Archiv für den Monat September 2023

Fundstück: Imperiale Regeln

04.03. 2014

Mit der Implosion der Sowjetunion vor knapp einem Vierteljahrhundert war für viele die Geschichte zu Ende. Es wurden gar Bücher darüber verfasst. Der Triumphalismus kannte keine Grenzen. Der Untergang der bipolaren Welt, der unter der Chiffre des Ost-West-Konfliktes firmierte, sollte die Suprematie des Westens zur Folge haben. So sahen das viele, so hofften es viele. Aus heutiger Sicht betrachtet ist nichts von dem eingetreten. Zwar war mit der UdSSR ein gigantischer, imperialer Koloss in die Knie gegangen. Aber selbst in seinem Zentrum hatte die Erosion des sozialistisch gesteuerten Staatsmonopols nicht zur Folge, dass eine auch nur annähernd kapitalistische Produktionsweise sich etablieren konnte. 

Nein, das neue Russland hielt an den Strukturen fest, an denen bereits die bolschewistische Revolution gescheitert war. Das, was Marx einst die asiatische Produktionsweise genannt hatte, und, nebenbei, diese Schriften erschienen nie in der Sowjetunion, und woran der Ökonom Karl August Wittfogel sein Leben lang geforscht hatte, eine asiatische Despotie, die über eine monopolistische Bürokratie die großen Landmassen wie die Bodenschätze beherrschte, blieb bestehen. So genannte Oligarchen griffen nach den Ressourcen, eroberten den Staatsapparat, der völlig zentralisiert war, und übernahmen das Gewaltmonopol vom einstigen Militär. Russland blieb eine imperiale Macht, die bis heute alles andere als ein Flickenteppich ist, auf dem die vermeintlichen Sieger des Ost-West-Konfliktes beliebig herum treten können.

Russland blieb ein machtpolitischer Faktor. Und die USA merkten nach und nach, dass der Triumph gegenüber dem Kommunismus nur noch gedämpft genossen werden konnte. Auch hier ist seitdem die strategische Überdehnung überall zu spüren und die Macht des Washingtoner Imperiums wird mit jedem Jahrzehnt mehr gestutzt. Das ist der Preis für die globale Dominanz, die ökonomisch mehr und mehr ins Wanken geriet und durch Mächte wie China erheblich relativiert wurden.

Eine solche Situation ist für alle Beteiligten gefährlich. Zum einen fletschen angeschlagene Tiger schon mal gerne sehr schnell die Zähne, zum anderen neigen die Kontrahenten dazu, sich gegenseitig zu unterschätzen. In diesem Kontext ist der Konflikt um die russischen Marine-Stützpunkte auf der Krim nahezu signifikant. War und ist der Prozess in der Ukraine ein Muster, das lange bekannt ist, in dem Despotie und Korruption irgendwann auf einen Punkt zustreben, an dem die Rebellion als einziger Ausweg für große Teile der Bevölkerung gesehen wird. Das System selbst stellt sich dann oft schwächer als befürchtet heraus, die rebellierenden Kräfte ihrerseits aber sind politische Novizen oder bereits Instrumente neuer Despoten, die die Karte bereits zu spielen gelernt haben. Wenn dieses alles in einer Gemengelage geschieht, in der manche glauben, man zöge ein komplexes, durch lange Traditionen verwobenes Geflecht in ein neues Lager, dann entsteht eine kritische Situation. 

Russland wäre der Popanz, von dem irrtümlicherweise viele geträumt haben, wenn es einfach zuließe, ihm den Zugang zum Schwarzen Meer zu verwehren. Wer das glaubt, der lese Tolstois Berichte zu den Kämpfen um Sewastopol 1855/56, um eine Ahnung von den Tributen, Mythen und Verlusten zu bekommen, die in der russischen Geschichte aufgebracht wurden, um dieses Pfund in Händen zu halten. So etwas ließen die USA vor der eigenen Haustüre ebenso wenig zu wie China und selbst Großbritannien rasselt bereits mit dem Säbel, wenn in Spanien ein Politiker den Begriff Gibraltar in den Mund nimmt. Die Koinzidenz mit den demokratischen Kämpfen in der Ukraine verführt zu Trugschlüssen. Hier stehen sich immer noch Imperien gegenüber. Und deren Regeln sind jenseits demokratischer Diskursterminologien zu finden.

Meinungsmache: Wie ein Blick in den Spiegel

Kennen Sie das? Das Gefühl, Menschen gegenüber zu sitzen, die Sie seit langem kennen, mit denen Sie vieles verbindet, mit denen Sie sich meistens gut verstanden haben und mit denen Sie sich, bei Bedarf, trefflich streiten konnten. Diese Menschen, sie sitzen Ihnen plötzlich mit betretener Miene gegenüber, sie vermeiden den Blick und antworten auf etwas, das Sie gesagt haben, mit einer nichtssagenden Floskel. 

Ursache dieser Verstörung ist eine Bemerkung Ihrerseits. Zumeist ist es eine eindeutige Stellungnahme zu einem Ereignis oder einer Erscheinung von politischer und gesellschaftlicher Bedeutung. Eigentlich eine profane Angelegenheit. Hatten Sie doch gerade mit dem Menschen, der Ihnen gerade gegenübersitzt, schon oft über solche Angelegenheiten diskutiert. Oft waren Sie einer Meinung, manchmal auch nicht. Ihr Verhältnis zueinander hat auch ein Dissens nicht belastet. Ganz im Gegenteil, sie liebten es sogar, sich ab und zu gegenseitig die Leviten zu lesen. 

Und jetzt, nicht plötzlich, aber seit einiger Zeit, ist das Feuer des demokratischen Streits erloschen. Es riecht sogar überall ein bisschen nach Menschenfleisch. In übertragenem Sinne, versteht sich. Aber der Diskurs, der über Parteigrenzen hinweggehen mag, ist tot. Plötzlich existiert eine herrschende Meinung, die man zu teilen hat, sonst wird man aus der Gemeinschaft ausgestoßen. Dann hat man plötzlich ein Brandmal auf der Stirn, das da besagt: Sie haben es mit einer Person zu tun, die mit Verschwörungstheorien sympathisiert, die schwurbelt, die mit Todfeinden gemeinsame Sache macht oder die schlicht den Verstand verloren hat.

Was verstört, ist die Durchlässigkeit dieser Herrschaftsdemagogie. Denn selbst in Kreisen, in denen der Diskurs und das freie Wort immer geschätzt wurde, ist plötzlich Schluss mit Lustig. Nein, da hört der Spaß auf. Denn Positionen, denen die Machtandrohung innewohnt, die dürfen natürlich weder hinterfragt noch bekämpft werden. Die sind sakrosankt. Und je dümmer und je apodiktischer sie formuliert werden, desto besser. Nein, niemand beabsichtigt hier eine Mauer zu bauen. Sie ist längst errichtet. Und wer sie nicht sieht, hat das Licht der Erkenntnis bereits verloren.

Das Konstrukt der Vernebelung ist schlicht und ohne sonderliche Finesse erdacht. Es beruht auf schlichter Dauerbeschallung und Wiederholung. Die armen Konsumenten von Nachrichten und Kommentaren werden solange mit den Plattitüden vollgekotzt, bis sie sich von allem abwenden und sich vor sich selber ekeln. Und selbst diejenigen, die das Spiel durchschauen, haben die Selbstachtung und Haltung verloren, die erforderlich wäre, sich diesem ganzen Unrat aus Betrug und Lüge, aus Dilettantismus und Beschönigung in den Weg zu stellen und ein lautes Nein entgegen zu schleudern. 

Angesichts dieser geistigen Verfassung mutet es schon wieder an wie eine gelungene Sentenz aus einer bissigen Satire, dass man den Verhöhnten Erzählungen über die Propaganda autoritärer Regime auftischt, um ihnen das Gefühl zu vermitteln, sie seien noch einmal davongekommen und das hiesige Dasein sei ein sicherer Hafen. Die Techniken, die eine Einheitsmeinung bewirken sollen und die zum Ziel haben, jede Form des Widerspruchs zu eliminieren und die nicht Bekehrbaren auszugrenzen, stammen allesamt aus dem Arsenal autoritärer Regime. Man hat sie übernommen und wendet sie in größter Perfektion selbst an. 

Was diese Techniken der Kommunikation und Meinungsmache bewirken, ist allerdings nicht vorgesehen. Es ist wie ein Blick in den Spiegel! Wird erst einmal deutlich, dass das autoritäre Regime zunehmend den eigenen Verhältnissen ähnelt, radikalisiert sich die Vorstellung darüber, wie die Verhältnisse zu ändern sind. Die ewigen Zyniker nennen so etwas Dialektik. 

Tanz auf dem Vulkan oder das Spiel ist aus!

Chronisten von Untergängen behaupten mit großer Regelmäßigkeit, dass sich das gesellschaftliche Gehabe, bevor der große Knall kommt, der Erscheinung eines großen Festes nähert, bei dem alles erlaubt ist. Hauptsache, es sprengt alle Ketten und Tabus. Bei der Betrachtung der gegenwärtigen Ereignisse muss man zu dem Urteil kommen, dass eine solche Situation eingetroffen ist. Wobei eine Einschränkung gilt: Das, was sich tatsächlich gesellschaftlich ereignet, bewegt sich im Rahmen. Allerdings sind die Entgleisungen auf dem politischen Parkett umso aufsehenerregender. Es herrscht Ball Pompös.

Während hier in Germanistan die Gemüter erhitzt sind, weil in der thüringischen Provinz eine Mehrheit mit der AFD zustande kam, die eine Erhöhung der Grundsteuer verhinderte und von einem Einsturz der Brandmauer gegen den Faschismus gesprochen wurde, applaudierten die Freunde der liberalen Demokratie im kanadischen Parlament bei der Ehrung eines faschistischen Mörders durch den angereisten Präsidenten der Ukraine. Alle standen auf und klatschten. Dabei hatte gerade der hierzulande viel gescholtene Präsident Ungarns seinerseits zu Protokoll gegeben, dass er keine ukrainischen Frauen, Kinder oder Männer, die in Ungarn Schutz gesucht hätten, gegen ihren Willen an die Ukraine ausliefere. Der Hintergrund ist deutlich und beschäftigt vor allem auch Polen als zahlenmäßig größtem Zufluchtsort vor dem Krieg: der Ukraine bzw. dem Fleischwolf des Krieges geht das Material aus. Und selbst die bereits rekrutierten Soldaten fliehen zu Tausenden vor dem sicheren Tod.

Aber solange der hier als Retter der amerikanischen Demokratie Gefeierte, Joe Biden, an seinem Geschäftsmodell Ukraine festhält und er im Greisendiskant die Floskel „whatever it takes“ in die Mikrophone röchelt, muss die biologische Zukunft der Ukraine in den Tod geschickt werden. Und, in Bezug auf die totale Unterwerfung der bundesrepublikanischen Politik, ist es folgerichtig, dass die rot-schwarz-grünen Kriegslüstlinge nach Eskalation schreien. Wie sagte meine Großmutter, in Familie und Nachbarschaft der Rote Zar genannt, noch in solchen Situationen? „Wer sich einmal verkauft hat, der macht das immer wieder! Und, sei niemals so naiv, und glaube diesen Menschen auch nur ein Wort. Es gibt genug redliche Menschen auf der Welt. Mit denen musst du dich verbünden.“ 

Von den Eskapaden der das Außenamt schindenden Göre soll nicht einmal mehr die Rede sein. Jedes politische Konstrukt, das eine derartige Amtsführung zulässt, hat den Ballsaal des Untergangs bereits betreten. Von einer solchen Konstellation ist nichts mehr zu erwarten, außer man betrachtet den Grad der Zerstörung als eine Art von Leistung. Andererseits, was bleibt als der zynische Erguss, wenn man sich die Aufführungen ansieht, die der vereinigte Westen hinsichtlich seiner Glaubwürdigkeit hinlegt?

Da wäre es schon fast eine anständige Geste, wenn man das Rednerpult bestiege und die Wahrheit spräche: dass man merke, dass die Felle wegschwimmen, dass der eigene Müßiggang und die Übervorteilung anderer zu dem geführt habe, was man jetzt mit Erschrecken feststellen müsse. Dass die anderen, die man regelmäßig über den Tisch gezogen habe, nicht mehr mitspielen wollten und dass die eigene Kraft durch die Konsumverfettung geschwunden sei. Deshalb bezahle man noch diejenigen, die so naiv seien, und sich für eine verlorene Sache metzeln ließen. 

So ungefähr müssten die Reden lauten. Das stellte zumindest die Glaubwürdigkeit her. Mehr aber auch nicht. Das Spiel ist aus. Der Tanz auf dem Vulkan dauert noch ein Weilchen an. Aber auch die Zeit geht vorbei. Dann beginnt ein neues Spiel. Und viele der jetzigen Protagonisten stehen nur noch in den Annalen. So redlich sollten zumindest die Chronisten sein.