Archiv für den Monat November 2015

Ordnung, Rebellion und das Ungewisse

Paul Feyerabend nannte es einmal „Wider den Methodenzwang“, eher humoristisch gemeint war die Ansage, dass Ordnung nur für die eine wichtige Sache sei, die zu faul seien, um zu suchen. Die Antipathie gegen Ordnung und Methoden vermittelt Sinn, wenn sich der Verdacht erhärtet, dass sie zur Beherrschung benutzt werden. Und Beispiele existieren tatsächlich in großer Menge. Ordnung und Disziplin sind die Grundstruktur hierarchischer Systeme und die meisten Methoden folgen einer sehr genau definierten Zweckrationalität. Es stellt sich immer die Frage, in wessen Interesse die Ordnung und Disziplin walten und welchem Interesse die Methoden folgen. Ist beides repressiv, so ist die Ablehnung durchaus berechtigt. Aus einer Kritik gegen bestimmten Formen von Herrschaft kann so die Auflehnung gegen Ordnung und Methode generell erfolgen. Das ist vielleicht das Wesen dessen, was mit dem Adjektiv antiautoritär bezeichnet wurde. Die Rebellion gegen bestimmte Formen von Unterdrückung kann einen befreienden Charakter haben, aber allein bleibt sie folgenlos.

Das Leben des Individuums bildet in der existenziellen Welt einen Mikrokosmos. Es ist folgerichtig, dass das Mikrosystem Mensch ebenfalls einer bestimmten Systematisierung seiner Handlungsabläufe unterliegt. Das kann eine bewusste Entscheidung sein, die dem Individuum selbst entstammt und von keiner Hierarchie suggeriert wurde. Die Etablierung von Routinen, die immer auch eine Ökonomisierung des Daseins bedeuten, verschafft Lebenszeit, die zur Gestaltung genutzt werden kann. Die Systematisierung dieser Abläufe basiert in der Regel auch auf Ordnungsprinzipien und bestimmten Methoden, um Ungeliebtes, aber Nützliches in seiner Zeitbeanspruchung zu verdichten und diese Rationalisierung dem Konto frei verfügbarer Lebenszeit gutzuschreiben.

Die Rebellion gegen die Rationalisierung und Systematisierung des Lebens hat mit brutaler Gesetzmäßigkeit auch immer dazu geführt, dass die Rebellierenden irgendwann die Fähigkeit einbüßten, sich der Organisiertheit des repressiven Systems zu erwehren. Es handelt sich um einen klassischen Fall von Dialektik: Das, was als Macht anderer bekämpft werden soll, birgt auch den Keim dessen, diese fremde Macht zu bekämpfen. Ohne eigene Rationalisierung verpufft der Esprit der Rebellion in Belanglosigkeit. In der übermäßigen Adaption der Rationalisierung wiederum erstirbt die Kreativität und der Esprit der Rebellion. Die Dosis macht es, die Geschichte ist ein beredtes Journal für den Rationalisierungswahn, von Robespierre bis Lenin, aber auch für das Abgleiten in die den Gestus der Rebellion, wie bei den Aktionisten und Situationisten, denen die Geschichte nur Augenblicke zur Verfügung stellte, um ihr Ansinnen transparent zu machen. Und berechtigterweise stellt sich die Frage, ob die richtige Dosis je gefunden wurde. Sie experimentell zu suchen und vielleicht irgendwann zu bestimmen, bleibt die Aufgabe.

Vieles deutet darauf hin, dass es nicht um Ordnung und Methode, sondern um die Gleichzeitigkeit von Gegenwart und Zukunft geht. Das notwendige Denken ist die Schwierigkeit, die Identifizierung der repressiven Ordnung und Methode und die Notwendigkeit der Rationalisierung von Widerstand. Dieser Widerstand allein genügt jedoch nicht, er muss eine Vision von dem Neuen, nach dem gestrebt wird, entwickeln. Es geht um Lebensformen, die aus den Erfahrungen der alten hervorgehen und in der Lage sind, das schlechte und falsche Leben abzulegen. Ihr Geist ist zumeist präsent, aber ihre Form bleibt ein Mysterium. Diese Unauflösbarkeit kann zur Verzweiflung treiben und sie kann entmutigen. Aber sie zu suchen, das ist das Mandat derer, die bei der Kritik des Alten nicht stehen bleiben wollen. Ihr Bemühen mit Abwinken zu begleiten bringt exklusiv nur einem Gewinn: der alten Ordnung und den alten Methoden.

Was hat Ankara mit Magdeburg zu tun?

Wohin treibt die Gesellschaft? Das ist eine Frage, die momentan alles durchdringt. Nirgendwo endet ein Gespräch, in dem das Ungewisse dieser Entwicklung nicht Thema gewesen wäre. Um den Jargon der Einfallslosen zu gebrauchen: Viele Menschen sind besorgt. Es sind nicht diejenigen, die die Sorge zum Vorwand nehmen, um ihre eigenen Interessen durchzusetzen oder andere auszugrenzen und zu skandalisieren, denn diese Fraktion ist bereits Bestandteil des gesellschaftlichen Problems. Nein, es sind Leute aus ganz normalen Berufen und allen möglichen sozialen Milieus, deren Verstand funktioniert und die bis Drei zählen können, wie der Volksmund so schön sagt. Sie fragen sich, wohin das alles führt. Und sie meinen damit den Umgang vieler Nationen untereinander, der daraus resultierenden Kriege und Verwerfungen und der wieder daraus resultierenden Not derer, die von dieser Verrohung betroffen sind und ihre nackte Haut retten wollen. Diese Sorge ist berechtigt. Und das ist die Sorge, die alles beherrschen sollte.

Einfache Antworten gleichen oft einer Rezeptur und sind insofern weniger angebracht. Hingegen sind einfache Fragen oft verblüffend erhellend. Zum Beispiel, was heißt es, wenn ein Bündnispartner von Deutschland, sowohl in der NATO als auch in punkto jüngster zwischenstaatlicher Konsultationen, wenn dieser Bündnispartner nicht nur Terroristen finanziert und unterstützt, um mögliche Opposition im eigenen Land zu bekämpfen? Und, wenn dieser Bündnispartner mit einer Kampagne sondergleichen den kritischen Journalismus im eigenen Land nahezu liquidiert? Der vor imperialer Geltungssucht strotzende Präsident Erdogan unternimmt momentan einen Feldzug, um Journalisten, die den Beruf ernst nehmen, für Jahrzehnte hinter Gefängnismauern zu bringen. Was sagt ein solcher Bündnispartner über uns aus?

Die Antwort kann keine moralische sein. Die Antwort ist woanders zu suchen. Es ist eine Frage der Vorstellung davon, was demokratische Institutionen zu leisten haben. Hier, im eigenen Land, ist ebenfalls eine Verrohung zu verzeichnen, nämlich die der politischen Auseinandersetzung. In bisher nicht gekanntem Ausmaß werden Immigranten und deren provisorische Unterkünfte zur Zielscheibe gewalttätiger Angriffe. Die Zahlen sind erschreckend. Und diese Zahl ist das Ergebnis einer Eskalation, weil die Behörden, die dafür zuständig sind, kaum etwas unternehmen. Das ermuntert, und das beschädigt die staatlichen Institutionen, in diesem Fall Polizei und Justiz, deren Aufgabe es wäre, dem ein Ende zu setzen. Um zu der Frage zurück zu kommen: Wer bereit ist, die Funktionalisierung von Justiz und Polizei zugunsten einer politisch schädlichen Sache hinzunehmen, der macht es irgendwann auch selbst.

Ja, so einfach kann das sein. Und es sei davor gewarnt, sich Illusionen über den Zustand und die Befindlichkeit der eignen staatlichen Institutionen zu machen. Dazu gibt es keine Sondersendungen in ARD und ZDF, aber genau das wäre es, was passieren müsste. Was ist zu tun, um ein konsequentes Vorgehen von Polizei und Justiz zu garantieren. Das ist kein kleinmütiger Legalismus, sondern Realismus. Denn die viel beschworene Zivilgesellschaft, die rettet in der Krise die Gesellschaft nicht vorm Abgleiten in die Barbarei. Die immer wieder im Feuilleton gesalbte Zivilgesellschaft ist nicht nur die, die Flüchtlinge willkommen heißt, nein, es ist auch die Zivilgesellschaft, die Heime für Asylsuchende in Brand steckt. Es sind die staatlichen Institutionen, auf die es ankommt. Eigenartigerweise schaut dahin niemand so genau. Aber es wäre aufschlussreich. Allein die Entwicklung der Justiz, vor allem der bayrischen, als auch die ganz normale Vorgehensweise der Behörden bei der Aufnahme und Organisation von Flüchtlingen würde zeigen, wie professionell, aber schlimmer noch, von welchem Geist sie durchdrungen sind. Und, wer Freunde hat wie die gegenwärtige Türkei, der meint tatsächlich, hier sei alles bestens in Ordnung.

Nie wieder? Ein Kommentar

Gibt es das wirklich? Dieses Nie wieder? Eine Frage, die mir immer durch den Kopf ging, wenn ich die Parole irgendwo las. Richtig ist, dass viele, die Faschismus und Krieg miterleben mussten und die Generation, die danach kam und sah, welche Traumata und Verhaltensmuster das III. Reich bei denen verursacht hatte, die dabei waren, dass so etwas nie wieder passieren dürfte. Und die neue Gesellschaft, die im Westen den Namen Bundesrepublik trug, die bockte erst gewaltig, weil viele, die den ganzen Schlamassel mit verursacht hatten, plötzlich wieder irgendwo in Amt und Würden ihr Unwesen trieben. Im Osten war das anders, das hieß der Staat demokratisch, und ehemalige Faschisten hatten da wohl keine Chance. Vielleicht sollte da das Problem werden, dass der Faschismus immer die anderen waren und die Psychologie der Muster nie interessierte.

Im Westen jedenfalls rebellierten irgendwann die Nachkommen und das Nie wieder! erschallte überall. Der Geist und die Werte der West-Republik wurden über Jahrzehnte durch diese Rebellion geprägt, der Staat strengte sich richtig an, um die Wurzeln dessen, was die Nation in so große Verwerfungen gebracht hatte, auszureißen. In den Lehrplänen aller Schulen wurden die Vergangenheit und die demokratische Verfassung und seine demokratischen Organe zu einem festen Bestandteil. Die Forschung befasste sich damit und es wurden gesellschaftlich politisch tiefgreifende Diskussionen über den Staat geführt. Für das Militär existierte ein Konzept, das sich Bürger in Uniform nannte, Ordnungsämter wurden zu Bürgerdiensten und bis zu einem gewissen Zeitpunkt konnten junge Generationen es kaum noch erwarten, dass sie wählen durften.

Vielleicht, ja vielleicht war die Stunde, die die Deutschen pflichtgemäß als die glücklichste nach dem Krieg in ihr nationales Journal schrieben, die Wiedervereinigung mit den Brüdern und Schwestern im Osten, das Datum, mit dem das politische Bewusstsein im ganzen Land erodierte. Vielleicht war das kollektive Gefühl, sich nun nicht mehr um Politik kümmern zu müssen, die Ursache dafür, dass alles, was einmal diese Bewegung des Nie wieder! so gewaltig gemacht hatte, plötzlich klein und häßlich erschien. Nichts musste mehr erkämpft werden. Ja, es brach eine Zeit an, in der das Risiko, sich politisch zu engagieren, ganz aus dem Leben schwand. Genau: das Risiko, sich zu engagieren, schafft nämlich die Kraft der Durchsetzung. Diejenigen, die in diesen unriskanten Zeiten kometenhafte politische Karrieren machten, sind jetzt die, die alles machen, was ihnen gesagt wird.

Es war ein längerer Zeitraum, aber für eine Nation nur ein Moment von der Dauer eines Augenaufschlags, in der die Chance auf eine politisch hoffnungsvolle Zukunft verspielt wurde. Die Gesellschaft war sich selbst genug, sie stritt über Ernährungsgewohnheiten, und das selbst noch zu Zeiten, als bereits deutsche Bomberpiloten auf Belgrad zusteuerten, sie stritt über Windmühlen, als deutsche Panzer vor dem Hindukusch aufrollten. Die Liste dessen, was nur noch beschämen kann, sie ist lang. In der letzten Woche, als allerorten Veranstaltungen zur Solidarität mit den Terror-Opfern in Paris abgehalten wurden, standen die Protagonisten von einst mit Kerzen in der Hand im Dunkeln und sangen unter anderem die deutsche Nationalhymne, direkt nach der Marseillaise. Ein besseres Bild für den Niedergang gibt es nicht. Frei nach Jakob van Hoddis könnte es heißen: Bald sind Tornados in der Luft, und Eisenbahnen fallen von den Brücken“. Nie Wieder? Macht euch nicht lächerlich!