Archiv für den Monat März 2016

Sprachliche Indizien für den Geist der Zeit

Unzählige philosophische Diskurse drehen sich um die Frage, in welchem Verhältnis Sprache und Denken stehen. Prädestiniert das Denken die Sprache? Ist die Sprache die Form des Denkens? Oder bestimmt das Wort das Denken und hat die Form einen gestaltenden Charakter auf letzteres? Bei all der doch intellektuell inspirierenden Betrachtung könnte das zeitgenössisch nicht unübliche Urteil nahe liegen, dass es sich um einen praxisfernen, vielleicht auch akademischen Diskurs handelte. Doch weit gefehlt! Die Behauptung sei verziehen, aber die Lösung der oben gestellten Fragen hat etwas mit der Fähigkeit zu tun, politische Zusammenhänge zu erkennen und sich ein Urteil über den Zustand der Zeit zu bilden.

Auch wenn es bei der philosophischen Frage erst einmal gar nicht bleiben muss, dieser Ontologie von Wort und Geist, eines ist in unserer Zeit eine Binsenweisheit, wofür im letzten Jahrhundert beträchtlich gekämpft werden musste: Die Nutzung von Sprache ist auch immer ein Indiz für die Psychologie! Die Psychologie der oder des Sprechenden und die Psychologie der allgemeinen Befindlichkeit.

Besonders die Politik ist für diese These ein besonders willkommenes und erkenntnisreiches Feld. Da Politik in der Öffentlichkeit kommuniziert werden muss, ist sie gut beraten, die Form von Sprache zu wählen, von der sie glaubt, dass sie geeignet ist, die Zielgruppen zu erreichen. Dazu ist es erforderlich, dass die Empfänger sie a) verstehen und b) emotional akzeptieren. Letzteres ist für Politik besonders wichtig, denn eine emotionale Zurückweisung vielleicht auch als richtig erkannter Botschaften ist dennoch ein Verlust. Also bemüht sich die Politik, die Mehrheiten für sich generieren will, der sprachlichen Bilder, von denen sie glaubt, dass sie emotional akzeptiert werden.

Hinzu kommt noch ein anderer Aspekt, der ebenfalls einem Axiom psychoanalytischer Erkenntnis entspringt: Der Wunsch nach einem nicht existierenden Zustand determiniert sprachliches Verhalten dahin gehend, dass genau das, was schmerzlich vermisst wird, durch sprachliche Überbetonung in besonderer Form entlarvt wird. Berühmt und immer wieder skurril aus dem Metier der inneren Politik: Wenn ein Politiker oder eine Politikerin ins Schlingern gerät, kommt die Beteuerung des Vorgesetzten, die in die Kritik geratene Person genieße „vollstes“ Vertrauen. Wenn es soweit ist, kann bekanntlich die Kondolenzliste ausgelegt werden.

So ist es folgerichtig, um einen Einblick in die größten gefühlten Defizite unsres gegenwärtigen Status gewinnen zu können, die Worte und Formulierungen zu dechiffrieren, die nahezu in allen politischen Kontexten vorkommen. Dabei fallen drei Termini auf, die als Adjektive wie Substantive Hochkonjunktur haben: nachhaltig, intensiv und strategisch, Nachhaltigkeit, Intensität und Strategie. Um es noch einmal zu verdeutlichen: Es handelt sich um inflationären Sprachgebrauch in Zeiten gefühlter Defizite.

„Wir haben es uns nicht leicht gemacht, sondern wir haben sehr intensiv die verschiedenen Aspekte betrachtet. Besonders die strategisch wichtigen Fragen haben dabei eine große Rolle gespielt. Am Ende sind wir uns sicher, eine gute und vor allem nachhaltige Lösung gefunden zu haben.“

So in, 4444 Variationen, wird täglich übermittelt, wonach sich Volkes Seele sehnt und was am meisten vermisst wird. Die von der Konvention des Truges gereinigte Zustandsbeschreibung müsste folgendermaßen lauten: Es wird viel geredet im Land, aber meistens um den heißen Brei herum, eine Vision oder Vorstellung von der Zukunft hat niemand und alles, was an politischer Programmatik produziert wird, verfügt über eine Halbwertzeit wie Butter in der Sonne. Sage niemand, es wäre nicht klar, worum es ginge!

 

 

Türkische Zensur in Deutschland?

Wer sich über etwas wundert, hat mit der Entwicklung, so wie sie eingetreten ist, nicht gerechnet. Wer sich über etwas wundert, was so zu erwarten war, hat die zu prognostizierende Wahrscheinlichkeit nicht mit einkalkuliert oder auf etwas anderes gehofft, das allerdings nicht wahrscheinlich war. Wer sich über eine nicht eingetretene Hoffnung wundert, obwohl sie nicht wahrscheinlich war, ist ein Tor. Wer ein Tor ist, sollte sich nicht in das Dickicht politischer Komplexität begeben. Wer es dennoch tut, richtet Schaden an.

Das Zitat des deutschen Botschafters in Ankara wegen einer im NDR ausgestrahlten Satire auf den türkischen Ministerpräsidenten Erdogan ist folgerichtig. Es ist die logische Konsequenz aus einer Entwicklung, die sich seit langem abzeichnet. Die zunehmend auf dem Weg zur Despotie befindliche Türkei vertraut bei ihrer restriktiven Politik auf bestimmte Impulse, die ihren Weg flankieren. Die immer deutlicher werdende und in krassen Ausmaßen stattfindende Gleichschaltung von Justiz und Presse gewinnt durch die jüngsten Avancen in der Frage der Flüchtlingspolitik nun auch eine verstärkt internationale Dimension. Der Ministerpräsident, der bereits vor langer Zeit sein Selbstverständnis zur Demokratie mit dem nicht dementierten Zitat enthüllte, die Demokratie sei für ihn wie eine Buslinie, die er benutze, um an sein Ziel zu kommen und einmal dort, brauche er sie nicht mehr, dieser Ministerpräsident macht nun ernst. Seine Ernsthaftigkeit bezieht sich auf die Selbstverständlichkeit der Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines anderen Staates.

Bei diesem anderen Staat handelt es sich um die Bundesrepublik Deutschland. Letztere ist in der misslichen Situation, Immigrationsbewegungen nach Deutschland und Zentraleuropa unbedingt stoppen zu wollen. Sie hat sich dabei auf die Strategie versteift, die Türkei, die im Syrienkonflikt aufgrund eigener Großmachtpläne und der Absicht, die Kurden im eigenen Land zu befrieden eine sehr dubiose Rolle spielt, in eine Allianz zu holen und ihr die Möglichkeit einer EU-Partnerschaft anzubieten. Da ihr letzteres in weitaus besseren Zeiten der eignen Rechtsstaatlichkeit wiederholt verwehrt worden war, dokumentierte diese Politik in aller Deutlichkeit, aus welcher Not die aktuelle Avance geboren war. Nun reagiert ein Machtpolitiker mit dem Gestus des Machtanspruchs. Das kann nicht verwundern.

Und es ist wie bei der Betrachtung einer alt bekannten Blaupause. Es geht um Ungeduld und Geschwindigkeit in der Politik. Realpolitik und eine sich daraus ableitende Diplomatie geht von den Verhältnissen aus, so wie sie sind. Um aus dem Geflecht, mit allen Widersprüchen und Hemmnissen, etwas Konstruktives zu weben, erfordert es Geduld und langen Atem. Da diese, aus verschiedenen Gründen, wovon einer die treibende Kraft der Demoskopie und ein anderer der Mangel an kommunizierten Vision ist, die nicht vorhanden zu sein scheint, werden schnelle Lösungen präferiert, die, betrachtet man es historisch, allesamt mit einer Eskalation der negativen Tendenzen endeten.

Die Beispiele sind Legion: Die Unterstützung Suhartos in Indonesien, die des Schahs im Iran, die Saddam Husseins im Irak, die der Taliban in Afghanistan, die des IS in Syrien, die Pinochets in Chile, die der Contras in Nicaragua – immer wieder wurde die Unlust, mit denen, die irgendwo in der Welt die Macht innehaben zu verhandeln ersetzt durch die schnelle Lösung, die zumeist in nicht von der Bevölkerung getragenen Alternativen bestand, die letztendlich die Lebensbedingungen in den betroffenen Ländern erheblich verschlechtert haben. Nun, wieder einmal, findet so etwas statt. Da mag die Spaltung Europas eine Rolle spielen, die die Zeit verknappt, aber das Bündnis mit der Türkei Erdogans wird diese Spaltung eher noch vergrößern.

Normierung statt Potenzialerkennung

Um das zu begreifen, was vor sich geht, wenn komplexe Faktoren in einem gemeinsamen System aktiv werden und auf ein bestimmtes Ergebnis hinwirken, wurden immer wieder große Anstrengungen unternommen. Letztendlich geht es darum, wie die soziale Ordnung derer ist, die in einem Ensemble ein Ziel verfolgen. Die Modelle, die zur Erklärung eines solchen Unterfangens bemüht werden, reichen von inspirierend bis notdürftig. Die Systemtheorie zum Beispiel gehört sicherlich zu den inspirierenderen, weil sie für sich eine Universalität, unabhängig von konkreten Kontexten, beanspruchen kann. Wohingegen das Mantra vieler, die sich mit Organisationstheorie beschäftigen, wie ein nicht mehr erhellendes Instrument der Sechziger Jahre erscheint. Dennoch ist es allenthalben en vogue, und kaum jemand traut sich zur Zeit, die Grundgedanken des Modells in Frage zu stellen.

Die vor allem im Arbeitsleben zelebrierte Organisationstheorie geht von drei Bestandteilen aus, die jeweils zu untersuchen sind: Produkte und Leistungen, Prozesse und Rollen. Es geht also um die sehr ordinäre Frage, was an Personal und welche Arbeitsabfolgen gebraucht werden, um eine bestimmte Leistung zu erbringen. Diese Perspektive ist die des Taylorismus und sie hatte hierzulande sicherlich ihren Höhepunkt während der Rationalisierung der Industrieprozesse in den Siebziger Jahren des letzten Jahrtausends. Seitdem hat sich sehr viel geändert, vor allem bei der Betrachtung von Prozessen und Menschen, nur die offizielle Sichtweise, die darüber entscheidet, von wem, wie und zu welchen Bedingungen gearbeitet wird, diese Sichtweise ist die alte geblieben und zu einer der größt vorstellbaren Produktivitätsbremsen geworden, die vorstellbar sind.

Das Mantra von Leistung, Prozess und Rolle geht, nimmt man es genau, bis hin in eine politisch untragbare Normierung. Das Vorgehen ist immer das gleiche: Es wird eine Handlung beschrieben wie sie idealtypisch vollzogen werden soll, daraus wird das Anforderungsprofil derer abgeleitet, die diese Handlung vollziehen sollen. Bei der Entscheidung darüber, wer dies ist, wird die tatsächliche Befähigung mit den Anforderungen abgeglichen und die Person, die dem am nächsten kommt, wird ausgewählt. Da eine Kongruenz zwischen Befähigung und Anforderung fast nie eintritt, befinden sich die Menschen, denen die Handlung zugetraut wird, immer im defizitären Bereich zur Anforderung. Diese Defizite zwischen Normierung und tatsächlichem Potenzial stellen den gesamten Handlungsraum dessen dar, was als Personalentwicklung gilt.

Allein der Aspekt der so genannten Rolle bietet also großes Potenzial, um sich über das zu unterhalten, was da schief läuft. Ein einfacher Hinweis sei gestattet und möge reichen, um auf die technokratische Anomaliät hinzuweisen, die diesem Denken zugrunde liegt: Alle großen Organisationen führen detailliert Buch über die oben beschriebenen Defizite zwischen Anforderung und Befähigung. Über die mit keinem normativen Bild abgeglichenen Fähigkeiten oder Potenziale wissen sie jedoch nichts. Und es gehört nicht viel Phantasie dazu, sich vorzustellen, welcher Vorstellungswelt die Beschreibung der zugedachten Rollen entspricht. Es sind Organisatoren mit technokratischem Horizont, die das Idealtypische an humaner Wirkungskraft formulieren sollen.

Unabhängig von den völlig anderen, eher der Chaostheorie affinen Prozesse zeitgenössischer Arbeitsorganisation, auf die an anderer Stelle eingegangen werden muss, findet in deutschen Organisationen immer noch eine maskulin-zentraleuroäische Normierung statt, die weit von den Potenzialen abweicht, die sich mittlerweile hier im ungenutzten Raum bewegen. Besonders deutlich wird das werden bei der Integration der Immigrantinnen und Immigranten. Dann wird wieder die Rede davon sein, was sie alles tun müssen, um an das herrschende Mantra des Messen-Zählen-Wiegen heranzukommen. Was sie können und beherrschen jenseits dieses Mantras und was dadurch bereichern könnte, steht nach der gängigen Theorie nicht zur Debatte.