Archiv für den Monat Februar 2010

Underground in Westberlin

Förg Fauser. Das Schlangenmaul

Wenn es Biotope für einen deutschen Underground in der alten Bundesrepublik gab, dann waren diese allenfalls in Frankfurt, aber eigentlich am besten in Westberlin zu finden. Die irrwitzige politische wie geographische Inselsituation mit ihrer eigenen Lebensphilosophie hatte in den siebziger und achtziger Jahre viele angelockt, die in der eher konservativ gesetzten und bürgerlich definierten Republik nicht zurecht kamen. Outcasts, Dropouts, Zocker, Schieber und Luden konnten sich in Berlin besser entfalten als anderswo. Mit ihnen korrespondierten politische Figuren, die aus den intransparenten Wiederaufbaustrukturen mit ihren Schwarzmärkten und Kellerdeals erwachsen waren. Eine Folie, die niemand anderes zu einem Undergroundroman so gekonnt und sprachlich pittoresk nutzen konnte wie Jörg Fauser. Das Schlangenmaul erschien erstmals 1985 und ist bis heute eine lohnende Lektüre für alle, die das Genre mögen.

Die Handlung ist so abstrus wie das soziale Feld, auf der sie sich bewegt. Da ist zum einen der heruntergekommene Gossenjournalist Harder, der selbst in der Regenbogen- und Sensationspresse seinen Platz verloren hat und mit einem Inserat, in dem er sich als Bergungsspezialist für besonders heikle Fälle anbietet, wieder zum Zuge kommt. Er bekommt einen Auftrag von der Gattin eines auf Entzug befindlichen Politikers aus Hannover, die sich um den Verbleib ihrer Tochter sorgt, die spurlos verschwunden ist. Die Mutter selbst hatte während der durchtränkten Karriere ihres Mannes ein Verhältnis mit einer schillernden Figur der Berliner Unterwelt. Mit dem genetisch sicheren Gespür des Skandaljournalisten findet Harder heraus, dass der Weg der Vermissten zu diesem Zuhälter und Obskurantisten führt, der in Berlin im Bordell- und Zockermilieu operiert. Unter anderem betreibt er einen Club Kamasutra, in dem unter dem Deckmantel spiritistischer Neigungen der nur noch pathologisch erklärbare Kick nach der ultimativen sexuellen Klimax unter Einbeziehung giftiger Riesenschlangen gewährleistet werden soll. Tatsächlich spielt die vermisste Tochter in dieser Gegenwelt hypnotisiert und unter Drogen unter dem Namen Shiva eine Rolle. Der Showdown erfolgt in einem Anwesen am Rande Berlins, wenige hundert Meter vor der Mauer, in der die Schlangen gehalten und mit Hilfe mysteriöser Berliner Politiker eine Geschäftsidee entwickelt werden soll, in der die Schlangenpraktiken im Mittelpunkt stehen. Unter Gunpoint gelingt es Harder, das Mädchen zu befreien, dabei erliegt der Ludenkönig dem Biss einer giftigen Schlange und die Hütte brennt ab. Harder bekommt von der Mutter der Geborgenen einen Scheck über 20.000 Mark, den er jedoch vor einem Steuerfahnder, der ihm schon lange auf den Fersen ist, zerreißt, mit der Bemerkung, er sei faul, weil selbst ihn, den Dropout, die Perversion der polit-kriminellen Sphäre nur noch anwidert.

Der Roman ist spannend zu lesen und vor allem ein weiteres Indiz für den sicheren Blick Fausers für das Abstruse und Irrwitzige. Die Sprache gehört zu dem Besten, was in diesem Genre je in Deutschland durch die Printmaschinen gejagt wurde. Sie ist lasziv, gefährlich, giftig und treibt den Puls hoch.

Chinesische Meritokraten

Unter deutschen Managern, die im Zeichen der Globalisierung des Öfteren den sie beschäftigenden multinationalen Konzern wechseln, kursiert eine Warnung an die Berufskollegen. Sie besagt, dass man tunlichst vermeiden sollte, sich von einem Konzern engagieren zu lassen, in dem chinesisches Management das Sagen hat. Selbst unter diesen Hochleistern hat man gewaltige Manschetten vor dem Druck und der Rigorosität, den chinesische Manager erzeugen. Sie pressen dich aus wie eine Zitrone, für sie gilt nur Leistung und Ergebnis, so heißt es.

Mal abgesehen davon, dass die Orientierung auf Leistung und Ergebnis den originären Sinn von unternehmerischem Handeln ausmachen und sich die Frage stellt, wie extrem dieses Ansinnen in dem einen oder anderen Kulturkreis definiert wird, ist es noch interessanter, diese Aussage, der bis dato niemand widersprochen hat, vor dem Bild zu sehen, das doch immer wieder von China gezeichnet wird. Da ist die Rede von einem gelenkten, staatsmonopolistischen Kapitalismus unter kommunistischer Führung, die ihrerseits die Nomenklatura bildet für die Besetzung der strategisch relevanten Stellen. Wäre dieses exklusiv der Fall, dann zählte die Parteizugehörigkeit mehr als die Leistung und die Linientreue mehr als das Ergebnis. Sieht man sich jedoch die Resultate chinesischen Wirtschaftens genau an, so erscheint diese Deutung abstrus.

Die gewaltigen wirtschaftlichen Leistungen der Volksrepublik China sind nur zu verstehen, wenn man den allgemeinen Fortschritt der Produktivität mit den Werten und Einstellungen in der Gesamtbevölkerung korreliert und sich fragt, wer letztendlich die Machtpositionen erhält. Dass China eine konfuzianische Wertorientierung in sich birgt, in deren Zentrum die Leistung steht, ist das eine. Dass diese Wertorientierung in einer Bevölkerung lebt, die an den Lohn für die Leistung glaubt, ist das andere und es sagt etwas aus über das Vertrauen der Menschen in ihr System. Das mag den Satten in den niedergehenden Ökonomien nicht schmecken und sie dazu verleiten, die aufstrebende und vor allem bereits real existente Macht zu diskreditieren, und sei es, man huldigt im Exil lebende Schamanen aus der Feudalzeit – aber es ändert nichts an dem Faktum.

Und obwohl die Kommunistische Partei das Machtzentrum des neuen Chinas ist, und obwohl es Fälle von Korruption und Nepotismus gibt, scheint es in der Gesamtheit gelungen zu sein, die Funktionäre und Manager nach den Kriterien von Fähigkeit und Leistung auszusuchen. So treffen wir in der funktionsbezogenen herrschenden Klasse Chinas eine moderne Form der Meritokratie an, also einer Herrschaft, die auf dem Verdienst für das Gemeinwesen oder die Organisation basiert. Diese Klasse ist aufgrund der eigenen Professionalität und Durchsetzungskraft an Selbstbewusstsein nicht mehr zu überbieten. Das zeigt sie, wenn sie ihrer Kerntätigkeit nachgeht und das macht sie so gefürchtet. Als Staat hingegen hält sich das neue China sehr zurück und ist überaus maßvoll, verglichen mit der Macht, die es tatsächlich schon inne hat.

Der Fluch des Normativen

Irgendwie passt es nicht ins Bild. Da wird seit ungefähr zwanzig Jahren von den Leistungsträgern einer Gesellschaft gesprochen, deren Mühen sich wieder lohnen sollen. Gemeint sind zumeist Unternehmer und Geschäftsleute, die durch ihre Initiativen und Ideen wirtschaftliche Bewegung auslösen. Diejenigen, die das dann umsetzen und deren Entgelt durch ein beachtliches Steueraufkommen abgeschmolzen wird, fühlen sich zwar häufig durch den politischen Slogan angesprochen, aber Zielgruppe sind sie nicht. Die eigentliche Zielgruppe zahlt im internationalen Vergleich nicht die große Steuerlast. Zudem findet man immer wieder exponierte Vertreter dieser Spezies, die z.B. in den USA in Fußfesseln der Öffentlichkeit vorgeführt würden, hier aber zu den Banketten des offiziellen Berlins gerne eingeladen werden.

Was wir erleben, ist eine fast typische Geschichte, die in die Annalen der allgemeinen Dekadenzforschung gehört. Das Normative nämlich, das Postulat, dass sich Leistung lohnen müsse, ist ein Satz, den jeder unterschreiben kann. Angesichts der Erfahrungen, die zu sammeln wir gezwungen sind, drängt sich die Frage auf, was mit dem Lohn wohl gemeint sein kann. Denn es gibt Einkünfte auf erbrachte Leistungen, von denen Steuern und direkte Beiträge zum Sozialnetz wieder abgezogen werden, sodass das Dasein als ein hartes bezeichnet werden muss. Das an sich ist keine Schmach und wir sollten uns endlich von der zivilreligiösen Vorstellung verabschieden, dass unsere Existenz hier auf Erden dazu da sei, jedem das Glück zu bescheren und die Mühsal zu ersparen. So verblendet waren selbst die Menschen im Mittelalter nicht, nein, gegen heute scheinen sie sogar hoch aufgeklärte Vertreter ihrer Gattung gewesen zu sein.

Andererseits müssen wir feststellen, dass die direkten Adressaten des normativen Leistungsslogans zu den Wohlhabenden zählen. Das ist kein Verbrechen. Was allerdings einige dieser Spezies, die man getrost zu der so genannten Elite des Landes zählen muss, veranstalten, um sich der Verantwortung als sozialem Wesen zu entziehen, das ist nicht mehr dazu angetan, gesellschaftliche Synergien zu schaffen. Die Hinterziehung von Steuern, weil man das Gemeinwesen nicht als das seine betrachtet, das Verzocken von Vermögen, an deren Wirken andere Existenzen hängen, der Verkauf von Produktionsanlagen, weil man die Mühen scheut, und die Zahlung von Geldern, um Vorteile zu erlangen, die Mittellosen verwehrt werden, all das sind Eigenschaften, die fern sind von der normativen Formulierung des Leistungsbegriffs.

Die kulturelle Deformation des politischen Diskurses ist bereits soweit fortgeschritten, dass man gut beraten ist, hinter vernünftig klingenden Zielen den reinen Zynismus oder die bloße Infamie zu suchen. Und es fällt schwer, noch Impulse zu entdecken, die frei sind von Zynismus oder Eigennutz. Der Fluch des Normativen ist, dass es dazu verleitet, die Worte mit den Taten vergleichen zu wollen. Und in den hier geschilderten Fällen kann das nicht anders als böse ausgehen.