Nicht erst seit dem auch aus heutiger Sicht als sehr gelungen zu bezeichnenden Film Moliere von Arian Mnouchkine sollte vor allem die Schlusssequenz dazu genutzt werden, das Leben öfters mal von seinem Ende aus zu denken. Die Chefin des Theatre du Soleil hatte das Leben Molieres 1978 filmisch inszeniert. Man sollte ihn sich heute noch einmal anschauen. Und zwar aus zweierlei Gründen. Zum einen ist der Film brillant inszeniert und der chaotische, kreative und widersprüchliche Charakter des Lebenskünstlers, Bühnenautors und Handwerkers Molieres wird in einer extravaganten, aber sich dennoch auf das Wesentliche konzentrierenden Weise dargestellt. Zum anderen, und das als Hinweis an alle, die sich einer dem Kommunikationszeitalter unkritisch ergebenen Fraktion zurechnen, war der intellektuell sehr anspruchsvolle Film Mnouchkines ein großer, massenwirksamer Erfolg. Das, als Randglosse, wäre heute nicht mehr der Fall, da ein Publikum, das den Ansprüchen des besagten Filmes genügte, schlichtweg in dieser Dimension gar nicht mehr existiert.
Das Interessante jedoch ist die Idee Mnouchkines, den Tod des queren Kauzes so zu inszenieren, wie sie es tat. Der immer wieder kranke, teils misanthropische, teils hedonistische Freak, der seinem Ende entgegen leidet, hangelt sich an einer Treppe herunter. Es ist der letzte Moment seines Lebens und indem er die ausladende Treppe Stufe für Stufe hinuntergleitet, passieren Szenen seines Lebens vor seinem geistigen Auge Revue. Bei den auftauchenden Bildern handelt es sich um eine Auswahl, die das Unterbewusstsein getroffen hat. Genau wie die Tatsache, dass so etwas überhaupt geschieht, unabhängig von dem Willen des Hinscheidenden. Dass eine derartige Inszenierung des eigenen Lebens vor dem menschlichen Auge angesichts des Todes ansteht, wird von Medizinern und Wissenschaftlern nicht nur nicht ausgeschlossen, sondern auch immer wieder bestätigt. Einigkeit besteht ebenfalls darüber, dass dem Individuum, dem sich diese Bilder aus dem eigenen Leben einstellen, im Prozess der Wahrnehmung emotionale Felder wie Schmerz oder Freude fehlen. Das hieße, drastisch gesprochen, im Angesicht des Todes erhalten wir eine letzte, allerletzte Chance, unser Leben kalt zu bilanzieren.
Was biologisch wie literarisch interessant erscheint, birgt noch etwas Spielerisches, das blendend dazu geeignet wäre, den eigenen Horizont zu erweitern. Wie wäre es, wenn wir im Hier und Jetzt, in vermeintlich großem Abstand zum Tode, ab und zu, vielleicht einmal pro Dekade, den Abgang auf einer imaginären Treppe simulierten. Dabei müssten wir dem Unterbewusstsein einen Streich spielen respektive zur Seite springen, in dem wir konstruierten, welche unserer Erlebnisse das Gewicht hätten, um im tatsächlich finalen Moment unseres Lebens in der Bilanz aufzutauchen.
Das Ergebnis selbst würde einiges deutlich machen. So banal der Vorschlag, so radikal ist er: Er zwingt uns, unser Leben in seiner Endlichkeit zu betrachten. Dabei wird ein wesentliches Tabu gebrochen. Die Verdrängung der Endlichkeit bedeutet letztendlich die Infusion übertriebener Hoffnung in unser Dasein. Der geübte, und wiederholte Gang über die Treppe des Todes würde Bilder in uns erzeugen, die normal sterblichen Wesen entsprächen und Größenordnungen entsprächen, die menschlicher, realistischer und – demütiger wären. Die immer wieder in uns auftauchende Unzurechnungsfähigkeit aus Größenwahn verlöre an Boden und bescherte uns insgesamt einen anderen Umgang mit uns und der Welt.
Molieres Treppe, aus dem Theatre du Soleil, ist nicht nur ein cineastisch wie literarisch genialer Effekt, es ist könnte auch ein Beitrag sein zu einer anderen, existenziell wesentlichen Selbstwahrnehmung.
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