Archiv für den Monat November 2017

Dysfunktionalität als Chance

Es klingt kurios, aber so funktioniert die Realität. Thomas L. Friedman, Kolumnist der New York Times mit Kultstatus und weltweit erfolgreicher Buchautor (The World Is Flat) hat diesem Umstand sogar ein ganzes Buch gewidmet. Er hält das Thema für so wichtig, dass er ihm zutraut, dass mit ihm sein letztes Buch überhaupt befasst ist. Es handelt von der Herausforderung unserer Zeit schlechthin, es handelt von der Beschleunigung. Beschleunigung in Technologie, Beschleunigung im Welthandel, Klimawandel und Beschleunigung im Sinne sozialer Strukturen. Das ist das große Thema unserer Tage. Kann der Mensch in dem Orkan der Beschleunigung überhaupt noch bestehen?

Friedman schreibt in seinem Vorwort darüber und wählt ein sehr schönes Bild. Er erzählt von dem Gefühl, das ein Autofahrer beim Kickdown hat, wenn das Vehikel quasi nach vorne springt und seine Macht in der Vorwärtsbewegung zeigt. Und nun, so Friedman, stellen Sie sich vor, diese Bewegung und dieses Gefühl bleiben und es entsteht daraus ein Dauerzustand. Das Ergebnis lässt sich anhand des Bildes sehr gut beschreiben: es kommt sehr schnell zu einem unkontrollierbaren Tempo und zu permanenter Übelkeit. Dieses auf unseren gesellschaftlich-kulturellen Zustand angewendet sagt sehr vieles aus über die Situation, in der wir uns befinden.

Wenn das Tempo unkontrollierbar ist und das Dauerempfinden Übelkeit, dann ist es nahezu menschlich, was wir in allen Sparten der Gesellschaft erleben und was uns so oft in die Verzweiflung treibt: Die ganze Orientierungslosigkeit, die ganze Konzeptlosigkeit, die Hetze, die Unfähigkeit, sich auf etwas zu fokussieren, die Panik und das Gefühl der Unrast. Es gab zwar historisch bereits Phasen, die ähnliches erlebten und hervorbrachten, wie die Industrialisierung einherging mit dem epidemisch verbreiteten Gefühl der Neurasthenie, der Unrast, die sich zu einer Epochenkrankheit mauserte. Heute jedoch ist es wesentlich schlimmer mit allem, mit dem Tempo, mit dem Grad der Veränderung, mit der Orientierungslosigkeit.

Vielleicht ist es ratsam, sich die Vehemenz des Augenblickes vor Augen zu führen, bevor über diejenigen geurteilt wird, die diesem Druck nicht mehr gewachsen sind und nach Erleichterung suchen. Technologisch, ökonomisch, ökologisch und sozial ist das, was früher eine Generation der Gattung auszuhalten hatte, heute auf weniger als in Jahrzehnt geschrumpft. Die sozialen Erfahrungen als der Fundus, aus dem der homo sapiens am meisten zu lernen in der Lage ist, schrumpft genauso schnell wie das notwendige Veränderungswissen anschwillt. Es geht, wie wir aus der Hirnforschung mittlerweile wissen, aber wem es nicht gelingt, seine Hirnzellen wie Muskeln zu trainieren, der steht sehr schnell im Kuriositätenkabinett und wird von einer geschichtslos dumpfen Masse als Anachronismus verhöhnt.

Wichtig scheint zu sein, sich nicht auf intergalaktische falsche Fährten setzen zu lassen, sondern dort zu bleiben, wo das tatsächliche Leben stattfindet. Das macht Friedman übrigens sehr überzeugend in seinem Buch. Er erzählt davon, dass er viele seiner Interview-Partner gerne in Hotels zum Frühstück trifft, um das Angenehme mit dem Nützlichen zu verbinden. Und jedes Mal, wenn seine Verabredung nicht rechtzeitig erscheint, genießt er die Zeit, um sich mit Dingen auseinanderzusetzen, die sonst keine Beachtung finden. Das beginnt bei der Beobachtung der Umgebung und kann bis zur Reflexion von Geschichten gehen, die im Bewusstsein präsent sind. Es geht um Kontemplation und Reflexion, den aussterbenden Refugien des menschlichen Geistes in der Epoche der Beschleunigung.

Die Begrüßung der Zuspätkommenden durch den Autor, Thank you für being late, bringt es auf den Punkt. Die Dysfunktionalität des Systems kreiert die Chancen.

Strukturelle Karambolage

Eine der großen Visionen unserer Tage definiert sich über Interkulturalität. Damit steht ein Begriff in der Landschaft, der durch seine bloße Existenz große Illusionen herstellt, die mit ihm selbst gar nicht zu realisieren sind. Das Bild von Interkulturalität ist nämlich keine reale Komposition, sondern die Existenz des Nebeneinanders, des sich vielleicht auch gegenseitigen Durchdringens, aber nicht die Möglichkeit der Simultanität. Eine Gesellschaft, die sich multikulturell nennt, bietet die Lebens- und Existenzmöglichkeit für verschiedene, unterschiedliche Kulturen, ohne andere um dieser Möglichkeit willen zu diskriminieren. Allein dieses ist schon sehr selten, denn die gleichzeitige Existenz verschiedener Kulturen auf gleichem Raum ist in der Regel verbunden mit Momenten der Diskriminierung.

Multikulturalität an sich ist jedoch nicht der Zustand kultureller Konkordanz, also einer einträchtigen gemeinsamen Existenz, sondern schlicht und einfach eine Kompetenz. Multikulturalität als Kompetenz bedeutet, die wesentlichen Merkmale der anwesenden Kulturen bestimmen zu können und in der Lage zu sein, zwischen diesen zu vermitteln. Die gleichzeitige Existenz verschiedener Kulturen erfordert diese Kompetenz, um die diskriminatorischen Elemente, die jeder Kultur innewohnen, im Prozess des Zusammenlebens zu minimieren. Multikulturalität ist die Moderation zwischen unterschiedlichen humanen Systemen, ohne zu werten.

Das, was landläufig als Multikulturaliät bezeichnet wird, ist das genaue Gegenteil dessen, was es eigentlich bedeutet. Mit Multikulturalität wird der Zustand eines friedlichen, synergetischen Nebeneinanders beschrieben, das durch die gleichzeitige Existenz verschiedener Kulturen auf gleichem Raum entsteht. Dass es zum Wesen einer Kultur gehört, anderes auszugrenzen, um eine eigene Entität zu gewinnen, wird dabei ebenso ausgeblendet wie die Gewissheit um die Notwendigkeit professioneller Moderation.

In der jüngeren Historie wird der Begriff von Multikulturalität zumeist in Form von hiesigen Kulturprojekten oder sinnesbetäubender Stadtteilfeste gesehen. Multilkultiuralität als Ursache von kriegerischen Konflikten werden in dieses Bild nicht mit aufgenommen. Die verheerendsten kriegerischen Auseinandersetzungen unserer Tage sind jedoch immer mit dem Stigma existierender, schlecht moderierter Multikulturalität verbunden. Daher ist es hilfreich, sich nicht die so schönen Stadtteilfeste anzuschauen, sondern die Konflikte in Syrien, im Jemen, in der Türkei, im Sudan, in Myanmar. Diese Konflikte sind weit genug weg, um nicht in den Bann der Trübung zu fallen, die hier existiert, vor allem durch das Mantra eines Idealzustandes, der unterstellt wird, obwohl er nirgends existiert.

Die Negativzeichnung ist im kognitiven Prozess ein wichtiger Schritt. Sie vermittelt Kenntnisse darüber, welche Muster zu welchen Reaktionen führen. Und in diesen Negativzeichnungen ist zu lesen, dass die Dominanz einer Kultur nicht die Ursache missglückter Interkulturalität ist, sondern die aggressive Ablehnung jeglicher anderen Kultur, der Wille, auf Kosten anderer zu expandieren und der Unwille, sich aufgrund sozialer Anforderungen selbst einzuschränken.

Es ist geraten, sich von der Illusion zu befreien, es existierte auch nur eine Kultur, die nicht durch die Negation des anderen entstanden wäre. Und es ist geraten, sich die Bedingungen anzusehen, die erforderlich sind, um zu einer Konkordanz unterschiedlichen Kulturen zu kommen. Es handelt sich dabei nämlich nicht um einen Katalog der freien Entfaltung, sondern um eine Liste von Einschränkungen der eigenen Kultur, die die gleichzeitige Existenz vieler anderer Kulturen beinhaltet.

Und es wäre sinnvoll, sich von der Dramaturgie deutscher Kulturbesoffenheit etwas zu entfernen und vielleicht öfters von unterschiedlichen Zivilisationen zu sprechen. Das minimiert das Risiko einer strukturellen Karambolage.