Archiv für den Monat Januar 2021

Die Rückkehr des Sonnenkönigs

Die Auseinandersetzungen zwischen Bürgern und Staat haben in den westlichen Demokratien zugenommen. All jene, die sich auf die Straßen wagen, um ihren Widerspruch zu Regierungshandeln zu bekunden, sind, anders als in früheren Zeiten, sehr schnell der Staatsfeindlichkeit verdächtigt. Was läge, anhand einer derartigen Ausbreitung eines zeitgenössischen Phänomens, näher, als sich den Staat, so wie er sich darstellt, noch einmal näher vor Augen zu führen.

In der Theorie über die bürgerliche Demokratie handelt es sich bei dem Begriff um die Vergegenständlichung des Volkswillens in seiner unabhängigen Form. Das klingt wirr, ist es aber ganz und gar nicht. Über freie, geheime und gleiche Wahlen werden aus dem Volk Menschen gewählt, die ihrerseits die Politik gestalten, Gesetze beschließen und diese mittels der Organe und Institutionen, die ein Staat aufbietet, Realität werden lassen. D.h., auf gut Deutsch, der Apparat und die Bürokratie folgen der Politik. 

Wie jede Theorie muss sich auch die vom bürgerlichen Staat an der Praxis messen lassen. Etwas, das man im letzten Jahrhundert noch einen Systemvergleich nannte, nämlich das Messen der bürgerlichen Gesellschaften an denen, die sich auf das Proletariat beriefen und sich sozialistisch nannten, ist Schnee von gestern. Zu vergleichen gibt es nichts mehr. Und auch die Staaten der bürgerlichen Gesellschaften haben sich seitdem verändert, d.h. seit sie sich nicht mehr mit einer anderen Staatsvariante messen mussten, sind sie selbstvergessen in ihre Selbstauflösung geschlittert. Die Ideologie des Wirtschaftsliberalismus hat den Staat überall dort, wo er noch so etwas wie das Agieren für das Gemeinwohl reklamierte und bestimmte Güter den Gesetzen des freien Marktes entzogen hat, mit Erfolg den Kampf angesagt. Das Finanzkapital hat sich zum neuen Sonnenkönig gemausert, der den Staat als Identität mit den eigenen Interessen definiert.

Die alten, klassischen Varianten der Interessenvertretung haben durch Globalisierung und die damit verbundene erneute Revolutionierung von Märkten und Technologien allenfalls noch den Stellenwert einer nostalgischen Reminiszenz. Weder Parteien noch Gewerkschaften haben die Stärke, Interessen großer Teile der Bevölkerung gegen das allgegenwärtige Konsortium des unvorstellbar großen Geldes durchzusetzen. Und ein Staat, der seine Organe mehr und mehr zu einer die Bevölkerung unter Kuratel stellenden Bürokratie ausgebaut hat, sieht sich nun konfrontiert von einer wachsenden Skepsis einer sozial heterogenen Bürgerschaft. 

Die Manöver, Dissens mit dem Vorwurf des politischen Irrsinns abtun zu wollen, das derzeit wohl gängige Muster des Umgangs mit Widerspruch, haben sich genauso verzehrt wie das Reklamieren von Werten, ausgerechnet von jenen Karrieristen, die alles verkauft haben, was sie via Geburt in einer Gesellschaft mitbekommen haben: Ihre Klasse und die damit verbundene Vorstellung sozialen Handelns. Sie haben die Kenntnis nie erworben, dass sowohl Apparate als auch Parlamente synthetische Sozialräume sind, die zwar in der Lage sind, alles zu simulieren, was woanders auch gilt, aber dennoch nicht zu vergleichen sind mit der „richtigen“ Welt. Die in einem ganz bestimmten, seriell hergestellten Karrieremuster sozialisierten Verkünder der demokratischen Werte haben diese längst hinter sich gelassen.

Der Staat, so hieß es einmal, in einer Zeit, als die Gesellschaft weitaus offener war, als es sich die heute als offen reklamierte jemals wird vorstellen können, der Staat, das sind wir! Dass es sich auch dabei um eine Illusion handelte, hat die Geschichte immer wieder dokumentiert. Zu bedenken sollte sein, dass diese Illusion heute keinem mehr über die Lippen käme. Das ist beredt  genug. Der Sonnenkönig ist längst zurück und verbirgt sich hinter astronomischen Zahlen.

Was die Verhältnisse zum Tanzen bringt — Neue Debatte

Die politisch Handelnden, die sich in einer Echokammer befinden und die durch die Medienstruktur abgesichert ist, erhalten keinen Reflex mehr auf das eigene Vorgehen. Sie fühlen sich nicht nur im Recht, sie sind auch davon überzeugt, das die Feinde der Demokratie woanders auszumachen sind. Das ist der Fehlschluss, der die Verhältnisse zum Tanzen bringen wird.

Was die Verhältnisse zum Tanzen bringt — Neue Debatte

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Wenn reklamiert werden muss, dass der Streit die vitale Quelle der Erkenntnis ist, dann beschreibt das auch die Verhältnisse, wie sie sich im Moment gestalten. Gegenwärtig haben sich zumindest die politischen Entscheider auf eine Position manövriert, die jede Form von Widerspruch als das gesamte System gefährdend diskreditiert. Mehr und mehr werden die eigenen Standpunkte zu einem absolutistischen Menetekel, das nichts mehr neben sich duldet. Vor einem größeren historischen Muster betrachtet handelt es sich dabei um eine Blickverengung, einhergehend mit einem dogmatischen Rigorismus, der typisch ist für Situationen, in denen die Lage kippen wird. Damit ist eine Form der Bewegung gemeint, die blitzschnell eine relative Ruhe in einen Zustand rascher Veränderung verwandeln kann. Was das bringen wird, steht in den Sternen. Was es nicht bringen wird, ist bereits sicher. Vieles von dem, was als die alte Normalität bezeichnet wird, wird sich nicht mehr einstellen.

Wie immer ist es, zumindest an dieser Stelle, von besonderem Interesse, wie die Panik und die Verhärtung, die sich in der politischen Nomenklatura in den letzten Jahren breit gemacht hat, auf die Gesellschaft wirkt. Was das alles, d.h. die wachsende Unfähigkeit, in einer argumentativen Auseinandersetzung mit Widerspruch umzugehen und stattdessen verstärkt auf Diskriminierung und Ausgrenzung zu setzen, in den Köpfen derer bewirkt hat, die so gerne euphemistisch als Zivilgesellschaft bezeichnet werden, ist von seiner politischen Stoßrichtung noch nicht ausgemacht. Was jedoch bereits jetzt überdeutlich wird, ist die Abwendung großer Teile der Gesellschaft von dem, was als das politische System bezeichnet wird.

Die Akteure in Verantwortung bemerken dieses deutlich, nur sind sie anscheinend nicht dazu in der Lage, zu erkennen, dass das eigene Verhalten dazu beigetragen hat. Diskriminierung anzuprangern, indem man selbst diskriminiert, Ausgrenzung zu bemängeln, indem man selbst ausgrenzt, Populismus zu geißeln, indem man selbst in populistischen Vorgehensweisen schwelgt – das alles hat nicht dazu beigetragen, die Kluft zwischen Politik und Gesellschaft zu überwinden. Täglich finden sich Beispiele, die belegen, dass die politisch Handelnden, die sich in einer Echokammer befinden und die durch die Medienstruktur abgesichert ist, keinen Reflex auf das eigene Vorgehen mehr erhalten. Sie fühlen sich nicht nur im Recht, was man ihnen zugestehen kann, aber sie sind auch davon überzeugt, das die Feinde der Demokratie woanders auszumachen sind. Das ist der Fehlschluss, der die Verhältnisse zum Tanzen bringen wird.  

In vielen Punkten wird das eigene Handeln mit einer Umschreibung begründet, die von Margaret Thatcher, der ersten europäischen Ikone des Neoliberalismus, bereits in den 1980er Jahren geprägt wurde: alternativlos. Gerade die jetzige Regierung hat sich immer wieder des Begriffes bemächtigt und damit die eigene Entfernung von einem demokratischen Prozess beschrieben. Und die Verblendung, die daraus resultiert, mündet, bleiben wir in der Aktualität, in Maximen, die da lauten, wir hören auf die Wissenschaft. Dass mit „der“ Wissenschaft eine Handvoll Virologen und Epidemiologen gemeint sind, ist hinlänglich bekannt, dass damit weder Soziologen noch Volkswirte, weder Psychologen noch Kulturwissenschaftler, weder Kriminologen noch Pädagogen gemeint sind, hat sich bereits herausgestellt und ist eine weitere Bestätigung für die stattgefunde Verengung. Die eigne Begrenzung auf ein überschaubares Handlungsspektrum wird als Abbild der komplexen Welt missverstanden.

Alternativlos scheint hingegen nur eines zu sein: Der Abschied von einer Politik der Ignoranz und Verhärtung und die Orientierung auf den Streit um räsonable Alternativen gesellschaftlichen Handelns.