Archiv für den Monat Juni 2011

Avantgarde und Traditionalismus

Die Suche nach Identität ist stets eine Signatur für den Übergang. Wer nicht mehr mit den traditionellen Mustern der eigenen Identität zufrieden ist, glaubt zu bemerken, dass sie ihn nicht mehr in seiner Multidimensionalität erfassen. Es sind Zeiten, in denen der Disput Hochzeiten erlebt, denn es beginnt ein gesellschaftliches Ringen um die Zukunft. Diejenigen, denen das traditionelle Bild noch gefällt, verspüren ein großes Unbehagen gegenüber den tatsächlichen Bewegungen der Neuerung. Die Traditionalisten verteidigen aggressiv ihre alten Formen und Werte, während die Avantgardisten darüber wetteifern, wie das Neue zu gestalten und zu benennen ist.

Während der Traditionalismus sich in der Regel auf Strukturen und Ressourcen fokussiert, konzentriert sich die Avantgarde vor allem auf neue Lebensformen, die noch gar nicht über großartig herausgearbeitete Strukturen verfügt. Diese Art der Auseinandersetzung ist so alt wie die Zivilisation selbst, Spiritualismus und Sensualismus, Materialismus und Idealismus, Traditionalismus und Avantgarde, es handelt sich um das Kraftfeld von Gesellschaften, die permanent in Bewegung sind und somit ein Ausdruck kontinuierlicher Veränderung.

Das Sinnstiftende von Gesellschaften ist die Dominanz eines Paradigmas, das von der großen Mehrheit als die für das Leben zutreffende Erzählung akzeptiert wird. Avantgarde und Traditionalismus schreiben bei diesem Paradigma um die Wette und letztendlich entscheiden sowohl die Plausibilität wie die politische Macht, welche Erzählung die Gesellschaft für eine überschaubare Periode beherrscht.

Die Skyline der Weltmetropole New York dokumentiert in ihrer Schichtung wie kaum eine andere Architektur die verschiedenen geschichtlichen Epochen des Denkens in Wirtschaft, Politik und Kultur. Vom Woolworth Building, über das Chrysler, General Electric, Empire State Building und letztendlich bis zu dessen Zerstörung das World Trade Center wurden der Handel, die Industrie in ihren unterschiedlichen Entwicklungsstufen, der staatliche Imperialismus sowie der Weltfinanzkapitalismus quasi in einem Schichtenmodell in der urbanen Architektur verewigt. Alle Monumente entstammten aus der Avantgardephase, d.h. der Pioniergedanke stand jeweils im Vordergrund.

Sowohl die Architektur wie die gelebte Kunst von Gesellschaften verdeutlichen den Duktus der eigenen Identitätsstiftung. Es wird deutlich, ob es überhaupt einen Konsens über eine gemeinsame Identität gibt, und wenn ja, ist diese Identität eher traditionalistisch oder avantgardistisch geprägt. Und nicht jede Verpackung muss mit einer qualitativen Festlegung einhergehen. Da gibt es traditionalistische Weltbilder, die sind kritisch wie selten, und da kommen avantgardistische Eliten daher, die sind stumpf und blasiert wie die finsterste Reaktion. Die Fixierung auf das Etikett kann zu letalen Fehleinschätzungen führen. Entscheidend für den Charakter der Bewegung ist immer die konkrete Lebenspraxis, auch wenn das ein stehendes Motto der Avantgarde ist!

Eine andere Blaupause für gelungene Integration

Gran Torino. Regie: Clint Eastwood

In diesem vor zwei Jahren erschienenen Streifen führte Clint Eastwood nicht nur Regie, sondern er spielte auch gleich die Hauptrolle. Zudem war es wohl seine letzte, denn der Showdown kann gelesen werden als die finale Inszenierung eines Schauspielerlebens, das geprägt war von den großen Themen des amerikanischen Traums. Vom Westernhelden über den legendären Dirty Harry und die Rollen der letzten zwei Jahrzehnte war Eastwood der Protagonist der amerikanischen Lone Stars per se. Die starken, gegen den Strom schwimmenden Individuen, die sich mit Gott und der Welt anlegten, aber eine klare Vorstellung von Werten und Ordnung hatten. Das sympathische an diesen Figuren, ja quasi ihr Heldentum bestand in ihrer Lädiertheit, sie waren beschädigt und in ihrer Fehlerhaftigkeit besaßen sie ihre Glaubwürdigkeit.

Gran Torino ist ein weiteres starkes Stück des amerikanischen Individualismus, aber auch eine Referenz an die Integrationsleistung dieser Siedlergesellschaft, die größer ist als alle anderen Versuche in der westlichen Hemisphäre, Fremdes zu integrieren. Es geht aber auch brutaler und schnörkelloser vonstatten als anderswo. Der Held ist wieder ein alter Wolf, der in einem ehemals situierten Arbeiterviertel Detroits wohnt, dessen sozialer Abstieg aber in vollem Gange ist. Der Held kämpft dagegen an, er hält die Ordnung und Werte hoch, er setzt instand und macht sein Ding, lässt sich nicht unterkriegen von der schnellen Verwertbarkeit und den rasend wechselnden Märkten und Konjunkturen. Er steht für eine Aristokratie aus emigrierten Iren, Italienern, Polen und Deutschen, die als Industrieproletariat in der Automobilindustrie der Region reüssierten und dann sich selbst überlassen wurden.

Seine direkten Nachbarn sind Asiaten, „Bambusratten“, wie er sie nennt. Die Annäherung ist schwierig, sperrig, von Vorurteilen geprägt. Die Integrität der Nachbarn ihm gegenüber und ihre Verletzlichkeit durch eine verrohte Umwelt lösen Emotionen bei dem einsamen Wolf aus. Er wird zum Beschützer und Leumund und er macht sich auf den Weg, seinen neuen Schützling, den Sohn aus der Nachbarfamilie, auf seine Weise zu integrieren.

Dieser erfährt den american way of integration, das rohe, raue und robuste Antasten an die Diversität der ethnischen Herkunft, den spielerischen Umgang mit den Eigenheiten des Andersartigen und die Fähigkeit, den Teamgedanken auf die unterschiedlichen Charaktere der Zusammengekommenen zu münzen. Das ist eine andere Blaupause für gelungene Integration, keine heile Welt der friedlich Gesinnten und Assimilierten, sondern der kontroverse Diskurs von Immigranten, die mit unterschiedlichen Agenden in das Land der unbegrenzten Möglichkeiten gekommen sind. Der Film entwirft ein Bild von einer Welt, die alles andere als heil ist, aber durchaus das Potenzial besitzt, sich immer wieder zu arrangieren und zu erneuern.

Transatlantische Tränen auf lächelndem Gesicht

Branford Marsalis, Joey Calderazzo; Songs Of Mirth And Melancholy

Das Größte, was ein Musiker erreichen kann, zumal in Zeiten der technischen Reproduzierbarkeit und Vermarktung, ist die Unabhängigkeit. Manche, vor allem im Jazz, führen notgedrungen eine Doppelexistenz, indem sie einerseits das machen, wozu sie sich bestimmt fühlen und andererseits sich dort verdingen, wo sie das nötige Kleingeld verdienen, um den Kühlschrank voll zu bekommen. Branford Marsalis gehört zu den wenigen zeitgenössischen Jazzmusikern, die sich ihre Unabhängigkeit im Laufe der Jahre konsequent erkämpft haben und diese auch nutzen. Sein neues Album mit dem Titel Songs of Mirth and Melancholy, welches er zusammen mit dem Pianisten aus seinem Quartett, Joey Calderazzo, aufgenommen hat, ist eine Revue durch die kompositorische Architektur des Jazz.

Es ist kein Wunder, dass Marsalis, der schon mal seinem Fahrer auf dem Weg zur Bank die Anweisung gibt, solange um den Block zu fahren, bis das Wagnerstück im Radio zuende ist, sich in den Duetten nicht nur an der amerikanischen Tradition, sondern auch an Motiven aus der europäischen Klassik orientiert. Auch wenn Marsalis und Calderazzo gegenwärtig eher provozierend von den gleichbleibend läppischen zwölf Tönen sprechen, die von den Sex Pistols bis Brahms maximal zur Verfügung stünden, wird beim Hören sehr deutlich, was die beiden zumindest momentan interessiert.

Mit One Way wird ein Reigen eröffnet, der alles andere als nur eine Richtung beinhaltet, aber nicht umsonst in seiner musikalischen Gestaltungsweise an die Heimat Marsalis, Big Easy, New Orleans, erinnert und einen eindeutigen Hinweis auf die eigene Tradition gibt. Schon bei Valse Kendall und Face on the Barroom Floor wird jedoch deutlich, wie sehr die Bindungen in das Alte Europa sind. Umso erstaunlicher ist die Reverenz an Brahms Die Trauernde, die Bezüge aufdeckt, die bei einem Musiker afroamerikanischer Provenienz nicht so evident sind. In diesem Punkt steht Branford Marsalis in der spirituellen Tradition eines Charles Mingus, der sich von Bach lieber inspirieren ließ als von seinen Zeitgenossen. Und mit Bri’s Dance leisten sich die beiden noch etwas, was hierzulande fast einer Blasphemie gleicht: sie greifen das Thema der deutschen Nationalhymne auf, um sie gleich so zu ergreifen, dass plötzlich das Trauma, unter dem die Deutschen leiden, wie weggeblasen ist.

Die insgesamt neun Stücke sind etwas für reflexive Stunden, in denen unabhängiges Denken und eine Offenheit für das Ungewohnte vorherrschen. Eingefahrene, egal auf welchen Bahnen, werden an den Kompositionen und Interpretationen dieses freigeistigen Duos keine Freude haben, denn die Stücke bestätigen nichts Feststehendes. Wer, so könnte man hinzufügen, nicht den Willen mitbringt, die zeitgenössische Musik auch einmal anders herum zu denken, der wird sich auch nicht daran erfreuen können, dass hier zwei Ausnahmemusiker am Werk sind, die, selbst nicht einmal mit einer Hand des Pianisten eine Rhythmussektion simulieren müssen, um ein Zeitmaß für ihre Ausführungen zu finden. Marsalis ist ein Saxophonist, dessen Ansatz die Ehrfurcht des Übenden hervorruft, der nichts dem Zufall überlässt und dennoch das Kunststück fertig bringt, experimentell zu bleiben. Calderazzo ist das kongeniale Pendant, er führt die Linien immer wieder zusammen, die beide im Übermut zerreißen.