Mal ehrlich gefragt: Gibt es eigentlich in irgend einer Sphäre unseres gesellschaftlichen Daseins noch eine Form der scharfen Kritik? Egal, welches Terrain man abschreitet, ob es die Innen-, die Außen-, die Sozial-, die Energie- oder die Umweltpolitik betrifft, im Großen und Ganzen bewegen wir uns in einem Mainstream, der definiert ist aus einem eher religiös zustande gekommenen Konsens. Das, was wir eingedeutscht die politische Korrektheit nennen, basiert auf einer moralischen Positionierung, die bestimmt, bis wohin wir mit unserem Denken noch gehen dürfen, ohne die kuschelige Wärme der Gemeinschaft zu verlieren drohen. Dissens konzentriert sich auf Nuancen, Grundlegendes wird nicht mehr ausgefochten.
Es scheint so zu sein, dass vor allem die letzten beiden Jahrzehnte zu einer Befriedung der Gesellschaft beigetragen haben. Und vieles deutet darauf hin, dass nicht irgend eine Macht von oben oder außen für den standardisierten Konsens und die Unfähigkeit zur Opposition gesorgt haben, sondern die Gesellschaft selbst. In den Gesellschaftswissenschaften betitelt man den zu beobachtenden Prozess als die Entwicklung vom Government zu Governance. Bezeichnet Government noch eine Form der Regierung, an die seitens des Volkes Macht delegiert wird, die dann von den Gewählten begrenzt auf Zeit ausgeübt wird, so ist Governance das, was quasi als korrekte Haltung von Jedermann eingespielt und verinnerlicht wird. Es ist der mentale Käfig, in den das rebellionsfähige Subjekt des Homo sapiens geboren wird. Macht von außen ist kaum noch nötig, um die Gesellschaft zu befrieden. Die Herrschaft findet im eigenen Kopf statt und wenn man so will, ist die political correctness das Über-Ich unserer Tage geworden. Und die heutigen Individuen sind nicht robuster als die ersten Patienten Siegmund Freuds bei dem Versuch, sich gegen dieses Über-Ich zu erheben.
Man sollte die Verdrossenheit über Politik nicht immer an der schlechten Lebensführung des einen oder anderen Politikers festmachen. Das greift viel zu kurz. Vielmehr scheint es nahezu logisch, den Überdruss an dem politischen Geschäft und Gewese darin zu suchen, dass tief greifende, die Existenz des Systems betreffende Kritik gar nicht mehr gedacht werden kann. Die Reaktionen auf bloße Ansätze einer solchen Kritik sind folglich nicht rational und logisch, sondern neurotisch und psychopathologisch. Kritik wird nicht genommen als der Versuch, schlechte Entwicklungen in gute umzuwandeln, sondern als Anschlag auf die wohlige Befindlichkeit des Konsenses.
Trotz steter Beschleunigung und rasenden Innovationszyklen hat sich unsere Gesellschaft in eine furchtbar langweilige Veranstaltung verwandelt, in der nichts Wesentliches mehr Gegenstand der Auseinandersetzung wird. Eine Art Mehltau des Konformismus hat sich über alles gezogen, irgendwie haben wir uns alle lieb und es fehlt die Courage, die wirklich politisch verwerflichen Erscheinungen noch anzusprechen, geschweige denn zu bekämpfen. Wenn man zeigen will, dass man ein toller Demokrat ist, dann ist der Betrachtungsfall immer sehr weit weg, irgendwo in China oder Chile, aber nicht in Rosenheim oder Berlin. Die Sehnsucht nach Zeiten, in denen politische Protagonisten Politik noch als eine Art Kampfsport betrachtet haben, ist folglich sehr logisch. Und auch das Auftauchen einer Partei wie die der Piraten ist allenfalls eine Aufführung einer komischen Oper, in der beobachtet werden kann, wie die Aktionsmuster der heutigen Grünen denen derer gleichen, die damals gegen sie reagierten. Um die Fragen von Herrschaft und Besitz, den nach wie vor zentralen Feldern von Politik, geht es freilich nie. Wie denn auch!
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