Archiv für den Monat Dezember 2009

Ein Appell gegen die Weltreduktion auf Algorithmen

Frank Schirrmacher: PAYBACK

Dass der Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Frank Schirrmacher, eine Spürnase für komplexe Trends hat, bewies er spätestens 2005 mit seinem Buch Methusalem-Komplott. Nun hat er sich eines Sujets angenommen, das ebenfalls nicht nur alle gesellschaftlichen Bereiche durchdringt, sondern bis in die die Hirne der Individuen längst vorgestoßen ist und das humane Denken beeinflusst: Die Präsenz des Computers mit seiner algorithmischen Funktionsweise.

Die Phänomene, die Schirrmacher in seinem Buch beschreibt, kennt jeder, der im Arbeitsleben steht. Die Omnipräsenz der Computer, deren Funktionsweise es vermocht hat, sich von einem nützlichen Instrument zu einer dominanten Befehlsgewalt zu etablieren. Systematisch durchpflügt Schirrmacher die mystischen Felder, die mit der Digitalisierung aufgetan wurden. Da ist die Rede von der Schimäre des Multitasking, d.h. der angeblichen Fähigkeit der Computer, verschiedene Aufgaben gleichzeitig zu bearbeiten, was prompt als Forderung an die Menschen weitergeleitet wurde. Nicht nur, dass letztere daran scheitern, weil sie selbst sequenziell disponiert sind und den eigentlichen Vorteil genießen oder zumindest genossen, zu priorisieren und nach einer eigenen Bewertung die Reihenfolge von Aufgaben zu bestimmen. Sondern auch die Analogisierung, so absurd es klingt, des menschlichen Denkens mit der rein quantitativ-mathematischen Vorgehensweise der Computer.

Schirrmacher zeigt die logischen Kaskaden der Computerprogramme und die Reduktion aller Erscheinungen auf Algorithmen, wo die quantitative Charakterisierung von Phänomenen zu einer eigendynamischen Qualität wächst, die uns vormacht, als seien humane Denkprozesse hinter den myriadenhaften Rechenoperationen vorhanden. Dass die Anwender vieles von dem, was dort hinter den sichtbaren Kulissen passiert, selbst nicht mehr verstehen, führt zu eigendynamischen Entwicklungen mit teilweise katastrophalen Folgen, wie die Weltfinanzkrise gerade aufgrund ihrer irreführenden Rechenprogramme gezeigt hat.

Die weitaus fatalere Wirkung zeigt sich jedoch in der Konditionierung der Menschen auf die reduktionistischen Vorgehensweisen der Rechenprogramme, in denen eine Wertbezogenheit, die sich aus einer Sozialisation, in der Moral und Ethik eine Rolle spielt, nicht mehr stattfindet. Stattdessen verkommen die humanen Wesen zu Anhängseln, die ihre semantischen Befähigungen, ihre Konzentration und ihre Entscheidungssouveränität einbüßen.

Auf der Suche nach Alternativen stößt der Autor auf das bankrotte Bildungssystem, das selbst die gröbsten Impulse der Fehlentwicklung unreflektiert reproduziert hat. Aber gerade in einer reformierten, neu gedachten Bildung sieht er den Ausweg: Die Abkehr von der exklusiven Wissensvermittlung und die Fokussierung auf selbst bestimmtes, kritisches und strukturiertes Denken. Ein Appell, den alle unterstützen sollten, die es noch können.

Perspektivwechsel erforderlich!

Alle Jahre wieder wird ein weiteres mediales Ritual bemüht. Wie die Betriebsweihnachtsfeier, der geschmückte Weihnachtsbaum und der Gänsebraten erstürmt das Fernsehen noch einmal die Aufmerksamkeit mit mindestens einer gigantischen Wohltätigkeitsgala, in der die Abzocker aus der Medienbranche, die sich für keine Rolle zu schade sind, die Herzen derer öffnen sollen, die man schlechthin die Gewinner nennt, damit sie sich erweichen und ihrem traurigen Gegenüber den Seelenobulus entrichten, der das Gasgeben im neuen Jahr dann wieder erleichtert. Und, zu guter letzt schlägt uns auf jedem TV-Kanal ein Jahresrückblick entgegen, der das Dramatische, das Tragische, das Bewegende und das Skurrile nach einer eigenen Dramaturgie aneinanderreiht.

Nicht, dass es nicht ratsam wäre, am Ende eines Jahres das Geschehen noch einmal Revue passieren zu lassen, um aus der Kontemplation heraus Lehren zu ziehen oder Entschlüsse zu fassen. Das wäre der Stoff, aus dem die Historiographie ihre Existenz nahezu exklusiv abgeleitet hat. Denn das Lernen aus dem, was uns widerfährt, unterscheidet uns von vielen anderen Existenzen. Aber gerade das wird mit den Retrospektiven nicht bezweckt.

Egal, auf welchem Sender die rückblickende Dramaturgie ausgestrahlt wird, sie enthält nicht, was den Fragen eines vernünftigen Subjektes der Geschichte standhielte. Fragen, die nach einer Erklärung suchen, die Motive der Handelnden frei legen, die sich der Ursache eines Ereignisses nähern oder es bewerten. Genau die Kategorien, die sich mit der Analyse von Geschichte beschäftigen, gelten dem dort offenbarten Journalismus als Tabu, was verstören muss. Das Tabu wird begründet mit Neutralität, die erforderlich sei. Dieses Argument verrät die Tristesse, die sich hinter der Ausblendung jeglicher Rationalität verbirgt.

Was uns mit den Jahresrückblicken kredenzt wird, ist eine heftige Portion Ideologie, die uns suggerieren soll, dass wir die passiven Elemente einer Ereigniskette sind. Der Mensch als handelndes, teilweise sogar bewusst handelndes Subjekt ist in dieser Konzeption längst liquidiert. Nein, letztendlich sollen wir mit dem Gefühl aus der Rezeption solcher Sendungen gehen, dass die Welt schrecklich, schön, dramatisch und bizarr ist und wir sie zu nehmen haben, wie sie sich darbietet.

Die wahre Dramaturgie, die sich hinter der geschilderten Präsentation der Zeitgeschichte versteckt, ist hingegen die willentliche Katapultierung des Menschen in die permanente Position der Leideform. Die historisch potenzielle Passivität war immer eines der Paradigmen von Herrschaftsideologie und insofern ist sie nichts Neues. Überraschend ist nur, dass sich diese Art der Begründung von Herrschaftsverhältnissen so unverfroren darbietet und eine Resonanz der Empörung bisweilen ausbleibt. Das mag zum einen daran liegen, dass die meisten Menschen mit ihrer computerisierten Arbeitswelt zunehmend die Gestaltungspotenziale durch Reaktionsräume ersetzen mussten. Zum anderen hat die Politik noch nicht entdeckt, dass das historisch handelnde Subjekt nach wie vor, im tiefsten Innern, eine hohe Attraktion besitzt.

Wenn die Mystifikation zum Problem wird

Dass man in Deutschland mit einem Trauma zu kämpfen hat, wenn es um das Thema Krieg geht, ist nicht verwunderlich. Kaum ein europäisches Volk hat so viele, so verheerende und in ihrer Wirkung so nachhaltige Kriege erfahren wie die Deutschen. Bis in die Poesie hinein hat das Thema uns verfolgt und auf der ganzen Welt werden bis heute die Zeilen Paul Celans zitiert, in denen es heißt: „Der Tod ist ein Meister aus Deutschland.“

Und je größer der Friedenswunsch wurde, desto stärker bahnte sich der Glaube, in einer Welt, die historisch nie ohne Kriege ausgekommen ist, ein Land zu sein, das von großem Gewicht ist, aber sich aus allem heraushalten kann, das nach Krieg riecht. Dieses Geschenk war vor allem den Westdeutschen nach dem Krieg tatsächlich beschieden, in dem die USA die Rolle der Schutzmacht übernahm und die durchaus auch wirtschaftlich imperialen Interessen des Neuen Deutschland so manches Mal durch den Einsatz von Afro-Amerikanern aus dem Staate Alabama gewährleistet wurden.

Mit der friedlichen Wiedervereinigung Deutschlands ging dieses Privileg jedoch dahin und der Druck in der Welt nahm zu, dass Deutschland innerhalb der Weltgemeinschaft auch militärische Aufgaben wahrzunehmen habe. Den schmutzigen Einstieg letztendlich unternahm die Regierung Schröder-Fischer, als sie sich kurz nach ihrer Wahl durch nachweislich gefälschte, manipulierte und moralinsaure Propaganda darauf vorbereiteten, das Herzstück des Balkans, nämlich Serbien, aus geopolitischen Erwägungen vorerst zu zerstören.

Bei Bushs Irak-Krieg zog man hingegen wieder die Bremse und bei der Niederwerfung der Taliban in Afghanistan fuhr man nur mit, um den zivilen Aufbau zu unterstützen. Letzteres gehörte zu den schlimmen Mystifikationen, die bemüht werden, wenn man vermeiden will, die Wahrheit auszusprechen, nämlich sich in kriegerische Handlungen zu begeben. Das allerdings ist vom ersten Tag an in Afghanistan der Fall und wer tatsächlich glaubte, man schicke Soldaten in dieses Land, um Schulen zu bauen, dem ist auch nicht mehr zu helfen.

Wer die Unwahrheit bemüht, um das Trauma des Krieges nicht zu aktivieren, der muss auch bei Folgehandlungen die falsche Hypothese aufrechterhalten. Die kriegerischen Handlungen, in die die deutschen Soldaten zunehmend in Afghanistan verwickelt werden, werden nun von Deutschland aus wie irrsinnige Abweichungen vom eigentlichen Auftrag behandelt. Dass führt dazu, dass sich der Soldat, der in einen Schusswechsel verwickelt wird, Gedanken darüber machen muss, wie seine Handlungen vom Staatsanwalt in Stuttgart beurteilt werden. So wird aus der Notwendigkeit, politisch zu manövrieren, die Fürsorgepflicht gegenüber denjenigen, die den Kopf hinhalten, aufs gröbste verletzt. Wenn die höchsten Funktionsträger des Staates nicht das Rückrat haben, die Notwendigkeiten staatlichen Handelns mit allen Konsequenzen aufzuzeigen, sind die moralischen Fundamente bereits zerstört.