Archiv für den Monat November 2009

Konflikt und freier Blick

Die grundlegende Idee der Demokratie besteht darin, Herrschaft aufgrund der Legitimation durch die Mehrheit auszuüben. Doch nicht nur das: Selbst die Mehrheit sollte ihr Agieren so gestalten, dass die unterlegene Minderheit nicht auf der Strecke bleibt, ansonsten ergäbe sich eine Art majorisierende Diktatur, wie sie sich historisch vor allem in der Vorstellung von einer Diktatur des Proletariats manifestiert hat.

Das bestechende an der demokratischen Idee ist ihre Ableitung von den der humanen Existenz innewohnenden Gesetzen funktionierender Interaktion: Die Wahrnehmung und Wertschätzung aller an dem Prozess Beteiligten, das Zuhören ohne zu bewerten und das Erwidern mit dem gleichen Recht auf Offenheit. In einer zunehmend komplexer werdenden Gesellschaft ist diese Form der Interaktion tendenziell gefährdet, weil die Komplexität unweigerlich eine wachsende Varianz unterschiedlicher Interessen zur Folge hat. Um o notwendiger ist es, die verschiedenen Standpunkte scharf zu konturieren und in einem offenen Streit gegeneinander konkurrieren zu lassen. Nur so ist es möglich, die Vorzüge des einen oder anderen Interessen geleiteten Vorschlags zu bewerten und eine Entscheidung zu treffen.

Slogans, die fast als Evergreen durch die Moderne rauschen sind die der Information, der Kommunikation, der Beteiligung und der Transparenz. Die omnipräsenten Postulate kommen nicht von ungefähr, sind sie doch auch erwachsen aus einem gefühlten Missstand, in dem der gesellschaftliche Mensch in Daten ersäuft, über alles, aber nicht das Entscheidende geredet wird, an allem, aber nicht dem Essentiellen beteiligt wird und zu guter letzt, kurz vor dem Wahnsinn, aller Ordnungsbegriffe verlustig gegangen ist. Die Gründe für diese moderne Misere sind zum einen in einer Bildung zu suchen, die weder Werte noch Standpunkte vermittelt und aus dem das Denken nicht mehr die Fähigkeit generieren kann, durch die Entwicklung einer eigenen Struktur die Erscheinungen zu vergleichen und zu bewerten. Zum anderen ist durch die Idealisierung der Konsensdemokratie eine Verhaltensweise zum Mainstream avanciert, der das Leichengift der Demokratie bereits innewohnt. Es gehört zum guten Benehmen, nicht mehr zu konfrontieren, seine eigene Meinung stets zu relativieren und den Widerstand gegen bestimmte Positionen nicht mehr offen auszutragen. Stattdessen werden subtile Wege gesucht und gefunden, um das eigene Interessenwerk ins rechte Licht zu rücken. Kabale statt Konfrontation, Inszenierung statt Manifestation und Bedienung statt Offenbarung müssten die Begriffspaare lauten, die den Zerffall der Streitkultur markieren und in ihrer momentanen Gewichtung die Idee der Demokratie diskreditieren.

Jeder Staatsform entspricht ein Gestus auf Seiten der Menschen, die sie verkörpern. In den antiken Klassengesellschaften sind es jeweils zwei, der herrische Blick des Potentaten und das gesenkte Haupt des Untertanen. Dem Gestus entsprachen die notwendigen Charaktere. In der Demokratie ist es der freie Blick aller, der Gleichberechtigung symbolisiert, die sich jeder verdienen muss. Dazu gehört der Konflikt wie die Luft zum Atmen. Wenn Menschen charakterlich nicht mehr fähig sind, Konflikte öffentlich auszutragen, hat die Demokratie ein essentielles Problem.

Die prekäre Dichotomie von Kultur und Zivilisation

Die Geschichte des Kulturbegriffs hat in Deutschland eine andere Verlaufsform genommen als in Frankreich oder den anglophonen Ländern. Der Begriff hatte bereits eine Dichotomie in der römischen Antike erfahren, als sich zur eigentlichen cultura, zu übersetzen mit Anbau und Pflege, womit die Veredelung der Natur und ihre Wertsteigerung gemeint war, die cultura animi gesellte, die die Verfeinerung der menschlichen Seele und die Sublimierung der Triebnatur meinte. Sowohl im französischen als auch im englischen Sprachbereich wurden beide Aspekte mit der Aufklärung unter dem Terminus der Zivilisation zusammengeführt und erfuhren aus der Perspektive des bürgerlichen Zeitalters eine Säkularisierung. Im französisch-angelsächsischen Begriff der Zivilisation dominieren die mess- und beschreibbaren Errungenschaften gesellschaftlichen Niveaus, wobei Dimensionen wie Konstitution, Rechtssprechung, Bildung, Infrastruktur und Zivilkodex dominieren.

Diese semantische Entwicklung ging an Deutschland zwar nicht vorbei, aber sie wurde vor allem durch Friedrich Nietzsche, den Historiker Jacob Burckhardt und den Endzeitphilosophen Oswald Spengler desavouiert. Sie stemmten sich sequentiell gegen die Säkularisierung der idealistischen Kulturnotation und sind zumindest in der Rezeption maßgeblich dafür verantwortlich, dass die von Wilhelm von Humboldt in einem Akt der Kulturkritik vollzogene Unterscheidung von den allgemeinen Leistungen der Zivilisation und den besonderen der Kultur als kreative Kräfte in der bildenden Kunst, Literatur und Musik, der Bildung und der Pflege der Sitten, in Deutschland beibehalten und neu begründet wurde.

Dass sich unterschiedliche Nationen unterschiedlich entwickeln, gehört zu den grundlegenden Erfahrungen von Geschichte. Der Sachverhalt, dass die deutsche Philosophie und Gesellschaftsforschung andere Wege gingen als die französische, englische oder später amerikanische, ist nicht nur bekannt, sondern für die Auswirkungen dieser Spezifika liefert die Geschichte des XX. Jahrhundert zahlreiche Beispiele. Auffallend ist, dass die vorgenommene Dichotomie in Deutschland dazu führen konnte, dass zivilisatorische Dimensionen wie das Recht unter der Suprematie einer aus dem Idealismus eines metaphysischen Kulturbegriffs stammenden Ideologie den Hunden zum Fraß vorgeworfen werden konnte, während die belitzten Schlächter Europas Aufführungen der Wagnerschen Götterdämmerung beiwohnten. Die kulturelle Implikation des bürgerlichen Kodex wurde gänzlich missachtet und einem verschwirmelten Idealismus entgegengesetzt, der keinen Filter mehr hatte gegen das Barbarische. Insofern ist die Geschichte als Evaluation etymologischer Begriffsentwicklung eine harte Richterin für diese Entwicklung.

Dass sich mit der zunehmenden Anglisierung des Denkens auch in Deutschland nach dem II. Weltkrieg, initiiert durch die Frankfurter Schule, die öffentliche Verständniswelt bis zum heutigen Tag in der vorgenommenen Dichotomie verirrt, zeigt die verheerende Rezeption von Huntingtons Clash of Civilizations, direkt übersetzt ein Zusammenprall der Zivilisationen, der nach dem alten Schema als Kampf der Kulturen übersetzt wurde, und eine Diskussion hervorrief, die absurder nicht hätte sein können.

Der Alltag ist nicht das Moderne

Allenthalben wird in unseren Tagen vom Wandel gesprochen. Er bezieht sich auf alle Sphären des Lebens, die Nutzung von Instrumenten in der täglichen Organisation unseres Daseins, aber auch die Organisation und Gestaltung der Arbeit. In dem auch verfilmten Roman Der Eisturm von Rick Moody beginnt das erste Kapitel mit einer kurzen Einführung für Leserinnen und Leser, die erst in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts geboren wurden und es wird informiert, dass es im Jahre der Handlung, die ebenfalls in den siebziger Jahren spielt, noch Schallplatten gab, noch keine Mikrowellen, keine Handys, keine kabellose Fernbedienung, in Privathaushalten noch keine Computer und vieles mehr. Bei der Lektüre wird bewusst, wie sehr der wissenschaftlich-technische Fortschritt allein die private Lebenssphäre revolutioniert hat. Sieht man Filme aus dieser Zeit zusammen mit Vertretern der jüngeren Generation, so kann man beobachten, dass diese die Langatmigkeit der Dialoge und Handlungen selbst physisch kaum aushalten. Die technische Beschleunigung hat zweifellos unser Dasein gravierend verändert.

Seit der Erkenntnis um die allgemeine Akzeleration der Lebens- und Arbeitsprozesse hat sich der Begriff des Change Management etabliert. Vor allem in der Arbeitswelt war bis zur Jahrtausendwende damit gemeint, besondere Formen zu finden, mit denen die Anpassung der Verhältnisse an eine zumeist technische Innovation bewerkstelligt werden kann. Die allgemeine, permanente, technische und meist instrumentelle Innovation ist im Laufe der letzten Jahrzehnte jedoch zu etwas geworden, das man aus der Perspektive der Statik nicht mehr beurteilen kann. Die Anpassung der täglichen Routinen an eine Erneuerung ist zum Dauerzustand geworden. Dieses zu erkennen, ist für viele ein schmerzhafter Prozess, aber die Quintessenz lässt sich davon nicht mehr beeinflussen: Die andauernde technische Erneuerung, die alle Lebensbereiche durchdringt, ist zum Dauerzustand, sprich zum Alltag geworden.

Die technische Innovation ihrerseits beschleunigt in der Regel die Prozesse, sie muss deshalb aber nicht unbedingt modern sein. Patriarchalisches Denken existiert auch in High-Tech-Betrieben, schlechte Unterhaltung mit rückständigen Botschaften erreicht uns auch über das Satellitenfernsehen, und der rein technische Zugang zu allen erdenklichen Informationen führt nicht unbedingt zu einem strukturierten Denken. Die technische Moderne ist zum Alltag geworden, aber sie hat nicht notwendig dazu geführt, dass sich das Denken modernisiert hat. Das, was sich heute als Change Management begreift, befasst sich aber gerade mit dieser Frage. Es geht nicht mehr um alltägliche Fragen, wie ich eine technische Innovation in Routineabläufe integriere, sondern darum, welche qualitativen Notwendigkeiten durch eine Veränderung erreichen werden sollen und wie es gelingen kann, die Köpfe derer, die in dem Prozess eine Rolle spielen, dahin zu bringen, das Ganze auch neu zu denken. Zur Jahrtausendwende sprach man oft von einem Paradigmenwechsel. Es war die Trennlinie vom technischen zum semantischen Change. Die technische Anpassung an unsere Lebenswelt ist der Alltag, das kognitive Erfassen dessen, was dort passiert und der Versuch, die Prozesse neu zu denken und zu steuern, das ist das Moderne.