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Neckarstadt

(Es handelt sich um einen älteren Text meinerseits. Ich habe ein KI-Programm gebeten, das Szenario zu visualisieren, siehe oben. Was meinen Sie?)

Vor einhundertzwanzig Jahren nichts als Gärten. Heute der bevölkerungsreichste Teil der Stadt. Unterteilt in Ost und West. Man muss diesen Stadtteil durchdringen, um ihn zu begreifen. Er ist ein Prinzip. Auf der Oberfläche hört man viele Namen: Die Neckarstadt hat den Blues, das ist ein sozialer Brennpunkt, die UNO im Kleinen, der Rotlichtbezirk, Auowauowau. In den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts strotzte hier in West noch das proletarische Selbstbewusstsein. Das Geld floss, ins Portemonnaie und von dort in die Kneipen und Bars und so manches Strumpfband. In Ost wohnten Bürger und Handwerker, die immer großen Wert auf das Ost legten.  Die Arbeiter aus West zogen weg, kauften sich kleine Häuschen im Grünen. Es kamen die, die man heute Migranten nennt. Aus Spanien, Italien, vom Balkan, aus der Türkei. West wurde bunt und unübersichtlich. Nach Ost drängten Akademiker, zumeist mit Gitarren unter dem Arm. 

West blieb wild. Schießereien. Samstagmorgens. Mit der Pump Gun aus dem Freistoss in die Mausefalle. Immer mehr türkische Cafés, ohne Alkohol. Immer weniger Amerikaner, die mit jagenden Taxen über das Kopfsteinpflaster zur Neunzehnten rollten. Und dann der Balkankrieg. Risse durch Familien, Häuser und Arztpraxen. Der serbische Arzt, einer der letzten großen Mystiker der Neckarstadt, eilte nachts in Häuser und entfernte jenseits der offiziellen Protokolle Kugeln aus ehemals jugoslawischen Körpern. Dennoch, die junge Staatsanwältin erzählt, bis in die achtziger Jahre war der Beischlafdiebstahl das meist gezählte Delikt. Die Gaststätten verschwanden, die Pizzerien kamen, um den Dönerstuben zu weichen. Nach Ost kamen Inder, saturiert, cool, Hello my Friend! Ansonsten dort, die Vorboten der Kreativität. Immer noch Jazz und Blues. Libertinage im akademischen Sinn.

In den neunziger Jahren wurde West seitens der Administration der Kampf angesagt. Kein rotes Licht mehr! Es war die Abkoppelung vom Rest der Stadt. Es gab keinen Grund mehr, iwwer die Brick zu gehen. Neckarbrücken Blues. Mr. Law & Order hatte das nicht begriffen. Senor, der ehemalige Legionär, erzählte, dass er bis zum achtzehnten Lebensjahr nicht die Brücke Richtung Stadt überquert habe, weil er dachte, dazu benötige man einen Pass. West hatte seinen eigenen Adel, der schon mal beim Kartenspiel in den Kronleuchter schoss. Chico, ti amo. Die Brücken allein waren Korridore zu einem anderen Leben. Heute fahren die Straßenbahnen darüber, als wäre nichts gewesen. Urgesteine halten aus, in Ost wie West.

In Ost droht Gentrifizierung. Jeder Apple Computer ist eine Mine. Die soziale Brisanz wird eliminiert, und damit auch der Charme. Gesundes Frühstück statt Metzelsupp, Tofu-Auflauf statt Rippchen mit Kraut. Die verbliebenen Freaks, die das 22. Jahrhundert schon gedacht haben, sehen sich jungen Eindringlingen gegenüber, die das frühe Bürgertum glorifizieren. Ost ist in seiner Substanz bedroht, während alles nach West schaut. Taktik? Frankfurter Spekulanten bauen den Sanften Passivhäuser zu Preisen, die nur Erben aufbringen können. Manche räumen das Feld, um irgendwo am Rand zu verdorren.

West bleibt ein Durchlauferhitzer. Etablierte Türken vermieten an mittellose Rumänen und Bulgaren. Die nackte Armut bringt sie. Jeder Platz hier ist besser als dort, woher sie kommen. Die Neckarstadt ist ihr Portal zur Zivilisation. Sie werden es schaffen, wie alle, die einmal hier ankamen. West ist das Queens des Südwestens. Hier werden Überlebenseliten geboren. Wer das nicht versteht, der hat die Neckarstadt nicht begriffen. Der hat Mannheim nicht begriffen.  

November Blues

Volle Tüten mit unnützem Zeug, Nachrichten, die nicht stimmig sind, Etikette, die nur zu Gurken passen, verbitterte Mienen ohne Grund, Empörung über Selbstverständliches, Erkalten bei Tragödien, Gelächter bei anderer Leute Not, Besserwissen ohne Kenntnis, Lobpreisung von Profanem, Echauffieren in der Sado-Maso-Tracht, gieriges Lecken an der Oberfläche, angeekeltes Abwenden vom wahren Kern, Feinde überall, den Blick immer im Tunnel, das eigene Dasein als Prototyp, ergiebig Baden im falschen Schein, kein Sinn ohne Nutzen, kein Erfolg, kein Schlüssel, viel Mammon und wenig Sein, nackt vorm Spiegel, der zerbrochen ist, der Regen ist die Signatur, wenn alles so bleibt, sollte diese Jahreszeit für immer sein. 

Papiertiger

In Phasen der großen Ratlosigkeit ist es klug, sich ähnliche Situationen aus der Vergangenheit zu vergegenwärtigen. Wann war es schon einmal so, wie im Moment? Was habe ich da gemacht? Was hat mir geholfen? Mit wem habe ich mich beraten? Was hat mir Erleichterung verschafft? Und wer konnte mir weiterhelfen?

Diesen Rat gab ich vor wenigen Tagen einem alten Bekannten, der zu mir kam und bekannte, dass er nicht mehr weiter wüsste. Er verwies auf den ihn umgebenden Allgemeinzustand und sprach von einem Krisengeflecht. Und als ich ihm die obigen Fragen nahelegte, winkte er enttäuscht ab und beteuerte, dass er das alles bereits durchgespielt habe. Das Problem sei nur, dass er noch nie so ratlos gewesen sei, wie im Moment. Immer habe er einen Funken Hoffnung in sich getragen, damit sei es aber seit geraumer Zeit vorbei.

Und als ich ihn fragte, was ihn denn konkret so umtriebe, sah er mich an, als sei ich ich ganz bei Sinnen. 

„Da fragst du noch? Na hör mal! Da ist eine Politik, die sich nur noch um Krieg und seine Befeuerung dreht, da ist eine Öffentlichkeit, die das auch noch feiert, da ist keine Stimme, die sich erhebt und dagegen aufsteht. Da wird alles Geld der Welt in die Vernichtung von Mensch und Umwelt gesteckt und immer mehr Rentner leben aus der Mülltonne, immer mehr Kinder gehen ohne Frühstück in die Schule, immer mehr Menschen können von einem Job nicht mehr leben, immer mehr Menschen stehen irgendwann ohne Ausbildung da, der öffentliche Verkehr funktioniert nicht mehr, die Straßen sind kaputt, und immer mehr Menschen müssen die wenigen Oasen des Luxus und der Selbstergötzung umschiffen wie feindliche Riffe. Und nichts tut sich: Ein moralischer Aufschrei reicht, und alle blasen ins gleiche Horn. Und wer seinen eigenen Verstand gebraucht, der wird gemobbt und für unzurechnungsfähig erklärt. Und da fragst du mich, was denn los ist? Hast du irgend etwas verpasst?“

Ich muss gestehen, dass ich seine Beschreibung tatsächlich zu einem Großteil teilen musste. Und dass die Verhältnisse so sind, ist für viele weder ein Geheimnis noch das Resultat einer Verirrung in Verschwörungstheorien. Und, indem ich meinem Bekannten gut zusprach und es mit Humor versuchte, ging ich die Fragen, die ich ihm zuerst zur Orientierung gegeben hatte, noch einmal für mich durch. Die Antworten halfen doch. Ich kann mich zugegebenermaßen auch nicht daran entsinnen, dass die Lage bereits schon einmal in meinem bewussten Miterleben so war wie heute. Zwar hatte ich krisenhafte Situationen bereits erlebt und da hatte mir immer geholfen, mir ein Ziel zu setzen und direkt auf es zuzugehen, egal, wie groß der Widerstand war. Denn Krisen, so mein Resümee, sind durch Mutlosigkeit nicht zu überwinden. Und beraten hatte ich mich immer mit meinem konkreten Umfeld. Und dann wurden Beschlüsse gefasst und gehandelt. Egal, was andere sagten oder dachten. Und weiterhelfen konnten mir diejenigen, die in so etwas erfahren waren und ihren Biss nicht verloren hatten. Die Zauderer und Relativierer halfen da nie, nur die Mutigen konnten die eigene Entschlusskraft befeuern. Und jeder aktive Schritt verschaffte Erleichterung. Das bloße Betrachten führte dagegen zu Mutlosigkeit und Defätismus.

Das alles erzählte ich dann meinem Bekannten. Und wir waren uns einig, dass das Aussprechen dessen, was ihn so verdross, der erste Schritt gewesen war, um sich auf den Weg zu begeben und aktiv zu werden. Und dann betrachteten wir noch die Papiertiger, die in jeder Vitrine stehen und den Zustand in seiner ganzen Fragwürdigkeit und Erbärmlichkeit repräsentieren. Und dann mussten wir sogar lachen. Unterschätzen, das haben wir uns dann versprochen, wollten wir sie nicht. Aber Angst, das war uns klar, wäre zu viel des Guten. Das wäre lächerlich. Ein Papiertiger bleibt nun einmal ein Papiertiger.