Archiv für den Monat April 2017

Universalismen, Systeme und Subjekte

Hierzulande, im Herzen Europas, ist man dazu geneigt, die existierende Welt nach Theorien und Lehren zu interpretieren und zu gestalten. Vor allem im politischen Denken wie in der Führung von Wirtschaftsunternehmen geht es zumeist nicht ohne ein Bekenntnis zu einem Theorem, einer Doktrin oder einem ganzen System. Der Glaube, der diesem Denken zugrunde liegt, begründet sich durch die Überzeugung, dass nur eine formulierte Orientierung es ermögliche, komplexere Systeme zu steuern.

Politik- wie Managementtheorien leben davon, Programme sowie Kodifizierungen zu produzieren, die garantieren sollen, dass eine bestimmte Konsistenz herrscht und in dem System das entsteht, wofür man es geschaffen hat. Der systemische Mangel dieser Auffassung liegt allerdings in der nahezu konsequenten Ausblendung des Subjektes, d.h. der in dem System entscheidenden und handelnden Menschen. Vor allem die modernen Theorien von Politik und Theorie neigen dazu, dieses radikal zu betreiben und nennen das Ganze die Versachlichung.

Die Historie wiederum bietet unzählige Beispiele für die Notwendigkeit, die Befindlichkeit, die Interessen, das Können und Wollen der handelnden Subjekte stärker in den Fokus zu nehmen. Denn auch Demokratie bedeutet Herrschaft, und nicht immer wurden die Beherrschten in dieser Staatsform mit Glacéhandschuhen angefasst. Und auch die Herrschenden in diesem System haben allzu oft dokumentiert, dass ihnen keine Form der Korruption, der Kollusion oder des Nepotismus fremd ist. Andererseits sind die Bücher voll von Monarchen, denen das Wohlergehen ihrer Völker wichtig war und deren Vorstellung von Toleranz bis heute beispielhaft ist.

In der Betriebsführung ist es nicht anders. Das, was heute an Managementtheorien auf dem Markt ist, hat immer reale Protagonisten und nachprüfbare Vorgehensweisen, die in der Regel selten konsistent sind und deren Abweichung von der reinen Lehre allzu groß ist. Die kolportierte Antwort bei der Beobachtung derartiger Diskrepanzen zwischen Anspruch und Wirklichkeit ist in der Regel die Formulierung, es menschele halt überall. Und genau das ist es, was den nahezu religiösen Glauben an Politik- und Managementtheorien nachhaltig zugunsten einer weiter führenden Betrachtung schädigen sollte.

Das Scheitern der besten Theorien liegt zumeist in dem begründet, was die menschliche Unzulänglichkeit genannt wird. Letztere ist das, wovon wir ausgehen müssen, wenn wir uns Gedanken über andere Formen der sozialen Organisation machen. Die handelnden Subjekte sind diejenigen, die mit ihrem konkreten Verhalten bestimmen, wohin sich ein System entwickelt. Und wenn wir uns ansehen, worin momentan, im Jahre 2017, die so genannten Unzulänglichkeiten bestehen, sind wir sehr schnell bei dem Kanon dessen, was man in jeder Bäckerei oder an jedem Marktstand als Kritik an dem bestehenden politischen System hören kann: Die handwerkliche Unsicherheit, die Angst vor Konflikten, die Verpackung unbequemer Botschaften, die Entscheidungsschwäche, der Opportunismus, die Versessenheit auf Status, die Armut an Strategien und der mangelnde Respekt gegenüber anderen.

Letzteres jedoch ist eine Erscheinung, die nicht als Konsequenz einer Staatsform wie der Demokratie oder einer Managementkonzeption missverstanden werden darf, sondern ein Form der menschlichen Unzulänglichkeit, die es immer schon gegeben hat, die quasi universal ist, wie die Literatur zur Genüge dokumentiert. Und nur, wenn es Subjekte gab, die als fähig und kompetent galten, konnte man davon ausgehen, dass Systeme auch funktionierten. Die Aufklärung gab sich dezidiert das Programm, den Menschen, das Individuum, zu einem verantwortungsvollen Subjekt zu bilden. Die Aktualität dieser Programmatik könnte höher nicht sein!

Systemische Eigendynamik und das leere Versprechen der Weltendeutung

Das Phänomen der Eigendynamik dokumentiert in der Regel einen sehr bestimmbaren Zustand eines Systems. Unter Eigendynamik sind Aktionen, Maßnahmen und Prozesse zu verstehen, die ihrerseits abgekoppelt sind von der Zweckbestimmung der Organisation. In der Systemtheorie hat Eigendynamik etwas zu tun mit den Symptomen, die für den Selbsterhaltungstrieb des Systems selbst stehen und auch auf die Gefahr der Verfehlung des Zwecks sich immer wieder durchsetzen. Und immer dann, wenn die Anteile der Eigendynamik besonders hoch sind, muss dem System selbst attestiert werden, dass die Transparenz und Durchsetzung des Programms, des Nutzens, des Zwecks sehr schwach ausgebildet bzw. gewährleistet sind.

Bei jedem Veränderungsprozess kann das Phänomen der Eigendynamik beobachtet werden. Und jedem System kann attestiert werden, in welchem Zustand es sich befindet. Ist der Anteil der Eigendynamik hoch, so befindet sich das System im Zustand programmatischer Schwäche. Ist der Anteil der Eigendynamik exorbitant hoch, ist es wahrscheinlich, dass die Programmatik insgesamt verloren gegangen ist. Ein System, das nur noch aus  eigendynamischen Konstrukten oder Prozessen besteht, verliert zunehmend die Legitimation durch den Zweck: Bei allen Betrachtern von außen und nach und nach auch bei den Beteiligten selbst. Und schon drängt sich das Paradoxon auf, dass Eigendynamik der reine Ausdruck einer eigenen, intrinsischen Systemrationalität ist, zum anderen ein zu hoher Anteil von Eigendynamik die Existenz des Systems wiederum aufs Spiel setzt.

Was in jeder Organisation zu beobachten ist, trifft auch auf das übergeordnete System der Gesellschaft zu. Auch in Gesellschaften und deren Organisation, dem Staat, sind Tendenzen von Eigendynamik zu verzeichnen und auch dort ist es zuweilen schwierig, den Zweck des jeweiligen Systems zu identifizieren. Bei der Gesellschaft im Allgemeinen ist aktuell ein Zustand zu bezeugen, der gekennzeichnet ist auf den Verzicht, die Zweckbestimmung überhaupt erkennen zu wollen. Ein Diskurs darüber, wohin die Gesellschaft will oder soll ist von vielen Teilen derselben nicht gewollt oder gekonnt. Stattdessen werden die Medien der Verständigung über die Intention oder den Zweck, die Kommunikation, die Verhandlung, die Interaktion zum Selbstzweck erhoben. Die Verabsolutierung der Medien bei Ausblendung der Strategie kann als das systemische Symptom unserer Tage an sich bezeichnet werden.

In diesem Kontext ist es sehr interessant, sich das immer wieder vorgebrachte Argument der Komplexität genauer anzusehen. Selbstverständlich sind Systeme, die über unzählige Subsysteme und Interdependenzen verfügen, sehr komplex. Sie sind sogar so komplex, dass jeder Versuch, darüber eine endgültige Transparenz herzustellen, als Anmaßung angesehen werden muss. Das Wesen von ständig vermittelter Komplexität besteht allerdings vor allem darin, den einzelnen Interakteuren ihre Machtlosigkeit zu vermitteln. Das ist in hohem Maße repressiv und der einzige, schnell zu identifizierende Zweck dieses Arguments. Zumeist wird es noch begleitet von dem Hinweis, das Handeln denen zu überlassen, die diese Komplexität begreifen. Was, niemanden wird es wundern, die Vertreter der systemischen Eigendynamik sind.

Die einzige Garantie für die Möglichkeit der Orientierung in komplexen Systemen ist die Frage nach der Zweckbestimmung und der Freilegung der Interessen der verschiedenen Teilsysteme. Das ist so schwer nicht, aber es ist natürlich unangenehm für jene, die sich mit sehr viel Metakommunikation ständig über die Komplexität der Welt auslassen. Ihr Interesse deckt sich nicht mit dem Bedürfnis der Mehrheit, und selbst das System ist ihnen egal, wenn es sie nicht mehr bedient.