Archiv für den Monat August 2012

Die Perfidie der Standhaftigkeit

Der 11. September des Jahres 2001 hatte, nachdem der erste Schock verflogen war, zweierlei Debatten zur Folge, die einen großen Einfluss auf die weitere Entwicklung in der Welt haben sollten. Die eine wurde vor allem in der muslimischen Hemisphäre geführt und in der Öffentlichkeit des Westens kaum registriert. Dort regte man sich nämlich an vielen Orten darüber auf, dass die Aktionen von Al Qaida und ihresgleichen in der Bilanz weitaus mehr muslimische als nicht-muslimische Opfer gefordert hatte und dass es an der Zeit sei, dem Terrorismus das Wasser abzugraben. Und die so genannte Achse gegen das Böse, die vom US-Präsidenten Bush geschmiedet wurde, war aus der Sicht vieler Muslime ein Hohn, weil die USA ausgerechnet im muslimischen Lager mit den reaktionärsten und den dem Terrorismus am nächsten stehenden Regimes fraternisierte.

Die Diskussion im Westen hatte einen völlig anderen Charakter. Sie blendete die muslimische Welt aus und reflektierte die Befindlichkeit des Westens selbst. Gut gemeinter Tenor der Überlegungen war, dass sich der Westen mit seiner Demokratie nicht erpressen lassen und als letztes an den demokratischen Qualitäten und Freiheiten zweifeln dürfe. Doch auch hier wurde es schwer, der Vernunft treu zu sein, denn innenpolitisch funktionierte das System Bush ähnlich kontraproduktiv wie außenpolitisch. Als innenpolitische Konsequenz auf die Liberalisierung der Clinton-Ära gewählt, nutzte sie die Bedrohung durch den islamistisch ausgewiesenen Terrorismus als Vorwand, um peu a peu eine protestantisch-puritanistische Diktatur einzuführen, die weit entfernt auch von den Idealen der amerikanischen Demokratie ist.

Betrachtet man die heutige US-Gesellschaft, so fallen gleich mehrere Probleme auf, die gelöst werden müssen und zu deren Lösung zu großen Wähleranteilen Barack Obama entsandt wurde. Zum einen ist die systematische Abkehr von einer industriellen Wertschöpfung einer extensiven Dienstleistungsbranche gewichen, deren Leistungen allerdings fast niemand mehr bezahlen kann. Zum anderen wurde der US-amerikanische Markt mit Billigprodukten aus China überflutet, was die Handelsbilanzen nachhaltig verhagelte. Die strategische Überdehnung einer Supermacht, die sich allzu bereit in Weltordnungsmachtpflichten rufen ließ, ohne die ökonomische Potenz noch vorhalten zu können, musste ins Schlingern geraten. Und der Versuch, die neuartige Bedrohung durch eine asynchrone Kriegsführung parieren zu können, indem man auf die überholte Wertewelt der frühen, weiß-protestantischen Siedlergesellschaft zurückgriff, konnte nur zu einer Aufweichung und Schädigung der demokratischen Traditionen führen.

Wer einen Eindruck von der Abkehr der USA von Demokratie und Diversität erhalten möchte, möge den viel gepriesenen Schmelztiegel New York City besuchen, der das alles existieren lässt in einem weiß-anglosächsisch-protestantischen Reagenzglas. Aus dem großen informellen, provisorischen und überaus toleranten Labor, über deren Bevölkerung der unvergessliche „Borstal Boy“ Brendan Behan schrieb, wer sie verachte, hasse die menschliche Rasse, aus diesem Labor ist eine erbärmliche Diktatur kleinbürgerlicher Verordnungen unter Bloombergscher Regie geworden.

Vielen, die New York aus anderen Zeiten kennen, scheint es eine Wende zum Besseren zu sein, weil die Parks sauberer, die Straßen sicherer und die Bars rauchfrei sind. Doch die Essenz dieser Metropole, aus der eine Überlebenselite entstehen konnte, ist kaum noch zu spüren. Der 11. September hat das Land und diese Stadt sehr verändert und der Schaden ist größer, als man es wahr haben will.

Die Liebe zum Staat

Es scheint die genetische Information zu sein, die das politische Agieren der Deutschen bestimmt. Seit der immer wieder verunglückten Bildung zum Nationalstaat entpuppt sich die Volksseele als tief gespalten. Auf der einen Seite ein tief sitzender Reflex zur Rebellion und Aufsässigkeit, eine intime Würdigung der Anarchie und auf der anderen Seite eine süchtige Zuwendung zum absoluten Staat, der alles beherrscht und alles regeln soll. Diese Bipolarität zieht sich durch alle sozialen Klassen und hat in der Geschichte zu verhängnisvollen Entwicklungen geführt. Dagegen machen kann man wahrscheinlich nichts, aber zu wissen, wie es funktioniert, hilft die Gefahren früh genug zu identifizieren.

Keine Woche vergeht, ohne dass illustre Beispiele dokumentieren, in welcher Phase der Bipolarität sich die deutsche politische Öffentlichkeit derzeit befindet. Aktuell sind es zwei Meldungen, die in der Diskussion sind und die natürlich die Übernahme der Regie durch den Staat nahelegen.

Der erste Fall sind die Machenschaften mit Organspenden und die Korrumpierbarkeit einzelner Mediziner. Fast ein nationaler Konsens herrscht darüber, dass so etwas beim Einsatz staatlicher Kontrolleure nie wieder vorkomme. Und fürwahr, von korrupten Subjekten in staatlichen Diensten hat man ja auch noch nie gehört. Die zweite Meldung ist die über eine, analog zu Flugzeugen, Blackbox in PKWs. Argument ist die mögliche Dokumentation von Unfällen, tatsächlich ermöglicht dieses Utensil selbstverständlich eine größere Überwachung. Doch unter dem Aspekt der Regulierung bellt die gesamte Öffentlichkeit ein Credo, dass der Staat es schon richten werde. Und die Diskussion, die seit einigen Wochen die Gemüter erhitzt und sich auf das Kölner Urteil gegen die Beschneidung von Jungen bezieht, könnte nirgendwo auf der Welt eine derartig absurd etatistische Wendung nehmen wie in Germanistan.

Wer geglaubt hätte, die Diskussion drehe sich hier um Fragen der Autonomie und des Ranges, um die berechtigte Überlegung, ob die staatliche Autonomie höher stehe als die kulturelle, der sah sich schwer getäuscht. Zum Vorschein kam die staatliche Rückständigkeit, die sich seit Anbeginn den Lapsus leistet, die Trennung von Kirche und Staat nicht zu vollziehen und somit eigentlich kein Argument hat für die staatliche Autonomie. Dagegen aber die Exekutive als das alles beherrschende Prinzip anpreist und mit einem breiten politischen Konsens der so genannten Lösung zustimmen wird, dass die Beschneidung rechtens ist, wenn sie nur vorgenommen wird durch einen staatlich geprüften Beschneider.

Das Dilemma wird umso deutlicher, wenn man die Beobachtungen verallgemeinert. Das, was als Sehnsucht nach dem absoluten Staat daher kommt, ist eine Illusion. Sie würde eine Vorstellung über den Charakter voraussetzen, den dieser Staat haben sollte. Über so etwas existiert jedoch kein Konsens. Dagegen dominiert die Illusion, die exekutiven Vertreter des Staates würden es in jedem Fall des Zweifels oder der Brisanz schon richten. Ohne Klarheit des Auftrages jedoch wird daraus nichts werden, denn Autonomie, Entscheidungsfähigkeit und der Wille zur Unabhängigkeit entspringt einer Klarheit über das Selbst.

Mit der Tendenz zum Staatsmonopol, die sich quer durch die Parteienlandschaft zieht und von der gegenwärtigen Bundesregierung vehement betrieben wird, findet gleichzeitig eine Sinnentleerung des Staatscharakters statt. Dagegen mausert sich die Dominanz von Einzelbehörden, die ohne vorhandene programmatische Klarheit und Ethik ins Feld geschickt werden. Wenn deren Verfehlungen eskalieren, wird das Ganze umschlagen in einen anti-staatlichen Reflex. Es wäre nicht das erste Mal.

Wiedersehen im alten Süden

Robert Cray Band. Nothin But Love

Der 1953 in Columbus, Georgia, geborene Robert Cray gehört zu einer Generation von US-amerikanischen Blues-Gitarristen, die große Zeichen gesetzt hat. Der berühmteste Weiße seiner Alterskohorte war der tragisch durch einen Hubschrauberabsturz umgekommene Stevie Ray Vaughan. Auffallend bei dieser Generation außergewöhnlicher Blues-Gitarristen ist ihre Herkunft aus dem Süden. Als hätte sich der Electric Blues, der von Musikern aus dem Süden vor allem in Chicago, dann aber auch in Detroit und New York das Leben eingehaucht worden war, dort, wo seine Schöpfer eigentlich herkamen, neue Inspiration geholt, sich auf den Weg zurück zu seinen Wurzeln gemacht. Robert Cray war bereits in den achtziger Jahren als junger Mann überaus erfolgreich und sammelte Grammys ein. Doch dann wurde es relativ still um ihn, obwohl er weiterhin ein gefragter Musiker war, auf John Lee Hookers Come-Back-Album Mr. Lucky eine prominente Rolle spielte und in die Hall of Fame des Blues aufgenommen wurde.

Nun, kurz vor seinem sechzigsten Geburtstag, erscheint ein lange erwartetes Album mit dem Titel Nothin But Love. Um es gleich zu sagen: Das Warten hat sich gelohnt! Robert Cray ist etwas gelungen, was als eine großartige Entwicklung bezeichnet werden muss: Er ist seinen Wurzeln treu geblieben, hat das bewahrt, was ihn bereits vor Jahrzehnten auszeichnete und dennoch eine Modernisierung vollzogen. Denn bei ihm, dem Mann aus Georgia, waren schon immer starke musikalische Bindungen an den Soul erkennbar. Das Blues-Feeling ist so authentisch, dass es nicht mehr gesteigert werden kann, er bleibt bei seinen feinen, spärlich phrasierten, aber gefühlvoll akzentuierten Riffs und sein Gesang ist Soulfood pur, Sehnsucht mit hoher Luftfeuchtigkeit. Die Robert Cray Band mit Jim Pugh (piano and hammond organ), Richard Cousins (bass guitar) und Tony Braunagel (drums) unterlegt die Fusion von Blues und Soul kongenial mit Klangtemperaturen, die nach oben zeigen und die Hektik nehmen, ohne an Groove zu verlieren.

Bei insgesamt 11 Stücken, von denen Blues Get Off My Shoulder (1986) und You Belong To Me (1952) eher Kontrapunkte sind, die traditionelle Bezüge aufzeigen, handelt es sich komplett um Neukompositionen, die alle vertraut vorkommen, ohne langweilig zu sein. Ob Won´t Be Coming Home, I´ll Always Remember You, I´m Done Cryin´, Great Big Old House oder Sadder Days, die eingespielten Stücke sind gelungene Beispiele für den Transfer des Electric Blues aus dem Norden in die alte Heimat, die Aggressivität des Industrialismus geht verloren zugunsten einer sanften Melancholie, die die Entwicklung nicht ausblendet, sondern der die Fusion mit dem Soul gelingt. Robert Cray bedient nicht den Blues, wie er als Klischee in allzu vielen Köpfen existiert, sondern er verweist auf eine Entwicklung, die er in den Jahren seines Höhenflugs selbst kaum wahrgenommen und vernommen hatte. So entsteht die Perspektive des alten Südens, der rasante Schritte in die Moderne gemacht hat. Nothin But Love ist eine gelungene Fusion von Soul und Blues, unspektakulär, aber gehaltvoll, gefühlvoll, aber nicht schwülstig, technisch brillant, ohne aufdringlich zu sein. Ein Meilenstein, der zunächst gar nicht so wirkt, eine verschlüsselte Botschaft, deren Dimension erst im Nachklang bewusst wird.