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Generationenkonflikt: Wer ist wann betroffen?

Momentan wird in meiner Stadt eine Diskussion um die Notwendigkeit eines neuen Fußballstadions geführt. Wie immer in solchen Fällen gibt es gute Gründe dafür wie dagegen. Doch darum geht es mir nicht. Mir fiel bei dem Thema eine Episode aus meiner Kindheit ein. Auch damals ging es um eine neues Stadion. Meine Großmutter fragte uns, wie groß das denn werden solle, und als wir ihr das Fassungsvermögen nannten, schaute sie uns ungläubig an, rechnete im Kopf und sagte dann, dass sei ja die dreimalige Einwohnerzahl ihres Heimatortes. Sie vermutete eine Schelmerei unsererseits. Als wir ihr jedoch beteuerten, sie habe richtig verstanden und sie fragten, was sie denn davon halte, gab sie uns eine Antwort, die aktuelles Gewicht hat. Sie sagte, sie werde sich dazu nicht äußern, denn ihre Lebenszeit fiele nicht mehr in die Nutzung dieses Projektes. Um es noch zu erwähnen: sie war eine gutmütige wie gütige Frau, deren Leben durch harte Arbeit geprägt war. Und, wie die Antwort zeigt, war sie auch weise.

Die Haltung, sich nur noch in die Auseinandersetzungen einzumischen, die eine Wirkung auf das eigene Mitwirken und Erleben haben, erfährt durch die demographische Entwicklung in unserem Land eine besondere Dimension. Die meisten politischen Diskussionen, die geführt werden, beziehen sich nämlich auf Weichenstellungen. Sieht man sich die Bilder derer an, die bei Zukunftsprojekten zugegen sind und vehement Partei ergreifen, lässt sich feststellen, dass zumeist diejenigen, in deren Leben dieses Projekt eine Rolle spielen wird, sich in der Minderheit befinden. Und diejenigen, deren Zeitbudget der aktiven gesellschaftlichen Teilnahme überschaubar und in naher Zukunft endlich ist, machen die Majorität aus. 

Einmal abgesehen von den Unkalkulierbarkeiten in großen Umbruchphasen, und in einer solchen befinden wir uns, wäre es mehr als angebracht, genau zu unterscheiden, bei welchen Themen die eigene Existenz noch eine Rolle spielen wird und bei welchen nicht. Es gibt Themen, die immer brandaktuell sind, egal zu welcher Alterskohorte man gehört, wie zum Beispiel Krieg und Frieden, Freiheit, Würde und Gerechtigkeit. Aber es existieren ebenso Themen, von denen man genau wissen müsste, dass sie einen nicht mehr betreffen.

Wir leben in einer Zeit, die auf drei bis vier Jahrzehnte des hemmungslosen Wirtschaftsliberalismus zurückblickt, in der das wachstumsbesoffene „Forever Young“ kultiviert wurde und gleich mehrere Generationen von Ego-Shootern sozialisiert wurden. Daher ist es auch nicht verwunderlich, dass die einfache, wie kluge Frage einer alten Frau aus der Provinz heute von den meisten Menschen gar nicht mehr in Erwägung gezogen wird. Wird mich das, worüber gerade gestritten wird, selbst noch betreffen? Oder wäre es nicht ratsam, den Diskurs denen zu überlassen, die mit Sicherheit davon betroffen sein werden?

Deklinieren Sie dieses Szenario einmal durch! Wie viele der Themen, die momentan eine Rolle spielen, wären davon betroffen! Und mit Sicherheit nähmen manche Diskussionen einen ganz anderen Verlauf! Und kommen Sie nicht mit dem Argument, es ginge auch um die Verantwortung für die Zukunft. Zumeist handelt es sich um Selbstüberschätzung, Eigenliebe und Egoismus. 

Will diese Gesellschaft nicht in eine unversöhnliche Spaltung zwischen den Generationen hinabgleiten, dann wäre es ratsam, sich die Frage nach der jeweiligen eigenen zeitlichen Betroffenheit für die politischen Projekte, um die es geht, ausdrücklich zu stellen. Selbstverständlich freiwillig. Aber es entstünde eine neue Dynamik, die befreiend wäre. Und, als kleiner Hinweis an die Alten: Krieg und Frieden, Freiheit, Würde und Gerechtigkeit, diese Themen bleiben, und sie sind Aufgabe genug!

Wertegemeinschaft

Zwei Bilder sind es, die den Zustand des Landes sehr gut beschreiben. Und zwei Reaktionen bzw. Nicht-Reaktionen sind es, die den Zustand unseres Landes demonstrieren. Da war ein über Wochen dauernder Marsch von Türkinnen und Türken, der durch das ganze Land ging und in Istanbul endete. Er fand statt unter dem Motto „Gerechtigkeit“, ging aber schnell in den Kommunikationsgebrauch ein als Marsch der Zehntausend. Zum Schluss waren es mindestens Hunderttausend. Sie hielten überall, wo sie vorbeikamen, Kundgebungen ab und wiesen auf das diktatorische Regime hin, das Präsident Erdogan seit dem Putsch mit Tempo etabliert hat. Die Schlusskundgebung fand in Istanbul anlässlich des Jahrestages des vermeintlichen Putsches statt und sie war ein Zeichen für Courage, für Kampfeswille und für die Weigerung, sich einem Diktator zu fügen. Immerhin, das Ereignis wurde in den Kurznachrichten erwähnt. Zu mehr reichte es nicht, aus dem Lager der Wertegemeinschaft.

Einen Tag später hielt dann der Präsident eine Kundgebung ab, mit mindestens ebenso vielen Menschen, die den Putsch als Geschenk feierten, um im Lande aufzuräumen. Die Zahlen sind immens, aber es ist immer schwieriger, sie zu verifizieren. Hunderttausende verloren nach dem Putsch ihre Arbeit im öffentlichen Dienst, darunter viele Richter, Staatsanwälte, Polizisten und Lehrer. Viele von ihnen wurden gleich ohne Prozess ins Gefängnis geworfen, so wie es unzähligen Journalisten erging. Planmäßig wurden erst die Justiz, dann das Pressewesen, danach das Rechtssystem und die Ordnungsorgane und nun das Bildungssystem von kritischen Geistern gesäubert. Erdogan ergriff in seiner Rede die Initiative und rief denen, die nicht mit ihm sind, das Schicksal des Todes zu. Die Menge skandierte daraufhin die schon lange aufbereitete Parole mit der Aufforderung zur Einführung der Todesstrafe. Erdogan, der brillante Demagoge, antwortet in solchen Fällen mit einem demütigen Blick und der Formel, wenn das Volk ihn so vehement darum bäte, dann könne er sich nicht verweigern. Die Reaktion der Wertegemeinschaft blieb aus.

Als Wertegemeinschaft wurde und wird die NATO gerne dargestellt und den Menschen als eine begehrenswerte Alternative gegen die anderen, nach Herrschaft strebenden Despotien gepriesen. Es führt zu nichts, in diesem Kontext die Motive zu differenzieren, es geht den USA um die Wahrung der Weltherrschaft und Deutschland um ein möglichst aufwand-armes Segeln in diesem Windschatten, was zunehmend irrsinniger wird im Hinblick auf die unterschiedlichen Interessen. Das zeigt sich am Fall der Türkei, die im US-Kalkül im Zugriff auf den Nahen Osten eine wichtige Rolle spielen wird, egal ob dort ein zeitgenössischer Faschismus wütet oder nicht. Es geht Russland um die Sicherung seiner Einflusssphären, unabhängig davon, ob ein Assad den Knebel führt oder nicht, es geht Saudi-Arabien um die Vorherrschaft im Golf, selbst im Bündnis mit dem Teufel und es wird China darum gehen, knallhart und ohne jede Gefühlsregung die eigenen Einflusssphären zu erweitern.

Nichts gegen Wertegemeinschaften. Und schön wäre es, man könnte davon sprechen, aber in diesem Kontext, im Kontext von Ressourcen und strategischer Geographie, im Kontext einer NATO, so wie sie ist, von einer Wertegemeinschaft zu sprechen, das ist ein demagogisches Manöver, das als solches zu enttarnen ist. Werte, das ist gelebte Haltung. Ist in der deutschen Außenpolitik, vor allem der gegenüber der Türkei, den Waffenlieferungen an Saudi Arabien etc. davon nur eine Spur zu erkennen? Wenn ja, bitte sofort melden!

Michael Kohlhaas

Heinrich von Kleist war einer jener Rebellen in der deutschen Literatur, für die es selbst nicht gut ausging. Als preußischer Offizier und Freund der Wahrheit, gebeutelt von einer tiefen Depression, setzte er seinem in literarischer Hinsicht viel versprechenden Leben viel zu früh ein gewaltsames Ende. Was von ihm übrig blieb, sind seine an Zahl überschaubaren, an Aussagekraft und Form überwältigenden Werke. Das gewaltigste unter ihnen ist aus meiner bescheidenen Sicht Michael Kohlhaas. Mit dieser Figur schuf er einen Typen, der das Grundverständnis von Staat, Recht und Vernunft im bürgerlichen Zeitalter in seiner dialektischen Ambivalenz illustriert.

Michael Kohlhaas ist die Figur geworden, in deren Leidens- und Triumphweg das System der bürgerlichen Rechtssprechung fokussiert und immer wieder gebrochen wird. Michael Kohlhaas ist das Stück, das jeden Tag in unserem republikanischen Leben aktuell ist. Daher ist eines gewiss: Die Figur hat nicht nur den Autor um mehr als zweihundert Jahre überlebt, sondern sie wird auch noch zur Klärung eines Grundsatzes dienen, wenn wir alle nicht mehr sind.

Kohlhaas, der auf dem Weg zum Pferdemarkt an einen vagabundierenden Adeligen zwei Rappen als Zollpfand zurücklassen muss, erhält diese in erbärmlichen Zustand zurück. Als er dagegen protestiert und Kompensation fordert, stößt er auf taube Ohren und auch das Rechtssystem weist ihn aufgrund des fürstlichen Einflusses ab. Als seine Frau versucht, zur einflussreichen Fürstin mit einer Petition vorzudringen, wird sie misshandelt und erliegt ihren Verletzungen. Da sieht Michael Kohlhaas Rot und beantwortet sein Schicksal mit der Offensive einer mordenden Freischärlerarmee. Nach zahlreichen Zerstörungen und indem er eine Gefahr für die Sicherheit und Ordnung des Landes wird, erhält er das Ohr der Fürstin, die ihm Gerechtigkeit verspricht. Nach noch einigen Wirrungen, zuletzt erhält er sein Recht, der Adelige muss die Rappen im alten Zustand zurückliefen, er muss für die Misshandlung von Kohlhaas´ Pferdeknecht zahlen und selbst für zwei Jahre ins Gefängnis. Dafür zahlt Kohlhaas, seine eigenen Vergehen gegen den Staat anerkennend, aus seiner Sicht selbstverständlich mit dem Leben. Er wird geköpft.

Das ausgehende Mittelalter hatte, lange bevor die bürgerliche Gesellschaft durch entsprechende Revolutionen das Licht der Welt erblickte, vor allem die Aufgabe, aus einer Philosophie, die die Rechtszustände zwischen Individuum und Allgemeinheit thematisierte, die Frage einer zukünftigen Gerechtigkeit zu klären. Mit Michael Kohlhaas schuf Kleist die Figur, die tragischerweise den Begriff der Räson über das Einzelschicksal des Individuums stellte. Damit war eine der zentralen Fragen des zukünftigen Rechtsverhältnisses geklärt. Michael Kohlhaas war nicht der von vielen verklärte Rebell, sondern er, der persönlich scheitern wird, ist die Figur in dem gesamten Ensemble, die der später aufgeklärten Staatsräson am nächsten kommt.

In der irischen Literatur findet sich mit John Lynch, dem Bürgermeister und obersten Richter der Stadt Galway übrigens eine ähnliche Figur. Lynch sieht sich gezwungen, das Recht auch gegen seinen Sohn walten zu lassen, der einen jungen Spanier aus Valencia getötet hatte. Um die Beziehungen zu Valencia nicht zu belasten, spricht Lynch das vorgeschriebene Recht, verurteilt seinen eigenen Sohn zum Tode, um das Urteil dann selbst zu vollstrecken, weil die Scharfrichter sich weigern.

Was sind das für Zustände, und diese Frage ist angesichts unserer Erfahrungen mit dem gelebten Rechtssystem durchaus legitim, in denen das Individuum selbst anerkennt, selbst im Angesicht existenziell wirkender Strafen, dass das Recht, aus dem Gerechtigkeit resultiert, über dem Individuum und seinen Wünschen steht?