Archiv für den Monat April 2012

Der Mehltau des Konformismus

Mal ehrlich gefragt: Gibt es eigentlich in irgend einer Sphäre unseres gesellschaftlichen Daseins noch eine Form der scharfen Kritik? Egal, welches Terrain man abschreitet, ob es die Innen-, die Außen-, die Sozial-, die Energie- oder die Umweltpolitik betrifft, im Großen und Ganzen bewegen wir uns in einem Mainstream, der definiert ist aus einem eher religiös zustande gekommenen Konsens. Das, was wir eingedeutscht die politische Korrektheit nennen, basiert auf einer moralischen Positionierung, die bestimmt, bis wohin wir mit unserem Denken noch gehen dürfen, ohne die kuschelige Wärme der Gemeinschaft zu verlieren drohen. Dissens konzentriert sich auf Nuancen, Grundlegendes wird nicht mehr ausgefochten.

Es scheint so zu sein, dass vor allem die letzten beiden Jahrzehnte zu einer Befriedung der Gesellschaft beigetragen haben. Und vieles deutet darauf hin, dass nicht irgend eine Macht von oben oder außen für den standardisierten Konsens und die Unfähigkeit zur Opposition gesorgt haben, sondern die Gesellschaft selbst. In den Gesellschaftswissenschaften betitelt man den zu beobachtenden Prozess als die Entwicklung vom Government zu Governance. Bezeichnet Government noch eine Form der Regierung, an die seitens des Volkes Macht delegiert wird, die dann von den Gewählten begrenzt auf Zeit ausgeübt wird, so ist Governance das, was quasi als korrekte Haltung von Jedermann eingespielt und verinnerlicht wird. Es ist der mentale Käfig, in den das rebellionsfähige Subjekt des Homo sapiens geboren wird. Macht von außen ist kaum noch nötig, um die Gesellschaft zu befrieden. Die Herrschaft findet im eigenen Kopf statt und wenn man so will, ist die political correctness das Über-Ich unserer Tage geworden. Und die heutigen Individuen sind nicht robuster als die ersten Patienten Siegmund Freuds bei dem Versuch, sich gegen dieses Über-Ich zu erheben.

Man sollte die Verdrossenheit über Politik nicht immer an der schlechten Lebensführung des einen oder anderen Politikers festmachen. Das greift viel zu kurz. Vielmehr scheint es nahezu logisch, den Überdruss an dem politischen Geschäft und Gewese darin zu suchen, dass tief greifende, die Existenz des Systems betreffende Kritik gar nicht mehr gedacht werden kann. Die Reaktionen auf bloße Ansätze einer solchen Kritik sind folglich nicht rational und logisch, sondern neurotisch und psychopathologisch. Kritik wird nicht genommen als der Versuch, schlechte Entwicklungen in gute umzuwandeln, sondern als Anschlag auf die wohlige Befindlichkeit des Konsenses.

Trotz steter Beschleunigung und rasenden Innovationszyklen hat sich unsere Gesellschaft in eine furchtbar langweilige Veranstaltung verwandelt, in der nichts Wesentliches mehr Gegenstand der Auseinandersetzung wird. Eine Art Mehltau des Konformismus hat sich über alles gezogen, irgendwie haben wir uns alle lieb und es fehlt die Courage, die wirklich politisch verwerflichen Erscheinungen noch anzusprechen, geschweige denn zu bekämpfen. Wenn man zeigen will, dass man ein toller Demokrat ist, dann ist der Betrachtungsfall immer sehr weit weg, irgendwo in China oder Chile, aber nicht in Rosenheim oder Berlin. Die Sehnsucht nach Zeiten, in denen politische Protagonisten Politik noch als eine Art Kampfsport betrachtet haben, ist folglich sehr logisch. Und auch das Auftauchen einer Partei wie die der Piraten ist allenfalls eine Aufführung einer komischen Oper, in der beobachtet werden kann, wie die Aktionsmuster der heutigen Grünen denen derer gleichen, die damals gegen sie reagierten. Um die Fragen von Herrschaft und Besitz, den nach wie vor zentralen Feldern von Politik, geht es freilich nie. Wie denn auch!

Ein starkes Plädoyer für die Freiheit der Konzeption

Branford Marsalis Quartet. Four MFs Playin‘ Tunes

Wenn Branford Marsalis ein Album aufnimmt, dann kann man sicher sein, musikalisch, konzeptionell und tontechnisch etwas auf sehr hohem Niveau zu bekommen. Kurz nach der CD, die er exklusiv mit dem Pianisten Joe Calderazzo eingespielt hat und die durch das nahezu blinde Verständnis von zwei Ausnahmesolisten bestach, wartet das Branford Marsalis Quartet nun mit Four MFs Playin´Tunes auf. Der Titel suggeriert zum Erstaunen derer, die Marsalis-Produktionen gewohnt sind, dass konzeptionell zunächst wenig Substanzielles zugrunde liegt. Doch der erste Eindruck täuscht gewaltig.

Mit den Titeln The Mighty Sword und Brews, die die Einspielungen einleiten, wird spirituell nichts Neues geboten. Die rauen und immer etwas reibungsvollen Dialoge zwischen Calderazzo und Marsalis erhalten dadurch eine etwas ungewohnte Note, als dass sie durch den exklusiven Gebrauch des Soprans etwas Verspieltes bekommen, das dazu animiert, weiter zu hören. Bis auf wenige Ausnahmen bleibt Marsalis beim Sopran und auch bei dem Stück Maestra ist zu sehen, dass der lyrische, von der europäischen Klassik geprägte Ton bei diesen Aufnahmen dominieren wird.

Branford Marsalis hat sich dezidiert nicht nur zur europäischen Klassik, sondern sogar zu Wagner bekannt und immer wieder betont, dass er das Konzeptionelle daran schätzt und die politische Kontaminierung willentlich ignoriert. Das mag manchen nicht schmecken, dokumentiert aber eine innere Freiheit, die diejenigen, die glauben, in einem Genre bleiben zu müssen, nicht besitzen und diese reduziert. Die Tunes, die gespielt werden und so lapidar daher kommen, haben es in sich, weil sie, wie bei Mirth and Melancholy auch, hartnäckig an der Idee einer transatlantischen musikalischen Fusion festhalten. Dass mit mit dem Stück Teo der moderne amerikanische Duktus eines Thelonious Monk quasi als Antipode zu den vorher präsentierten klassisch-europäischen Etüden gesetzt wird, zeugt von dem unbändigen Selbstbewusstsein Branford Marsalis, der diesmal das Tenor in der Rustikalität eines Sonny Rollins intoniert und Joe Calderazzos, der die Akkorde in kosmischen Dimensionen akzentuiert.

Auch mit Whiplash folgt eine Sequenz des Hardbob, die in genialer Inszenierung der Hommage an Monk folgt. Danach kehrt das Quartett zurück zu lyrischen Einspielungen, die allerdings nicht zu den Mustern der europäischen Klassik zurückkehren, sondern in starker Weise auf ihre teils auch nostalgische Verfremdung in den USA hindeuten. Und Besonders der Standard My Ideal kann als ein verschmitzter Fingerzeig auf die Weichspülung nahezu mathematischer Musikkonzepte europäischer Provenienz durch die Emotionalität der Neuen Welt gedeutet werden.

Four MFs Playin´Tunes ist nicht nur eine hochklassige Vorstellung des zeitgenössischen Jazz, sondern auch ein überaus starkes Plädoyer für die Freiheit der Konzeption in Anlehnung an alles, was der Inspiration dienlich ist. Die Offenheit Banford Marsalis hat das Ausmaß eines Miles Davis erreicht. Und dass das Quartett nun einen neuen, jungen Schlagzeuger hat, dessen Dynamik und Feinfühligkeit den Jazz der nächsten Jahrzehnte mit prägen wird, ist ein Geheimnis, das sich schnell herumsprechen wird.

Jenseits der Komfortzonen

Niemand, aber auch niemand käme auf die Idee, eine Umwälzung der bestehenden Zustände anzustreben, wenn er mit dem Bestehenden zufrieden wäre. Denn Veränderung bedeutet immer das Herausmüssen aus den so genannten Komfortzonen. Menschen, die sich eingerichtet haben und nicht unbedingt auf Krawall gebürstet sind, werden sich gut überlegen, ob sie die Bequemlichkeit des Vertrauten gewillt sind zu verlassen, um etwas zu ändern, das als gar nicht so schlecht empfunden wird.

Insofern befindet sich unser Zeitalter in einer Falle. Eine Epoche, die sich als global beschreibt und die Innovation zum zentralen Movens der Geschichte definiert, ist geradezu genötigt, ständig das Blatt der Veränderung auszuspielen. Wer kennt sie nicht, die Formulierung von der Beständigkeit des Wandels oder dem tendenziellen Sinken der Halbwertzeiten alles Bestehenden? Wunderbar, könnte man da sagen, gibt es denn gar nichts, was von Dauer ist? Kann man sich denn auf gar nichts mehr verlassen?

Was die sächliche Welt, die von Menschenhand geformt wird betrifft, so muss man die verzweifelte Frage mit ziemlicher Sicherheit verneinen. Nichts, was nicht der ständigen, progredierenden Kraft der Optimierung und Rationalisierung unterzogen würde. Und dennoch sehen wir eine unbändige, alles überragende Kraft, die das Tempo der Veränderung und den rasenden Fortschritt immer wieder erfolgreich ins Stocken bringt. Es ist die bockige, dickleibige und phlegmatische Mentalität des Menschen selbst, der sich nur bereit ist in Bewegung zu setzen, Verhalten zu ändern oder Gewohnheiten abzulegen, wenn der Status quo das Stadium der Annehmlichkeit verlassen hat und sogar zunehmend Schmerzen bereitet.

Die Antwort der Treibenden unserer Zeit, denen das retardierende des dicken Menschenfells ein Dorn im Auge ist, ist die Entwicklung von Instrumenten, die es erschweren sollen, uneinsichtig und faul zu sein. Die Instrumente, mit denen man ihnen auf den Pelz rückt, kontrollieren unablässig den Fortschritt und bewerten permanent das Ergebnis. Nicht, dass nicht auch dort die subversive Kraft des Trägen zu wirken in der Lage wäre. Aber das Komfortable des Stillstandes ist mit dem Anwachsen der Monitoringsysteme dahin.

Nun lässt sich trefflich streiten, für welche der Varianten man Partei ergreifen sollte. Wer, bitte schön, wäre denn so vermessen, dass er sich in unserer beschleunigten Welt gegen den Wandel per se stellen wollte? Und wer wäre, auf der anderen Seite, so verbohrt, das Kontrollieren um des Kontrollierens willen als exklusives Ziel des Handelns auszugeben?

Wenn es als Fakt gelten kann, dass es als unangenehm empfunden wird, die Komfortzonen verlassen zu müssen, dann sollte auch bewusst sein, dass es ohne Veränderung bald gar keinen Komfort mehr geben wird. Und schon sind wir bei einer sehr trivial klingenden, aber dennoch nicht minder schätzbaren Erkenntnis gelandet: Dass nämlich der Grad der Veränderung der positiven Prognose menschlicher Befindlichkeit entsprechen sollte und dass die Gängelung des Veränderungswilligen durch Instrumente des Misstrauens nicht auf die Spitze getrieben werden sollte. Wer im Rausch der Veränderung das Augenmaß verliert, sollte sich der Gefahr bewusst sein, irgendwann in den Annalen als der eigentliche Verhinderer aufgeführt zu sein.