Die grundlegende Idee der Demokratie besteht darin, Herrschaft aufgrund der Legitimation durch die Mehrheit auszuüben. Doch nicht nur das: Selbst die Mehrheit sollte ihr Agieren so gestalten, dass die unterlegene Minderheit nicht auf der Strecke bleibt, ansonsten ergäbe sich eine Art majorisierende Diktatur, wie sie sich historisch vor allem in der Vorstellung von einer Diktatur des Proletariats manifestiert hat.
Das bestechende an der demokratischen Idee ist ihre Ableitung von den der humanen Existenz innewohnenden Gesetzen funktionierender Interaktion: Die Wahrnehmung und Wertschätzung aller an dem Prozess Beteiligten, das Zuhören ohne zu bewerten und das Erwidern mit dem gleichen Recht auf Offenheit. In einer zunehmend komplexer werdenden Gesellschaft ist diese Form der Interaktion tendenziell gefährdet, weil die Komplexität unweigerlich eine wachsende Varianz unterschiedlicher Interessen zur Folge hat. Um o notwendiger ist es, die verschiedenen Standpunkte scharf zu konturieren und in einem offenen Streit gegeneinander konkurrieren zu lassen. Nur so ist es möglich, die Vorzüge des einen oder anderen Interessen geleiteten Vorschlags zu bewerten und eine Entscheidung zu treffen.
Slogans, die fast als Evergreen durch die Moderne rauschen sind die der Information, der Kommunikation, der Beteiligung und der Transparenz. Die omnipräsenten Postulate kommen nicht von ungefähr, sind sie doch auch erwachsen aus einem gefühlten Missstand, in dem der gesellschaftliche Mensch in Daten ersäuft, über alles, aber nicht das Entscheidende geredet wird, an allem, aber nicht dem Essentiellen beteiligt wird und zu guter letzt, kurz vor dem Wahnsinn, aller Ordnungsbegriffe verlustig gegangen ist. Die Gründe für diese moderne Misere sind zum einen in einer Bildung zu suchen, die weder Werte noch Standpunkte vermittelt und aus dem das Denken nicht mehr die Fähigkeit generieren kann, durch die Entwicklung einer eigenen Struktur die Erscheinungen zu vergleichen und zu bewerten. Zum anderen ist durch die Idealisierung der Konsensdemokratie eine Verhaltensweise zum Mainstream avanciert, der das Leichengift der Demokratie bereits innewohnt. Es gehört zum guten Benehmen, nicht mehr zu konfrontieren, seine eigene Meinung stets zu relativieren und den Widerstand gegen bestimmte Positionen nicht mehr offen auszutragen. Stattdessen werden subtile Wege gesucht und gefunden, um das eigene Interessenwerk ins rechte Licht zu rücken. Kabale statt Konfrontation, Inszenierung statt Manifestation und Bedienung statt Offenbarung müssten die Begriffspaare lauten, die den Zerffall der Streitkultur markieren und in ihrer momentanen Gewichtung die Idee der Demokratie diskreditieren.
Jeder Staatsform entspricht ein Gestus auf Seiten der Menschen, die sie verkörpern. In den antiken Klassengesellschaften sind es jeweils zwei, der herrische Blick des Potentaten und das gesenkte Haupt des Untertanen. Dem Gestus entsprachen die notwendigen Charaktere. In der Demokratie ist es der freie Blick aller, der Gleichberechtigung symbolisiert, die sich jeder verdienen muss. Dazu gehört der Konflikt wie die Luft zum Atmen. Wenn Menschen charakterlich nicht mehr fähig sind, Konflikte öffentlich auszutragen, hat die Demokratie ein essentielles Problem.
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