Archiv für den Monat August 2009

Wieviel Rebellion birgt Kreativität?

In der Diskussion um die Zukunft unserer Gesellschaft wird immer wieder eine Sozialformation genannt, ohne die eine Neugestaltung von Wirtschafts- und Gesellschaftsleben nicht vorzustellen ist. Gemeint ist die kreative Klasse. Schaut man genau hin, wird deutlich, dass mit dem Begriff eine diffuse Vorstellung korrespondiert. Von einer genauen Definition ist man noch weit entfernt. Was das Phänomen allerdings nicht weniger wichtig macht. Bekanntlich hilft Diffusion dabei, sich zu etwas zugehörig fühlen zu können, ohne es nachweisen zu müssen. Zumindest ist die Attraktion der kreativen Klasse soweit fortgeschritten, dass sich die Politik vor allem in den Städten sehr um sie bemüht.

Der Amerikaner Richard Florida gilt als derjenige, der sich zu Beginn dieses Jahrtausends pionierartig Gedanken über Rolle und Charakter der kreativen Klasse gemacht hat. In seinen Büchern The Rise of the Creative Class und The Flight of the Creative Class beleuchtete der in Washington lebende Florida Charakter, Rolle und Umfeld des Phänomens. Demnach handelt es sich um Menschen, die außerhalb der gesetzten und tradierten ökonomischen, handwerklichen und Konstitutionsformen Produkte mit einem hohen Mehrwert produzieren. Meistens handelt es sich dabei um Freiberufler oder Aussteiger, die zunächst in semantischen wie ökonomischen Nischen Akzente setzen und so in nuce Produktionsmöglichkeiten mit hohem ökonomischem Nutzen andeuten. Florida benennt neben der kreativen Klasse, die er der Dramaturgie wegen die Talente nennt, eine triadische Komposition, die erforderlich ist, um in einer Globalökonomie reüssieren zu können: Talente, Toleranz und Technologien. Sind diese drei Voraussetzungen gegeben, so kann man laut Florida davon ausgehen, dass sich ein Gemeinwesen sehr günstig entwickelt.

Seitdem diese Thesen auf dem Tisch sind, ist ein globaler Prozess zu beobachten, der es ganz gehörig auf die drei Ts anlegt: Jede Stadt, die etwas auf sich hält, orientiert sich an dieser Faustregel und versucht, einen entscheidenden Sprung nach vorn gegenüber der Konkurrenz zu machen. Sind Technologien das Ergebnis einer längeren wissenschaftlichen und industriellen Entwicklung und ist Toleranz eine Qualität, die sich historisch hat fortschreiben müssen, so kann man die Talente noch am schnellsten zu sich locken. Talente sind zwar wählerisch, aber sie entscheiden sich auch, weil sie etwas erreichen wollen. Um es einmal sehr deutlich zu benennen: Talente und Technologien kann man kaufen, solange sich hinter den Begriffen unkritische Größen verbergen. Toleranz ist tradierte Lebenspraxis, da kann man nichts herbeizaubern. Sieht man sich die vorliegenden Definitionen der kreativen Klasse einmal an, so fällt auf, dass sie rein soziologisch oder ökonomisch ausfallen. Aber genau an dieser Stelle kommt das strategische Problem.

Eine glatte, gesellschaftskonforme, affirmative Kreativität ist eigentlich ein Widerspruch in sich. Das erinnert an das Idealbild einer Frau bei manch armem Tropf, der die schönste, klügste, selbstbewussteste Frau der Welt in seinem Hirn entstehen lässt, die natürlich treu und gehorsam sein soll. Kreativität ohne Rebellion gegen Tradiertes, ohne Konfrontation mit dem Bestehenden und ohne Opposition gegen das Gesetzte kann und wird es nicht geben. Und nur dann, wenn der Umgang mit diesem auch politisch unbequemen Phänomen gelingt, entsteht eine Sphäre der Toleranz.

Auswärtsspiel

Wenn die Saison noch jung ist, sind die Hoffnungen auf den zukünftigen Titel noch sehr demokratisch verteilt. Alle glauben, diesmal könne es vielleicht klappen, mit etwas Fortune auf der eigenen Seite und der entsprechenden Pechsträhne auf der anderen, vor allem bei jenen, die sowieso immer gesetzt sind: den Bayern. Das ist auch dieses Jahr so. Im ersten Spiel ein lausiges Unentschieden in Hoffenheim, im zweiten ein mageres 1:1 zuhause gegen Bremen. Da kommt doch Freude auf, vor allem, wenn der eigene Verein sich wider Erwarten von Anfang an gut präsentiert. Mit der Verpflichtung des neuen Trainers wurden natürlich enorme Hoffnungen verbunden, vor allem nach der letzten Saison. Aber niemand hat ernstlich geglaubt, dass der neue Mann mit so vielen jungen, unerfahrenen Spielern einen so blitzsauberen Bundesligastart hinlegte. Ein sicheres 2:1 in Nürnberg und ein souveränes 3:0 zuhause gegen Bochum. Das lief gut, verdammt gut. Und dann auch gleich Tabellenerster zusammen mit dem Meister der Vorsaison und, als gefühlter Höhenmesser, Bayern nach zwei Spielen auf Platz 11!

Ich habe einen Erbfehler. Das hat was mit dem Herzen zu tun. Als Jugendlicher musste ich darüber lachen, denn es betraf da noch meinen Vater. Der litt am Herzen und ging zum Arzt, den er seit Jahrzehnten kannte und der ihm nach eingehender Untersuchung ganz freundschaftlich riet, ein bisschen weniger fett zu essen, das eine oder andere Bierchen durch ein schönes Mineralwasser zu ersetzen und öfters mal spazieren zu gehen. Nur bei einem Thema wurde er rigoros: Schalke. Der gute Hausarzt verbot meinem Vater mit erhobenem Zeigefinger, je wieder nach Gelsenkirchen zu fahren, und sich Schalke im Stadion anzusehen. „Heinrich!“, so der gute alte Arzt, „wenn du das machst, garantiere ich für nichts. Da kann sein, dass dich der Sensenmann aus dem Stadion holt!“ Zu unser aller Erstaunen hielt sich mein Vater gerade an diesen Rat, alles andere ignorierte er. Wahrscheinlich hatte er einen guten Instinkt und wusste, was ihn wirklich gefährdete. Von da an fieberte er am Radio mit, was auch schon schlimm genug war. Hatte Schalke verloren, war das Wochenende gelaufen. Und wenn meine Tante, seine ältere Schwester, sich mit dem Satz exponierte, dass der Verein der Familie mehr Elend und Schicksalsschläge beschert hätte, als beide Weltkriege zusammen, bezeichnete der jüngere Bruder seine Schwester sogar ganz respektlos als „dummes Luder.“

Das wäre alles nichts anderes als eine kleine Anekdote aus der Vergangenheit, wenn es mich nicht auch erwischt hätte. Eigentlich habe ich eine robuste Gesundheit, treibe Sport, betätige regelmäßig ein Blasinstrument und lebe, bis auf die eine oder andere Zigarre, ganz gesund. Ich verfüge auch über eine solide Portion Selbstsicherheit, weil ich schon einiges erlebt habe und mich so schnell nichts mehr aus der Ruhe bringen kann. Selten beschleunigt sich mein Puls, nur wenn ich in Rage gerate, aber das ist eher selten. Es gibt allerdings eine große Ausnahme: Schalke 04. Sobald ich ein Spiel von Schalke im Fernsehen verfolge, bin ich ein anderer Mensch.

Dann rast mein Puls und ich kann keine Tasse mehr halten. Ich rauche dann alles, was ich greifen kann und inhaliere die schwärzesten Tabake. Geschieht eine Ungerechtigkeit auf dem Platz, d.h. wird ein Schalker gefoult, dann fange ich aus Empörung an zu schreien und finde ganz spontan betrüblich klingende Formulierungen, die mir sonst nicht in den Sinn kommen. Die Form emotionaler Aufwallung und gesundheitlicher Gefährdung wird nur noch übertroffen durch ein Spiel im Stadion. Dann gehe ich schon mit dem Sensenmann Hand in Hand auf meinen Platz und ich spüre, wie mir das Herz den schaurigen Makabré in der Halsgegend tanzt. Ich sehe dann auch kaum noch etwas, immer wieder bekomme ich ein Flackern in den Blick, das ein guter Freund mit dem harten Wort der hysterischen Erblindung bezeichnet.

Jahrelang hatte ich die Stadien gemieden, in denen je eine Schalker Mannschaft auftauchen könnte und dann ließ es sich nicht mehr verhindern. Mit dem kometenhaften Aufstieg der TSG Hoffenheim und ihrem vorläufigen Stadionmangel. Da sprang dann Mannheim, die Stadt in der ich lebe, bereitwillig ein, um ihrer entwöhnten Bevölkerung einmal wieder Bundesligafußball zu bieten. Und prompt bekam ich auch noch eine Karte für das letzte Spiel der Hinrunde und damit der TSG Hoffenheim in Mannheim. Der Gegner war Schalke.

Nach vielen Jahren der Abstinenz sah ich also wieder ein Spiel direkt im Stadion. Leider war Schalke in dieser Saison alles andere als gut und den Stoff für das notwendige Adrenalin lieferte recht schnell das Verhalten der Spieler auf dem Platz und ein Schiedsrichter namens Wackelmann, der systematisch versuchte, mich in die Arme vom Sensenmann zu treiben, der natürlich mit seinem breiten Grinsen neben mir stand. Zunächst, und dieser Einwurf sei mir erlaubt, obwohl er nicht direkt etwas mit der Geschichte zu tun hat, fiel mir auf, dass die in der Presse seit Wochen gelobte junge und dynamische Hoffenheimer Mannschaft, die als Beweis für den Erfolg einer gut angelegten Jugendarbeit allerorts zitiert wurde, vom Aussehen den Eindruck einer verspäteten Werbung für die Bewegung der Blockfreien aussah. Die eine Hälfte der Spieler kam aus Afrika, die andere vom Balkan. Das wäre was für Tito gewesen, nach Jugendfußball im Kraichgau sah das aber nicht aus. Aber egal. Schließlich stand ich jetzt an diesem kalten Septembersonntag im Mannheimer Carl-Benz-Stadion und musste mir ansehen, wie die Hoffenheimer den Schalker Spielern in die Beine sensten, dass es bis hinauf auf die Tribüne krachte, ohne dass Herr Wackelmann auch nur einmal reagiert hätte. Setzte sich hingegen ein Hoffenheimer spielerisch nicht gegen einen Schalker durch, fiel sofort ein Pfiff und Hoffenheim bekam einen Freistoß. Bei so vielen gepfiffenen Fouls bleiben die gelben Karten nicht aus und es dauerte nicht lange, bis ein Schalker Rot sah. Da lief ich schon schreiend die Tribünentreppe hoch und wieder runter, hatte einen Zwanzigeuroschein in der Hand und rieb ihm immer zwischen Daumen und Zeigefinger, um dem Publikum zu erklären, wer hier wohl für diese grausame Parteilichkeit bezahlt worden war. Als dann kur vor dem Pausenpfiff das 1:0 für Schalke fiel, war ich bereits heiser und zitterte am ganzen Körper und der mich immer genau beobachtende Sensenmann ging nicht einmal auf die Toilette, um ja nichts zu verpassen.

Die zweite Halbzeit hatte noch nicht richtig begonnen, als der Herr Wackelmann von neuem die Rote Karte einem Schalker ins Gesicht hielt, und zwar wieder für etwas, dass sonst nicht einmal beim Federball geahndet worden wäre. Wieder verschlug es mir die Sprache, wieder rannte ich laut gestikulierend herum und mein Herz drohte zu bersten. Dieses Mal beruhigte mich ein älterer Herr mit einem Ruhrgebietsakzent, den es ebenfalls nicht auf seinem Sitz hielt und der jetzt dem Anhang des „Wunders von Hoffenheim“ laut und deutlich erklärte, um was für eine Sportart es sich beim Fußball handelte und warum sie sich gewaltig irrten, wenn sie glaubten, sie spielten mit den von ihnen dargestellten Mitteln auf Dauer in diesem Sport eine Rolle. Das tat gut und war so souverän, dass ich mich aufgrund meiner Toberei ein wenig schämte, aber andererseits konnte ich ja nichts dafür. Es überkam mich einfach, das Schalke Syndrom, wie meine engsten Freunde es nennen.

Jenes Spiel im Dezember endete übrigens 1:1, es war keine Werbung für den Fußball und nicht nur ich hatte den Eindruck, man habe Hoffenheim den Punkt einfach geben müssen, damit diese Mannschaft doch noch Herbstmeister wurde. Mir war es egal, ich fand es eher peinlich und abstoßend, aber sei´s drum, nach dem Spiel bin ich ja gleich wieder ein Bürger wie alle anderen auch und weiß, wie man sich benimmt. Als ich das Stadion verließ, fiel mir nur auf, dass einige bekannte Gesichter meinen Blicken auswichen und man so tat, als kenne man mich nicht. Erst zwei Wochen später wagte es eine Kollegin, die mich beobachtet hatte, mich darauf anzusprechen, indem sie mir lachend bedeutete, sie hätte gar nicht gewusst, dass ich beim Fußball so emotional werden könne. Ich tat so, als sei von mir gar nicht die Rede.

Der Rest der Saison war alles andere als schön, diesmal wurde Schalke nur Achter, dann wurden der Manager und danach der Trainer entlassen. Aber das ließ mich alles relativ kalt, denn wer sich einmal auf Schalke eingelassen hat, der kennt das, Schalke ist kein Verein, wo alles glatt läuft. Es ist ein Club, der wie kein anderer geprägt ist von Leidenschaft und Hoffnung und, ehrlich gesagt, vielleicht ist es auch das, was den Verein davon abhält, wieder einmal die Meisterschale ins Revier zu holen, denn die meisten Mitglieder würden das wohl kaum überleben.

Jedenfalls, und auch das kennen die Schalker sehr genau, wenn eine Saison schlecht gelaufen ist, man die Schuldigen zum Teufel gejagt und ein paar Neue geholt hat, dann sind alle vor dem ersten Spieltag wieder voller Hoffnung und es ist völlig normal, dass die ganze Fangemeinde fest daran glaubt, in der bevorstehenden Saison Meister zu werden. Dann schlagen die Herzen wieder höher und die Welt leuchtet für wenige Wochen in Blau-Weiß. Und vor dieser Saison kam hinzu, dass man einen Trainer verpflichtet hatte, der erst mit den Bayern zweimal hintereinander das Double gewonnen hatte, dann zum Außenseiter Wolfsburg gegangen war und mit diesem Verein in kurzer Zeit die Bayern gedemütigt und den Meistertitel geholt hatte. Sein Name wirkte wie ein Fanal, mit ihm, ja nur mit ihm konnte Schalke wieder einmal dass ganz große Ding drehen.

Die Saison begann auch richtig gut, man gewann auswärts in Nürnberg und bezwang zuhause mühelos Bochum Und dann ging es zu einem Freitagsspiel nach – Hoffenheim. Nun muss ich sagen, dass ich, sobald der Spielplan für die neue Saison bekannt gegeben worden war, versucht hatte, eine Karte für das Spiel im neuen Stadion in Sinsheim zu bekommen. Doch dank einer nicht mehr erklärlichen, aber immer noch anhaltenden Euphorie und dank einer wahrscheinlich dilettantischen Organisation war da nichts zu machen gewesen. Gut so, dachte ich, da schonst du dein Herz. Dennoch war ich regelrecht angriffslustig geworden, weil man anscheinend so mühelos die ersten beiden Spiele gewonnen hatte und bei einem Sieg in Hoffenheim sich erstmal an der Tabellenspitze festsetzen konnte. Also entschied ich mich, es zu wagen und in das italienische Restaurant „Adria“ in meinem Viertel zu gehen, um mir das Spiel live im Fernsehen anzusehen.

Das Adria ist eine Institution in der Mannheimer Neckarstadt. Es handelt sich um einen Nachkriegspavillon, der als kleine Eisdiele am verkehrsreichen Alten Messplatz errichtet worden war und von dem es so lange ich mich entsinnen kann, in jedem Jahr hieß, das sei nun wirklich die letzte Saison, im Herbst würde der Schuppen abgerissen. Doch der Zustand Adria, und anders kann man das, was sich dort abspielt, wirklich nicht beschreiben, dieser Zustand hält nun schon seit über vierzig Jahren an. Die Rindone-Zwillinge aus Caltanisetta, Sizilien, kamen als junge Männer, fingen mit der Eisdiele an, machten zusätzlich ein Restaurant daraus mit Pizza und Pasta, Wein und Bier und expandierten mit vielen kleinen Tischen fast bis auf die Straße. Generationen von jungen Sizilianern wurden als Kellner so auf Deutschland vorbereitet, fast jeden Sommer kam frisches Fleisch, das sich bald in der Neckarstadt etablierte und eine Familie gründete. Dass Adria wurde eine Institution, wenn du etwas wissen willst über Leute , Möglichkeiten, Skandale und Affären, dann setzt du dich einfach dazu, bestellst im Gegensatz zu allem anderen den besten Kaffee der Welt und stellst die Lauscherchen. Nach einer halben Stunde bist du im Bilde und kannst wieder deiner Wege gehen und beim Metzger oder im Penny hast du dann einen Typen vor dir stehen, dem die Frau weg gelaufen ist oder der in der letzten Nacht sein ganzes Gehalt verzockt hat, wie du aus dem Adria weißt. Man ist also, nach einem Adriabesuch für weitere Exkursionen ins Viertel bestens präpariert und nichts kann dich mehr überraschen.

Direkt neben dem Adria war ein zweiter, angrenzender Pavillon, in dem über Jahre ein Café mit dem Namen Melange residierte, eher ein übler Suffbunker als ein Café und irgendwann war dessen Betreiber so weit, dass er nicht mehr verlängerte, oder verlängern konnte oder nicht mehr verlängert wurde. Jedenfalls schlugen die Rindone-Brüder zu, pachteten auch diesen Laden und das Adria war plötzlich doppelt so groß. Trotzdem reichte der Platz nie, das Adria war immer überfüllt, drinnen wie draußen, denn an welcher Informationsbörse bekam man zu derartig moderaten Preisen auch noch etwas zu essen und zu trinken. Da verkehrte alles aus dem Viertel, junge Studentinnen aus gutem Hause, fußballverrückte Italiener, ergraute Rocker, angeranzte Freiberufler, jede Menge Musiker, manche mit großem, manche mit gar keinem Erfolg, ehrliche Trinker seit einer Ewigkeit, ins zivile Leben reintegrierte Nutten, die Nagelstudios oder Ethnoläden betrieben, Frisösen, die

Schlagerstars werden wollten, Handwerker, die einfach nur gerne ein Weizen tranken, Architekten, die den Duktus der Postmoderne in den Himmel zeichneten, Kroaten, die vom Weltmeistertitel träumten, Serben, die schon ganz präzise planten, wie sie den Kosovo zurück bekämen, ein steinalter höherer Mathematiker, der Vogelfutter verkaufte und immer einen Wellensittich auf der Schulter trug, während er Studenten für ein Schnäpschen so alt aussehen ließ wie er selbst, in dem er ihnen Lösungswege für ihre Examensaufgaben auf Bierdeckel kritzelte, eine Model aus Ghana, das die nach Pizza duftende Luft immer wieder knistern ließ und Krankenschwestern, die vom Schwimmen kamen.

Der ältere der beiden Zwillinge war irgendwann zurück nach Sizilien gegangen, um den ordnungsgemäßen Verlauf der von ihm und seinem Bruder dort getätigten Investitionen zu überwachen. Der jüngere und kleinere Rindone hielt weiter die Stellung in der Neckarstadt und baute sie noch weiter aus, als Deutschland begann, mit aller Vehemenz dem Regulierungswahn von Brüsseler C-Klasse-Bürokraten zu folgen. Kaum war das Rauchverbot verhängt, verwandelte der wendige Rindone einen Riesenraum aus dem alten Café Melange in einen Fußball- & Fernsehraum, den er abtrennte, klimatisierte und wo er das Rauchen erlaubte. So schuf er im Handumdrehen ein Refugium für alle, die den Fußball liebten und auch gerne mal eine rauchten. Seitdem ging auch ich immer mal wieder gerne dorthin, um mir allerdings jedes Mal danach zu schwören, mir das nie wieder anzutun, weil es mich nervlich total aufgerieben und mein Herz sich wieder an der Sollbruchstelle abgearbeitet hatte.

Aber, so redete ich mir diesmal ein, das war ja in der letzten, seit acht Jahren schlechtesten Saison meines Vereins gewesen und diesmal stand er nach zwei Spielen auf Platz Eins, ungeschlagen und überzeugend. Also beschloss ich an diesem Freitagabend ins Adria zu gehen und mir das, übrigens einzige Spiel dieses Abends und daher in voller Länge übertragenen, Spektakel gegen Hoffenheim zu gönnen. Ohne Prophylaxe ging das natürlich nicht und so fuhr ich nach der Arbeit noch schnell in mein Sportstudio, um beim Eisenbiegen und Rudern etwas Adrenalin abzubauen. Alles klappte wie am Schnürchen, ich war früh genug da, um mir einen wunderbaren Platz auf der Seite auszusuchen und mir noch eine Pizza Siciliana zu bestellen, die ich gerade noch schaffte, als die illustre Fußball- und Calciogemeinde den Raum betrat und sich mit Bestellungen zu präparieren trachtete. Manche bestellten auch noch etwas zu essen, die meisten jedoch beließen es bei Bier oder Wein und an den Tischen wurde schon kräftig gefachsimpelt. Das war bereits so laut, dass man den Bericht aus dem Stadion, der über eine Lautsprecherbox in den Raum übertragen wurde, nur noch als unidentifizierbaren Geräuschpegel identifizierte. Bei diesem Zustand blieb es übrigens bis zum Schluss. Niemand im Adria kam auf die Idee, sich stimmlich oder thematisch zurückzunehmen, um dem übertragenen Fußballspiel folgen zu können. Die gezeigten Bilder reichten und warum niemand den doch recht lauten Ton abschaltete, um gewährleisten zu können, dass man nicht so schreien musste, diese Frage wird wohl bis ans Ende unser aller Tage niemand der Beteiligten beantworten können.

Kaum war das Spiel angepfiffen, betraten drei Männer und eine Frau den Raum. Einer davon trug ein Gazprom-Trikot von Schalke und ich dachte mir, da bist du nicht so allein, denn bis auf einige Italiener, die mit Schalke sympathisierten, waren die meisten Besucher erwiesenermaßen auf Seiten von Hoffenheim. Die Gesellschaft setzte sich an den Tisch neben mich, der zwischen mir und der Leinwand war. Kaum saßen sie, war ich jedoch sehr ernüchtert. Es stellte sich heraus, dass diese Herrschaften bereits einiges getankt hatten und in einem Zustand waren, der ein konzentriertes Folgen der Partie ausschloss. Sogleich wurden Lagen bestellt und sie besaßen die unangenehme Angewohnheit immer gleich bezahlen zu wollen. Beim Abkassieren stand der Kellner dann jedes Mal vor der Leinwand. Da häufig und schnell bestellt wurde, war das Kellnerphantom öfters zu sehen, als mir lieb war. Außerdem schrieen die vier was das Zeug hielt. Allerdings hatte ihre ramponierte Konversation nichts mit dem Spiel zu tun. Es wurde ziemlicher Blödsinn durch die Gegend geschrieen, dem ich nicht folgen konnte noch wollte, denn das Spiel zerrte bereits gehörig an meinen Nerven.

Wie schon bei dem Aufeinandertreffen der beiden Vereine vor einem halben Jahr spielte Hoffenheim aggressiv, was natürlich nicht zu beanstanden ist und dazu gehört, aber sie foulten mit einer Hemmungslosigkeit, die ein Schiedsrichter zu ahnden hat, was auch dieser Herr nicht tat, obwohl es sich nicht um Herrn Wackelmann handelte. Auf der anderen Seite schrieen die Hoffenheimer Spieler, vor allem die Trainerbank und das ganze Stadion, wenn ein eigener Spieler zu Boden ging, was sehr oft aufgrund einer gezielten Dramaturgie geschah. Zudem forderten dann immer alle gelbe und rote Karten, was einfach eine unsportliche Attitüde und abstoßend ist. Das Spiel selbst war dadurch hektisch und schlecht, gute Torchancen gab es weder vor noch nach der Halbzeit. Und es war nach einer Viertelstunde relativ klar, dass das Spiel torlos und unentschieden ausgehen würde.

Hätte ich nicht mit meinem kardialen Morbus Schalke zu kämpfen gehabt, hätte ich mich sicherlich auch mehr auf meine Nachbarn konzentrieren können, die sich zu einem immer intensiveren Schauspiel aufschwangen. Es wurde gesoffen, was das Zeug hielt, es wurde geschrieen, immer wieder telefoniert und geraucht, als ob es am Folgetag kein Tabak mehr auf der Welt gäbe. Es stellte sich heraus, dass die Herrschaften wohl irgendwo vom Balkan kamen, irgendwann gab ein immer wieder genannter Ivo der Blondierten eine Kopfnuss, was diese zu einem fürchterlichen Geschrei veranlasste. Der wohl zu ihr gehörende Gazprom-Ritter hatte aber gar keine Absicht, seinen Saufkumpanen zur Räson zu rufen und telefonierte noch ein Haserl herbei, die dann auch noch durchs Bild lief. Auch sie war eine Sonnenbankschönheit mit stahlblonden Haaren und zirka vierzig Ohrringen. Sie küsste immer wieder alle drei Herren aufs Innigste, was die schon mit der Kopfnuss gestrafte Rivalin alles andere als amüsierte. Das neue Blondchen bot jedoch auch ihr immer ganz lieb ein neues Zigarettchen an, schien diese aber als alleinige Geste nicht sonderlich zu beruhigen.

Auch die neue soff kräftig mit und vor allem der Dritte im Bunde der Herren, kahl geschoren, spärliche Frontzähne und Narben von ausgedrückten Zigaretten auf den Unterarmen bekam von dem neuen Zuckerchen immer wieder feuchte Küsse auf die Glatze, was er mit einer aufgrund seiner ramponierten Wahrnehmungsfähigkeit großzügigen Geste mit gesenkten Augenliedern wohlwollend zur Kenntnis nahm. Wobei Ivo, der mit der Kopfnuss, eine seltsame Doppelstrategie fuhr. Zum einen sagte er immer wieder zu der Neuen, das könne nichts werden, Frauen und Fußball seien einfach unvereinbar. Dabei zwinkerte er der Kleinen aber immer wieder verheißungsvoll zu und gab sich mehr als generös, indem er ihr immer wieder anbot, für sie bei der nächsten Runde auch gerne etwas Schärferes spendieren zu wollen. Auch sein lachendes Gesicht offenbarte den Verlust von Teilen seines Beißwerkzeuges, den Anlass konnte man sich durchaus zusammenreimen. Die so Beehrte blieb aber bei jeder Runde sehr bescheiden und wollte immer nur eine kleine Schorle.

Während auf dem Platz alles seinen Gang ging, indem es zunehmend hektischer, spielerisch aber nicht besser wurde, setzte sich auch noch ein älterer Herr an meinen Tisch, der zwar aufgrund seines Äußeren einen soliden Eindruck machte, den er aber sogleich verwarf, indem er mir in einem breiten Sächsisch zu verstehen gab, dass er Huffenhoim kräftig die Daumen drücke und den Scholkern nichts zutraue. Mein Blick traf ihn allerdings so hart, dass er sich von mir abwandte und mit dem Balkanclan anbändelte, was dieser mit einem ausgegebenen Getränk honorierte. Dort verabschiedete sich die später Hinzugekommene frühzeitig, indem sie darauf hinwies, sie müsse sich zuhause noch nützlich machen. Kaum hatte sie den Raum verlassen, stänkerte die andere kräftig, indem sie grölte, es handele sich bei dieser sicherlich um eine nette Frau, aber ihr Aussehen lasse doch sehr zu wünschen übrig. Bei aller Neutralität fand ich diesen Kommentar allerdings sehr deplaziert. Diejenigen, die sie angesprochen hatte, nahmen es aber wohl auch nicht mehr zur Kenntnis. Es fiel nur auf, dass Ivo wenige Minuten später verschwunden war.

Als das Spiel, das unentschieden ausging, abgepfiffen wurde, hatte ich nicht nur meine wie immer in solchen Fällen hohe Herzfrequenz, sondern zudem ein furchtbares Rauschen im Ohr. Nach langem Warten, das ich meditativ zu überbrücken suchte, konnte ich endlich zahlen. Währenddessen schrieen sich meine Tischnachbarn immer noch kettenrauchend und saufend an. Als ich das Lokal verließ, erblickte ich Ivo und die andere Blonde, die sich noch im Haushalt nützlich machen wollte, Händchen haltend an einem kleinen Tisch im Freien sitzend und musste lachen. Ich ging nach Hause, und da ich an diesem Wochenende allein war, setzte ich mich in einen Sessel und wartete gut eine Stunde, bis der Pulsschlag wieder normal war. Dann sagte mir meine Vernunft, dass das das letzte Mal war. Was sie immer tut, auch darin ist sie geübt.

Politik und Pädagogik

Unterhält man sich mit Politikern der gegenwärtigen Generation und fragt sie nach ihrem Selbstbild, so ist dieses immer aufschlussreich. Die einen sehen sich im eher klassischen Sinn als Interessenvertreter bestimmter sozialer oder regionaler Gruppen. Andere wiederum als Pragmatiker, die von ihrem eigenen Parteiprogramm das durchsetzen wollen, was sich im Rahmen von parlamentarisch-demokratischen Rahmenbedingungen machen lässt. Wiederum andere sehen sich als Mittler oder gar Mediatoren zwischen Regierungshandeln und Bevölkerung. Nahezu alle werden von der Einschätzung beherrscht, sie operierten im Felde vorgefundener Gegebenheiten und nahezu alle glauben daran, dass es sich bei dem Abstraktum „Volk“ um ein Phänomen handelt, das seinerseits weltbildlich bereits prädestiniert ist, das man also nur begrenzt manipulieren, aber keinesfalls erziehen kann.

Nun ist es natürlich nicht die dezidierte Aufgabe von Politik, das Volk zu erziehen. Da wären wir wohl alle dagegen. Und besonders in Deutschland mit unserem Postfaschismustrauma haben wir es wieder mit einem Sonderweg zu tun. Wir sind die einzigen, die eine Trennung zwischen Erziehung und Bildung gesetzlich vollzogen haben. In keinem Land der Erde gibt es einen derartig krassen Widerspruch zwischen Jugendämtern und Schulen, nirgendwo wird der Familie so exklusiv die Generalautonomie über die Erziehung verliehen und nirgendwo sind Schulen verkommen zu einem reinen Bildungsdestillat namens „Stoffvermittlung“.

Die Trennung ist auch in den Köpfen der Politiker so zementiert, dass sie bei der Frage, ob der politische Prozess nicht auch eine erziehende Wirkung haben müsse, diese regelrecht zusammenzucken und allein schon den Gedanken weit von sich weisen. Von ihrem Selbstverständnis her haben sie natürlich Recht, in Bezug auf ihre Wirkung lassen sie einen zentralen Aspekt außer Acht. Denn Politik wirkt in einer ungeheuren Dimension pädagogisch. Im politischen Prozess eines Landes handeln Akteure, die eine Öffentlichkeit genießen wie sonst nur noch Filmdivas. Die Bevölkerung beobachtet genau, wer welchen Handlungsmustern folgt und wie die Protagonisten sich durchsetzen. In einer Zeit, in der der dezidierte Erziehungsauftrag immer weniger dort wahrgenommen wird, wo er vom Gesetzgeber vorgesehen ist, nämlich in der Familie, finden die Lernprozesse dann dort statt, wo sie eigentlich nicht stattfinden sollen. Nämlich in der Schule, auf der Straße, bei der Arbeit und in den Medien. Und in den über alle Radiostationen, Fernsehsender und das Internet stündlich ausgestrahlten Nachrichtensendungen werden die Lektionen noch einmal zusammengefasst.

Jede politische Handlung wird von der Bevölkerung rezipiert wie ein Lehrstück. Fährst du mit dem Dienstwagen in Urlaub, steckst du staatliche Rettungsgelder ein und verteilst hinterher Boni, machen Krankenkassen Gewinne, zahlen an ihre Belegschaften 14. Monatsgehälter und die Kassenleistungen werden trotzdem teurer und und und, die pädagogische Wirkung von Politik ist immens. Gegenwärtig diskreditiert sie mit einem gewaltigen Programm den Leistungsgedanken und die Selbstverantwortung. Und wer leugnet, mischt kräftig mit.