kauzes so zu inszenieren, wie sie es tat. Der immer wieder kranke, teils misanthropische, teils hedonistische Freak, der seinem Ende entgegen leidet, hangelt sich an einer Treppe herunter. Es ist der letzte Moment seines Lebens und indem er die ausladende Treppe Stufe für Stufe hinuntergleitet, passieren Szenen seines Lebens vor seinem geistigen Auge Revue. Bei den auftauchenden Bildern handelt es sich um eine Auswahl, die das Unterbewusstsein getroffen hat. Genau wie die Tatsache, dass so etwas überhaupt geschieht, unabhängig von dem Willen des Hinscheidenden. Dass eine derartige Inszenierung des eigenen Lebens vor dem menschlichen Auge angesichts des Todes ansteht, wird von Medizinern und Wissenschaftlern nicht nur nicht ausgeschlossen, sondern auch immer wieder bestätigt. Einigkeit besteht ebenfalls  darüber, dass dem Individuum, dem sich diese Bilder aus dem eigenen Leben einstellen, im Prozess der Wahrnehmung emotionale Felder wie Schmerz oder Freude fehlen. Das hieße, drastisch gesprochen, im Angesicht des Todes erhalten wir eine letzte, allerletzte Chance, unser Leben kalt zu bilanzieren.

Was biologisch wie literarisch interessant erscheint, birgt noch etwas Spielerisches, das blendend dazu geeignet wäre, den eigenen Horizont zu erweitern. Wie wäre es, wenn wir im Hier und Jetzt, in vermeintlich großem Abstand zum Tode, ab und zu, vielleicht einmal pro Dekade, den Abgang auf einer imaginären Treppe simulierten. Dabei müssten wir dem Unterbewusstsein einen Streich spielen respektive zur Seite springen, in dem wir konstruierten, welche unserer Erlebnisse das Gewicht hätten, um im tatsächlich finalen Moment unseres Lebens in der Bilanz aufzutauchen.

Das Ergebnis selbst würde einiges deutlich machen. So banal der Vorschlag, so radikal ist er: Er zwingt uns, unser Leben in seiner Endlichkeit zu betrachten. Dabei wird ein wesentliches Tabu gebrochen. Die Verdrängung der Endlichkeit bedeutet letztendlich die Infusion übertriebener Hoffnung in unser Dasein. Der geübte, und wiederholte Gang über die Treppe des Todes würde Bilder in uns erzeugen, die normal sterblichen Wesen entsprächen und Größenordnungen entsprächen, die menschlicher, realistischer und – demütiger wären. Die immer wieder in uns auftauchende Unzurechnungsfähigkeit aus Größenwahn verlöre an Boden und bescherte uns insgesamt einen anderen Umgang mit uns und der Welt.

Molieres Treppe, aus dem Theatre du Soleil, ist nicht nur ein cineastisch wie literarisch genialer Effekt, es ist könnte auch ein Beitrag sein zu einer anderen, existenziell wesentlichen Selbstwahrnehmung.   

Epistemologie und Digitalisierung

Die Erkenntnistheorien, die der Aufklärung entsprungen sind, hatten einen Konsens. Es war das Fortschreiten der Bewusstwerdung der Welt nach einem relativ einfachen Schema, das in drei Stufen unterteilt wurde: die erste Ebene der Erkenntnis war die unmittelbare Erfahrung. Unter ihr wurde alles subsumiert, was der Mensch, das erkennende Wesen, direkt mit seinen Sinnen wahrnehmen und verarbeiten konnte. Die zweite Stufe war der qualitative Sprung von der unmittelbaren Erfahrung zu rationalen Erkenntnis. Sie beschrieb den Übergang vom Fühlen zum Kognitiven. Das war die Erkenntnis nach den verbrannten Händen auf der Herdplatte, irgendwann konstruierte das Hirn Zustände und Zusammenhänge, die darauf schließen ließen, dass weiterer Schmerz wahrscheinlich sei und die unmittelbare Erfahrung nicht ein weiteres Mal erforderlich sei. Und schließlich, die dritte Ebene war der Sprung von der rationalen Erkenntnis hin zur Bewusstwerdung und aktiven Gestaltung. Somit war die Tirade von Fühlen -Erkennen – und Tun beschrieben, die immer wieder verifiziert werden konnte und deren Erkenntnis weit in andere Disziplinen hineinreichte, vor allem In die Pädagogik und Didaktik. Denn, so die logische Schlussfolgerung, wenn der Mensch so erkennt und lernt wie beschrieben, dann muss Neues auch so gelehrt werden. Die unmittelbare Erfahrung gilt immer noch als die Mutter aller Erkenntnis.

Der durch die Aufklärung beflügelte Prozess der Zivilisation zeichnet sich vor allem durch eine Reduktion des Unmittelbaren in den Lebensbereichen der Menschen aus. Direkte Erfahrungen, die  Landmenschen mit Natur und Umwelt beschert sind, sind bereits Städtern versagt und enden damit, dass heutzutage Stadtkinder in den Zoo müssen, um ihre erste Kuh zu sehen. Das Anschauungsmaterial für die Rückdrängung des Unmittelbaren ist erdrückend: Kinder spielen kaum noch auf der Straße, freies Streunen durch die Städte ist versagt, ein immens steigender Behütungsdrang der Eltern endet in elektronischen Überwachungssystemen. Die Welt von heute, die es zu entdecken gilt, ist in unseren Breitengraden nahezu frei von Gerüchen, Unwägbarkeiten und Gefahren.

Der Verdrängung der unmittelbaren Erfahrung steht eine anwachsende, heute schon alles dominierende mittelbare Erfahrung gegenüber. Im Zeitalter der Digitalisierung und der flächendeckenden Versorgung mit Zugängen zu den Multi-Mega-Wissensarsenalen der Gegenwart kann sich der Mensch mit Informationen versorgen, ohne vorher Lernprozesse durchgemacht zu haben, die ihn bereits epistemologisch geprägt haben. Und darin liegt eine Katastrophe, deren Ausmaß noch nicht taxiert werden kann. Um es drastisch auszudrücken: wer nichts erfühlt hat auf seinem Weg der Erkenntnis, der wird auch kein Gefühl für das haben, was ihm dar- und angeboten wird. Das, was als rationale Erkenntnis im Gehirn gespeichert wird, hat keine emotionale Grundstruktur.

So sehr die Revolutionierung der artifiziellen Intelligenz auch in Bezug auf ihr Vermögen zu bewundern ist, so sehr hat sie den Menschen von seinem eigenen Produkt entfernt. Die Quelle der Erkenntnis ist die unmittelbare Erfahrung. Wer sie nicht oder nur rudimentär genießt, beginnt sich von seiner eigenen Psyche zugunsten der Ratio zu entfernen. Nichts gegen mehr Ratio in einer Welt, die erstaunlich von Irrationalismen geprägt wird. Aber die mit der Ent-Emotionalisierung verbundene Marginalisierung der Psyche entzieht diese aus dem gesellschaftlichen Diskurs. Es entsteht eine Unterwelt, in der sich niemand mehr außer den Demagogen auskennt. Die Metapher, die vom Menschen übrig bleibt, ist die der trivialen Maschine. Das ist kein Fortschritt. Das ist Mittelalter. Wenn es eine Dialektik der Aufklärung gibt, d.h. wenn der Gedanke zur Befreiung auch immer die Option in sich trägt, das Dasein zu mystifizieren, dann ist die Digitalisierung unserer Welt der beste Beweis.

Grausige Blaupausen

Es geht um das Design. Wie, so muss die Frage gestellt werden, kommen Investoren in Länder, die ihnen politisch verschlossen sind. Wenn die Leitfrage darin besteht, in Regionen einzudringen, die attraktiv sind, weil Bodenschätze vorhanden sind, geostrategische Vorteile lauern und zudem billige Arbeitskräfte rekrutiert werden können, dann muss ein Konzept her, das über die klassische Invasionstechnik hinaus geht. Von großem Vorteil sind heterogene Bevölkerungsstrukturen, die es ermöglichen, von Entrechtungsszenarien auszugehen, die moralisch empören. Das hat sich sehr bewährt. 

Der Kosovo ist so ein Beispiel, bei dem von einem Völkermord der Serben an den Kosovo-Albanern ausgegangen wurde. Die damalige, die militärische Intervention vorbereitende Legende ging von solchen Verbrechen gegen die Menschlichkeit aus. Bis heute sind Ursache und Wirkung nicht endgültig geklärt. Auch am Internationalen Gerichtshof in Den Haag konnte die Beweisführung nicht überzeugend geführt werden. Fakt ist, dass es Verbrechen gegen Kosovo-Albaner durch Serben gab, ebenso Fakt ist, dass die Mehrheitsbevölkerung aus Serben bestand, gegen die ebenfalls Menschenrechtsverletzungen zu verbuchen waren und die zwangsweise aus ihrem Lebensbereich vertrieben wurden. Versuche der Versöhnung gab es nicht. Fakt ist die gewaltsame Abtrennung des Kosovo von Serbien und die Installierung eines Regimes, vor dem heute die eigene Bevölkerung flieht. Das Resultat ist der Nato-Flughafen Bondsteel, der den Zugriff auf den Nahen Osten absichert.

Die Ukraine ist ein weiteres Beispiel. Im Grunde war die Ukraine vor der Krise bereits ein Staatswesen mit zwei gesellschaftlichen Lebenswelten, einer ukrainischen und einer russischen. Ein Viertel der Bevölkerung, die im Osten des Landes lebt, ist russischer Nationalität. Korrupte Regime und Oligarchen wechselten sich ab, eine Destabilisierung bot sich nahezu an. Sowohl reicher, landwirtschaftlich nutzbarer Boden als auch Gasvorkommen, die die Fracking-Firmen der USA anlocken, stehen zur Disposition. Wieder ging es nicht um Versöhnung oder Menschenrechte und schon gar nicht um das Völkerrecht, als die Eskalation zu verbuchen war. 

Und, eine Prognose sei gewagt: Der nächste Konfliktherd wird die Vojvodina sein, ein weiterer Teil Serbiens, der ebenfalls reich an gutem Boden und interessant ist in Bezug auf amerikanische Öl- und Gaspipelines, die anstatt russischer dort installiert werden sollen. In der Vojvodina leben 55 Prozent Serben, und jeweils im Vergleich sehr geringe Prozentsätze von Kroaten, Albanern, Ungarn, Rumänen und Roma. Irgendeine dieser Minderheiten, so ist zu befürchten, wird die argumentative Geisel für eine neue, aggressive und propagandistisch unterlegte Interventionspolitik sein. Warten wir ab und schauen genau hin. Die Muster gleichen sich.

In allen Fällen, und hier sind nur zwei und ein wahrscheinlich heranziehender aufgelistet, wird das Vorgehen eingebettet von vorher gekauften bzw. installierten Medien, die mit dem moralischen Rüstzeug präpariert sind. Nicht, dass dagegen etwas einzuwenden wäre, wenn diese Medien danach suchen würden, latente oder offene Konflikte auf friedliche Lösungsmöglichkeiten hin zu sondieren. Aber das Gegenteil ist der Fall. Das völkerrechtlich dubiose Abtrennen des Kosovo von Serbien liegt nun eine Weile zurück, das Zeter und Mordio um die Ukraine ist allerdings noch in aller Ohren. Was davon zu halten ist, dokumentiert sogar das nahezu gesamte politische Personal der Abrüstung und Befriedung Europas Ende des letzten Jahrhunderts. Sie kommen nicht mehr zu Wort, weil sie nicht ins Kalkül passen. Das Ziel ist die Destabilisierung der betreffenden Länder und die moralistische Aufladung der Bevölkerung der Länder der vermeintlichen Nutznießer.