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Ein Verein zum Zweck globaler Intervention

Sevim Dagdelen. Die NATO. Eine Abrechnung mit dem Wertebündnis

Jubiläen von Organisationen werden in der Regel gefeiert. Wenn sie im Laufe ihrer Entwicklung vieles von dem, was in ihrer Zweckbestimmung niedergeschrieben steht, erreicht haben, sind sie ein willkommener Anlass, um Bilanz zu ziehen und einen Ausblick zu wagen. Es handelt sich dabei um eine Tradition, die durchaus sinnbehaftet ist. Das 75jährige Jubiläum der NATO fällt nicht unter diese Kategorie. Auch wenn die Vertreter dieser Organisation gefeiert haben. Die Entwicklung der NATO von einem, wie der Name bereits sagt, nordatlantischen Bündnis zur Verteidigung hat sich kontinuierlich zu einem Militärzusammenschluss entwickelt, der aggressiven Charakter hat, dessen Mitglieder immer wieder das Völkerrecht gebrochen und Kriege geführt haben, der wie selbstverständlich bis in den so genannten Indopazifik vorgedrungen ist, und nichts, aber auch gar nichts mit Verteidigung einzelner Mitglieder zu tun hat. Es handelt sich um einen Verein zum Zweck globaler Intervention.

Die Bundestagsabgeordnete Sevim Dagdelen, einst Mitglied der Linken und nun im Bündnis Sahra Wagenknecht beheimatet, hat zum Jubiläum der NATO ein kleines Buch geschrieben. Unter dem Titel „Die NATO. Eine Abrechnung mit dem Wertebündnis“ bilanziert sie faktenbezogen wie prägnant die Entwicklung des Bündnisses zu einer strategischen Waffe der USA. Die Liste ist lang und sie führt über den völkerrechtswidrigen Krieg in Jugoslawien, das Desaster in Afghanistan, unheilige Allianzen mit Folterregimen, auf Lügen basierende Kriegsbegründungen wie im Falle des Irak und die Zerstörung von Staaten und die Schaffung von anarchischen Zonen wie in Libyen. Mehr ist dazu eigentlich nicht zu sagen. Wer nicht gleich eine Aversion bekommt, weil das Buch von einer renommierten Linken geschrieben wurde und damit gleich eine innere Blockade hat, sollte es sich zu Gemüte führen, weil die faktische Schilderung alle Narrative des Wertewestens in Form dieser Organisation zerstäubt. Ganz ohne Polemik, einfach aus der Traute einer unabhängigen Sicht und mit dem klaren Bekenntnis zu eigenen deutschen und europäischen Interessen. 

Mit dem Verweis auf diesen Charakter des lesenswerten Buches könnte ich es belassen, wenn Dagdelen nicht zum Schluss noch einen dann doch politischen Fünf-Punkte-Katalog dem Treiben des Aggressionspaktes entgegensetzen würde. Die fünf Punkte, um die es sich handelt, sind:

  • Zurück zur Diplomatie
  • Zurück zum Völkerrecht
  • Mut zur Neutralität
  • Zurück zur Abrüstung
  • Beendigung des Wirtschaftskrieges.

Allein die Notwendigkeit, diese politisch sinnvollen Ziele zu unterstreichen, quasi als Gegenprogramm zu dem, was im Namen der NATO veranstaltet wird, dechiffriert den tatsächlichen Charakter der Organisation. Überzeugender und prägnanter geht es kaum. Und, weil der 300. Geburtstag des Philosophen aus Königsberg so gefeiert wird in diesen Tagen: Sapere aude! Habe Mut, weise zu sein! Denn darum geht es. 

Vergiss nie, woher du kommst

Die mediale Monopolisierung hat auch im Kulturbereich gewütet. Vieles, was vor Jahren nur Insidern bekannt war, gilt heute als öffentliches Gemeingut. Zum Beispiel, dass viele aus Film und Fernsehen bekannte Schauspieler eigentlich von der Bühne kommen. Dort haben sie ihr Handwerk gelernt, dort haben sie ihre Talente entwickelt und dort erleben sie ihre großen Momente. Wenn man die Rolle aus einem Shakespeare oder Brecht zu spielen hat unterscheidet sich das doch gravierend von der eines Tatortkommissars. Und deshalb tauchen gerade in dem letztgenannten Format viele auf, die weitaus mehr zu bieten haben, als das Millionenpublikum gewahr wird. Einer davon ist sicherlich der aus Herdecke stammende Jörg Hartmann. 

Das Interessante an ihm ist, dass er auf der Bühne gelernt hat, als Tatortkommissar (und natürlich einer Serie wie Weißensee) einem großen Publikum bekannt ist und zudem seine Selbstvermarktung mit einer Art Autobiographie selbst in die Hand genommen hat. Mit dem Titel „Der Lärm des Lebens“ hat er ein Buch veröffentlicht, das gleichzeitig als ein von ihm gesprochenes Hörbuch erhältlich ist. Selbstverständlich gehört dazu noch der eine oder andere Auftritt in den zahlreichen Talkshows, die sich zunehmend als Influencer-Partys etablieren. 

Nichts für ungut. Jörg Hartman ist ein ernst zu nehmender deutscher Schauspieler, der ein Buch abgeliefert hat, das alles andere als trivial ist. Er beschreibt darin seine Herkunft und Familiengeschichte, in der sich der Wandel der Bundesrepublik in den letzten Dekaden spiegelt, er erzählt von seinen Anfängen auf diversen kleinen Bühnen, bis er es zur Berliner Schaubühne geschafft hat. Beeindruckend ist, dass er, wie viele andere, die aus dem Ruhrgebiet stammen, die Ruhrpott-DNA nicht in der Lage ist abzustreifen. Immer denkt er an die Kleinen, die Wehlosen und Schutzbedürftigen, und immer fühlt er sich diesen verpflichtet. Und er bringt der Leserschaft nahe, wie oft sich bei einer erfolgreichen Karriere die Frage stellt, inwieweit die professionelle Verpflichtung mit dem eigenen, geerdeten Menschenbild und den damit verbundenen Passionen korrespondiert, oder eben auch nicht.

So vermittelt die Lektüre einen alles andere als geschlossenen, mit sich selbst im Reinen befindlichen Charakter, sondern einen Zerrissenen, dessen Produktivität gerade in diesem Dauerzustand begründet liegt. Irgendwie wurde ich bei der Lektüre den Gedanken nicht los, dass der Kommissar Faber, der aufgrund seines Auftretens das Publikum tief spaltet, nicht ein reales Abbild des Rebells aus dem Ruhrgebiet zeigt, der die Versöhnung sucht, aber das Rebellieren nicht sein lassen kann. Das ist ein wichtiges Stück Geschichte dieser Republik, das viele mit erzählen können, aber kaum irgendwo geschrieben steht.

Was die Einblicke in die Sozialisation auf den Bühnen dieser Republik betrifft, so werde ich das Buch gleich einer Schauspielerin aus dem Nebenhaus zukommen lassen und sie um ihre Meinung fragen. Was den Autor und das Buch anbetrifft: ich fand es unterhaltsam und bei bestimmten biographischen Passagen markant. Was bläuen sie dir im Ruhrgebiet von Kindesbeinen ein? Wohin du auch gehst, vergiss nie, woher du kommst! Jörg Hartmann hat das verinnerlicht.