Archiv für den Monat Mai 2010

Geübt in der Skandalisierung der Normalität

Mit tränenerstickter Stimme trat Bundespräsident Horst Köhler vor die laufenden Kameras und erklärte seinen Rücktritt. Die Reaktionen, so das scheidende Staatsoberhaupt, auf seine Ausführungen zu Afghanistan auf dem Rückflug von eben dort hätten gezeigt, dass es gegenüber dem Amt nicht mehr den nötigen Respekt gebe. Köhler hatte es gewagt, die Aufmerksamkeit des Afghanistaneinsatzes der Bundesregierung von der offiziellen Rhetorik der political correctness abzuwenden und etwas ausgesprochen, das weder in Frankreich, Großbritannien, Spanien, Italien, geschweige denn den USA, Kanada oder Australien in irgend einer Weise Aufsehen erregt hätte. Dass nämlich eine Exportnation mit der industriellen Wucht Deutschlands es nicht hinnehmen könne, wenn die Handelswege oder die Infrastruktur für den globalen Warenaustausch von terroristischen Hitzköpfen gefährdet oder zerstört würden.

Horst Köhler ist nicht der Erste, der politischen Schaden daran nimmt, dass er die Normalität beim Namen nennt. Nach der halsbrecherischen Eskapade der damals neu im Amt befindlichen Regierung Schröder-Fischer, die als erste nach dem II. Weltkrieg die Bundeswehr in einen bewaffneten Konflikt auf dem Balkan geführt hatte, musste diese lange an dem Manöver laborieren, ehe sie wieder in ruhigere Fahrwasser geriet. Der Propagandaaufwand für die Bomben auf Serbien trugen damals totalitäre Züge, die Logik war an Absurdität nicht mehr zu überbieten, indem das Wesen des Krieges als die Notwendigkeit für die Intervention in diesen herhalten musste. Und heute, mehr als eine Dekade später, gestehen eigentlich alle damals Involvierten, dass es der Preis gewesen sei, im Ensemble der Mächte aus dem gesicherten Windschatten der USA heraus auch in Zukunft eine Rolle spielen zu können. Der Schock im ach so pazifistischen Deutschland saß so tief, dass dieselbe Regierung nur kurze Zeit später das gesamte Anti-Kriegsregister gegen die Bushaggression im Irak zog, um sich beim Wahlvolk wieder rehabilitieren zu können.

Es scheint so zu sein, dass wir ein freie Nation, ja Wirtschaftsmacht sein wollen, die jederzeit das Prädikat für die Weltmeisterschaft beansprucht, die aber nicht bereit ist, das Preisgeld für das imperiale Turnier mit zu entrichten. Da bewegt man sich lieber weiterhin im Kinderzimmer der Nachkriegsentmündigung, als die farbigen GIs aus dem Bundesstaate Alabama und ihre Hintern herhalten mussten, damit die neugeborene Wohlstandsnation ihre edle Weltsicht im eigenen Land ausleben konnte. Dass diese Haltung bis heute gelebt werden kann, ohne in den eigentlichen Fokus der gesellschaftlichen Entrüstung zu geraten, sollte eher alarmieren als alles andere. Die Ausführungen der zur Kultfigur avancierten damaligen Bischöfin Käßmann charakterisierten sehr gut die auch hier vorhandene Substanz dessen, was gegenüber dem Islam so oft als Fundamentalismus bezeichnet wird.

Und ob, der Vollständigkeit halber, es einen Zusammenhang gibt zwischen den Rücktritten Kochs und Köhlers in nur wenigen Tagen, und ob diese ein Indiz sind für gar nicht so pazifistische Machtkämpfe im Regierungslager, das wird sich auch noch zeigen, hat aber nichts mit der Hysterie zu tun, die einem immer wieder begegnet, wenn man das Normale in Worte fasst.

Der lange Ritt durch die Ebenen des Blues

Jimmie Vaughan. Plays Blues, Ballads & Favorites

Nun ist er schon fast Sechzig! Der ältere Bruder. Aber im Gegensatz zu seinem jüngeren und erfolgreicheren Bruder Stevie Ray, der bereits in Form eines Denkmals am Colorado River zu Austin steht, lebt Jimmie Vaughan noch. Dennoch stand er immer im Schatten des Jüngeren, der schon zu Lebzeiten, aber mehr noch durch seinen tragischen Hubschrauberabsturz zum Mythos wurde. Aber Jimmie Vaughan ist uns geblieben und er lässt immer wieder von sich hören. Der Mann aus Dallas, Texas, der dem Blues der Prärie zeit seines Lebens treu geblieben ist. Die nun vorliegenden Aufnahmen zeigen Jimmie Vaughan von seiner besten Seite: Bluesig, etwas rockig, zurück genommen und mit einem Bläsersatz, der diesen Blues erst zu dem macht, was er ist, nämlich Texas at it´s best!

Egal, welche Titel man sich aussucht, sie alle könnten in einem All Time Favorite ihren Platz finden, weil sie irgendwie repräsentativ und klassisch sind. Mit The Pleasure Is All Mine, das sich etwas schleppend und lakonisch durch die Routine des Alltags zieht und die coole Lebensart ins Zentrum der Überlebensphilosophie stellt, wird das Album nicht umsonst eröffnet. So heißt es nicht viel später, I´m Leavin´It Up To You, und es wird deutlich gemacht, das hier, im staubigen Texas, jeder für das einstehen muss, was er für sich wählt. Und im RM Blues wird man den Eindruck nicht los, man sitzt in einem Zug Richtung Norden und bereut schon nach kurzer Zeit, dass man überhaupt eingestiegen ist. Schleppend bewegt sich das eiserne Ross in die Kälte und nur der Gedanke an die enttäuschende und verlorene Liebe lässt den Wahnsinn zu, dem man sich da aussetzt. Und letztendlich bei Funny How Time Slips Away wird der alles andere als markante Sänger Jimmie Vaugahan zum Chronisten seiner eigenen Lebenserfahrung. Da ist trotz aller Profanität keine Reue, da macht ein Mann sein Ding, weil er sein Ding machen will und muss. Wer da lamentiert, der ist ein schlaffer Hound Dog, da fehlt die Klasse.

Alle fünfzehn Titel sind etwas für Leute, die ihren Genuss nicht in der Jagd nach Neuigkeiten finden, die von irgendeiner technischen Finesse geprägt werden, die letztendlich nichts aussagt. Das, was Jimmie Vaughan hier abliefert, das ist großartiger, gepflegter Blues aus Texas, der seine Legitimation aus dem eigenen Selbstbewusstsein zieht. Mit der klassischen Bluesbesetzung von Gitarre, Bass und Schlagzeug und einem kleinen Bläsersatz hat vieles die Aussagekraft einer Big Band, weil die verschiedenen Parts allesamt von Leuten gespielt werden, die den Blues haben, und die wissen, was sie da machen. Mal singt Jimmie Vaughan selbst, mal ist eine Gastsängerin am Werk, aber das ist alles egal. Irgendwie hat man das Gefühl, man säße in einer der kleinen Bars in der 6. Straße von Austin, es wäre schwarze Nacht und furchtbar heiß, das Eis im Glas schmölze allzu schnell und man würde das Gefühl nicht los, einer Band zuzuhören, der es scheißegal ist, was sich da draußen alles abspielt, Hauptsache, es macht Spaß. All Night Long!

Ein Schwanengesang auf die Demokratie

Colin Crouch. Postdemokratie

Seit der italienischen und britischen Erstauflage im Jahre 2003 gilt das Werk als ein Klassiker in Sachen Auflösungserscheinungen von Demokratie. Mit dem Begriff Postdemokratie schuf der Politikwissenschaftler einen Terminus, der sich an das Paradigma Aufstieg-Blüte-Verfall anlehnt und somit all jene interessiert, die schon lange glauben, dass die Demokratie den Bach herunter geht. Zumal Crouch selbst sehr dezidiert untermauert, dass Postdemokratie auch ein Synonym ist für Politikverdrossenheit, Sozialabbau und Privatisierung. Nichtsdestotrotz greift Crouch tatsächlich zahlreiche Aspekte auf, über die alle nachdenken müssen, die nicht unreflektiert und ungefragt in einem Prozess mit fortgerissen werden wollen, in dem die Konturen der Macht schon längst Formen angenommen haben, die nicht mehr mit den gesetzten Institutionen der Demokratie übereinstimmen.

In insgesamt sechs Abschnitten setzt sich Crouch mit dem Thema auseinander. Nach einer ausführlichen Definition des Begriffs Postdemokratie und einer Beschreibung ihrer Erscheinungen, die alle in einer Ent-Institutionalisierung, Ent-Formalisierung und De-Regulierung zu finden sind, widmet sich der Autor den Rahmenbedingungen in Form der Weltwirtschaft und der in ihr operierenden globalen Unternehmen. Die Infrastrukturen, in denen sich diese Konglomerate bewegen, sind strategisch den nationalen Politikformationen überlegen. Anhand der Konkurrenzstiftung der Standorte durch die globalen Player beschreibt Crouch überzeugend, wie desolat es um die Machtstellung des lokalen Souveräns bestellt ist: In einem fortschreitenden Prozess der gegenseitigen Unterbietung werden alle Voraussetzungen und Werte, die ein Gemeinwesen ausmachen, zugunsten des nackten Überlebens geopfert. In einem weiteren Kapitel beleuchtet Crouch die Auswirkungen dieser Entwicklung auf die sozialen Klassen, deren Konturen sich mit der Globalisierung nicht nur verwischt haben, sondern auch neuen Funktionseliten hervorbrachten, die jenseits staatlicher Legitimation und Rollenbeschreibung operieren. Die Auswirkungen sind bis in die politischen Parteien zu sehen, die dem Verlust ihrer Massenbasis allzu oft mit der Kopie dieser Funktionseliten begegnen wollen, was sie nicht selten zu tragikomischen Erscheinungen degenerieren lässt und ihr Ansehen in einer längst veränderten Wählerschaft nur noch verschlechtert. Letztendlich wird ein Blick auf die wachsende Privatisierung von Leistungen geworfen, die in Hochzeiten der Demokratie immer als hoheitliche Aufgabe staatlicher Institutionen gewertet wurde.

Alles in allem handelt es sich bei dem Buch um ein vom Umfang her übersichtliches, aber reichhaltiges Kompendium an Fragestellungen, die allesamt essentiell sind, wenn wir es mit einer Weiterentwicklung der Demokratie ernst meinen. Obwohl der phänomenologische Ansatz auf den ersten Blick vernünftig erscheint, zeigt er gerade zu dem Zeitpunkt, an dem die Gedanken sich der Frage nach Lösungsansätzen widmen sollten, seine Schwäche: Man verharrt in der Falle der institutionellen Erosion. Da ist es zielführender, sich dem zu widmen, von dem die Demokratie ausgeht, d.h. dem Menschen respektive dem Volk. Nur wenn dort eine kritische, veränderungsaffine Entwicklung einsetzt, lohnt es sich noch, über Institutionen nachzudenken.