Archiv für den Monat Oktober 2016

Digital-bürokratische Zeitkiller

Keine Zeit zu haben, heißt, sich für etwas anderes zu entscheiden. Dieser Satz, der als Weisheit den Chinesen zugeschrieben wird, scheint vielen, die übervolle Terminkalender haben, manchmal wie ein Hohn in den Ohren. Denn vieles, womit wir uns beschäftigen müssen, entspricht den Funktionen, die wir wahrnehmen. Und letzteres ist kein Schicksal, das uns gegen unseren Willen ereilt. Auf der anderen Seite haben wir das Recht und die Pflicht, uns das, wofür wir uns engagieren oder engagieren lassen, sehr genau anzusehen. Denn vieles, was traditionell mit diesen Funktionen verbunden wird, bedarf einer radikalen Revision, wenn nicht gar einer Neuerfindung. Die digital-zivilisatorische Crux, der wir unterliegen, hat viele Funktionen und Berufsbilder ihrerseits radikal verändert und ihnen nicht selten die Wurzeln geraubt.

Vieles, was durch den Einsatz der Informationstechnologien möglich geworden ist, hat dazu beigetragen, dass immenses Fachwissen vor Ort existiert. Die Eruierung dieses Wissens und die damit verbundene notwendige Protokollierung, die ihrerseits aus einer Verrechtlichung vieler Prozesse resultiert, hat dazu geführt, dass sich viele Funktionen von ihrem eigentlichen Fokus abwenden. Es geht um die Dokumentation all dessen, was getan wird und nicht um die Untersuchung und Betreuung derer, um die es geht. Ein Besuch beim Arzt ist das beste Beispiel. Welcher Mediziner hat noch die Muße, sich einem Patienten zu widmen, ihn anzusehen, ihm in die Augen zu blicken und herauszufinden, worüber er sich eigentlich beklagt. Sie schauen auf den Bildschirm und bedienen die Routine. Und so ergeht es vielen Berufen, und besonders schlimm denen, die eigentlich von der Interaktion leben.

Auch das, was generell mit Management bezeichnet wird, unterliegt derartigen Prozessen. Die IT-Routinen sind besonders für jene, deren einziges Mittel die Kommunikation ist, zu einem regelrechten Fluch geworden. Das sich wie eine Seuche vermehrende Schriftgut, das weder gut noch Schrift ist, sondern ein Konvolut aus bürokratischem Analphabetismus und Alliteratentums, vermehrt sich wie die schwarze Pest im Mittelalter und überflutet die Accounts, Postfächer und Plattformen, auf denen die Informationen liegen müssten, um die es geht. Das Absurde dabei ist, dass die entscheidenden Informationen bzw. die Informationen, die notwendig sind, um gute Entscheidungen zu treffen, bei diesen Datenmassen gar nicht liegen. Sie zu finden, ist die eigentliche Qualität, die ein vernünftiges Management erfordert. Und die These sei hinzugefügt, auch die anderen Berufs- und Funktionsgruppen finden in den dokumentierten, leblosen Routinen nicht das, was sie brauchen, um gute Arbeit zu leisten.

Der Wahn, alles zu dokumentieren, um nach innen zu reglementieren und gegen Rechtsansprüche von außen gewappnet zu sein, hat zu einer gleichzeitigen De-Qualifizierung der eigentlichen Professionalität geführt. Eskortiert wird dieser Prozess von dem, was eingangs beschrieben wurde, vom konsequenten und unersättlichen Raub der Zeit. Und wenn es eine Wahrheit gibt, die in dem chinesischen Sprichwort liegt, dann ist es die, dass anderes, für wen auch immer Relevantes das ist, was es den meisten Menschen verwehrt, das zu machen, was ihre eigentliche Professionalität oder Berufung ist. Daher ist die einzig logische Konsequenz die, sich seinerseits im Rahmen der existenziellen Möglichkeiten für das zu entscheiden, was tatsächlich wichtig ist. Auch wenn die allgemeine digitale Reglementierung sehr harte Rahmen setzt, es ist mehr, als viele denken. Die Grenzen finden aber nur die, die es versuchen. Die Freiheit der Entscheidung ist eine praktische Übung, sie läßt sich nicht theoretisch erörtern.

Trump versus Clinton: Zwei Wechsel auf die Vergangenheit

Auch wenn alle so tun, als wäre es ein abscheuliches Spektakel, ich kann mir nicht helfen, irgendwie scheinen sie sich daran zu laben. Der US-Wahlkampf scheint sehr weit weg zu sein und uns hier, im piekfeinen Deutschland nicht zu berühren. Beides ist falsch, skandalös falsch, aber auch daran haben wir uns gewöhnt. Es geht nicht um richtig und falsch, sondern um Verkaufsaussichten oder nicht. Und einen Eklat verkauft man besser als biedere Fakten. Also das Theater um den Kampf zwischen Donald und Hillary scheint alle sehr zu begeistern. Denn eines ist klar: im nächsten Jahr wird auch hier gewählt und es wird auch hier unterirdisch zugehen, aber die Soap Opera, die in den Staaten mit einem solchen Debakel einhergeht, die werden wir nicht bekommen, vor allem wenn Mutti nochmal ins Feld zieht, dann wird es so bieder, dass klein Michel zwischendurch mal wieder einschläft und am Wahltag völlig durcheinander ist.

In den USA , dem Imperium schlechthin, ist in den letzten beiden Jahrzehnten eine Menge schief gelaufen. Nach dem großen Durchbruch, dem Ende des Ost-West-Konfliktes, stellte sich sehr schnell heraus, dass der Konflikt eigentlich besser war als eine neue Welt, die eine neue Ordnung forderte. Bereits Bill Clinton inszenierte die Renaissance des Grundkonfliktes mit der Sowjetunion, in dem er mit der NATO-Osterweiterung vor den Toren des neuen Russlands bereits in den neunziger Jahren des letzten Jahrtausends wieder begann. Da war die Welt noch geblendet von den politisch korrekten Hexenjagden im eigenen Land, aber als die Amerikaner die Nase von diesen Bevormundungsorgien voll hatten, wählten sie George Bush, der das politisch Korrekte durch anglikanischen Dogmatismus ersetzte und den aggressiven Imperialismus in neue Höhen trieb.

Eine militärische Intervention folgte der anderen, ein Regime Change nach dem anderen wurde inszeniert. Was als Resultat festgehalten werden kann ist eine immense Verunsicherung in der Welt, eine Eskalation der Verwerfungen und die Aussicht auf weitere, neue militärische Konflikte, zu denen der zwischen Ost und West wieder hinzugekommen ist. Ob die US-Bevölkerung davon eine Ahnung hat, lässt sich schwer abschätzen. Was sie weiß, ist, dass sich die Zeiten ändern werden, und zwar gewaltig. Ja, die Historiker verweisen immer wieder auf das römische Imperium, das mehrere hundert Jahre gebraucht habe, um unterzugehen. Aber es ändert ja nichts an der Betrachtung, dass die USA sich in einer anderen Welt neu orientieren müssen, genauso wie alle anderen auch. Die Aggressivität gegenüber Russland entspringt genau dieser Einsicht und dem Widerwillen dagegen. Russland steht mit seinen Ansprüchen für eine neue, multipolare Weltordnung, die USA dagegen.

Weder Trump noch Clinton stehen für eine neue Vision der USA. Trump, der Selfmademan mit den schlechten Manieren, steht für die Sehnsucht nach den alten Zeiten, in denen hohe Risikobereitschaft und Schnoddrigkeit reichten, um in diesem Land sein Glück zu machen. Clinton hingegen steht für die Wall Street-Maschinerie und die sie orchestrierenden Ostküsteneliten, die es in den letzten Jahrzehnten vermocht haben, dass Land systematisch zu ent-demokratisieren. Was ist das für eine Wahl? Entweder die Vergangenheit, die für manche schön war, oder die Vergangenheit, die für viele schlecht war? Ziemlich bescheiden. Wahrscheinlich ist die Prognose, dass es die Wahl sein wird, nach der vieles so sein wird, wie es noch nie war.

Der Absturz des Individualismus

Die pädagogischen Konzepte ganzer Kulturkreise offenbaren die jeweilige Einstellung zum Leben. In den heroischen Zeiten der Nationalstaaten war bzw. gehört die Orientierung des zu erziehenden Nachwuchses auf den Schutz und den Erhalt des Gemeinwesens. Da wird der Staat, um den es geht, als zentraler Wert vermittelt und das Glück des Individuums mit dem Großen und Ganzen als Identität gesehen. Beim Blick aus unserer, d.h. der zentraleuropäischen und dort besonders der deutschen Perspektive gilt diese Auffassung als längst überholt und veraltet, obwohl die zentralen Mächte dieser Welt noch so funktionieren. Nicht nur China und Russland, sondern auch die USA sind so konzipiert. In China ist es der Sozialismus, in Russland das Mütterchen Russland und in den USA die amerikanische Verfassung, auf die sich die Intention der kollektiven Pädagogik ausrichten. Es geht um die Identität von Individuum und Nation.

Wie die Lebenswelten und Realitäten in diesen Ländern aussehen, ist eine andere Sache. Aber die Bemühungen, über die Erziehungsinstitutionen einen Sinn zu vermitteln, der sich aus einem Heroismus speist, ist bemerkenswert. Denn in der Tat hört sich das, was als deutsches Erziehungsideal in diesem Kontext andeutet als etwas ganz andres an. Ob es besser ist, sei dahingestellt. Erstaunlich und bei der Geschichte dieses Landes alles andere als selbstverständlich ist nämlich der Umstand, dass die persönliche, individuelle Befindlichkeit und Entwicklung den höchsten Stellenwert einnimmt. Selbst im benachbarten Frankreich, wo die Revolution für die individuelle Freiheit die gewaltigsten Feste feierte, existieren noch Verweise auf die Grande Nation, der die Jugend des Landes verpflichtet ist. Insofern scheint die Bundesrepublik Deutschland das synthetisch reine Produkt des Post-Heroismus zu sein.

Um Missverständnissen vorzubeugen, es geht um die großen Tendenzen, nicht um Nuancen. Selbst bei der Beschreibung des Individuums, in den gedachten großen pädagogischen Konzepten, existieren je nach Kulturkreis Unterschiede. Während noch in der Verfassung (!) der USA nicht nur von dem Recht, sondern von der Pflicht des Individuums auf der Jagd nach dem Glück die Rede ist, ist in Deutschland nur von Rechten die Rede. Rechte wiederum werden in Anspruch genommen oder auch nicht. Die Paradoxie, auf man im Falle Deutschlands stößt, ist einerseits die überproportionale Existenz des Individuums gegenüber dem Gemeinwesen und andererseits ein Vakuum, weil die individuelle Sphäre gar nicht in dem außergewöhnlichen Maße in Anspruch genommen wird. Ursache mag ein langer, aus Trägheit akzeptierter Prozess der systematischen Entmündigung sein. Statt des Kraft strotzenden Individuums steht dort eine Bürokratie, die beansprucht, als Agentur des Individuums das Glück für alle an Land zu ziehen.

Der Individualismus hierzulande scheint zu einer bloßen Phrase verkommen, weil die Akteure dazu fehlen. Grundlage eines agierenden Individuums sind Können und Erfolg, denn der Erfolg ist die Mutter der Motivation, die ihrerseits den Prozess der wachsenden Befähigung auslöst. Die Pädagogik dieses Landes ist jedoch weder auf die Tat des Einzelnen noch auf dessen Erfolg ausgerichtet, sondern sie entstammt nahezu komplett aus Ansätzen der therapeutischen Behandlung. Alles, was als pathologisches Resultat der Entmündigung zu erwarten ist, säumt die Alleen der pädagogischen Weisheit. Es sind Forderungen nach Zu- Und Hinwendung, nach Wertschätzung und Achtsamkeit, die allesamt im therapeutischen Rahmen ihren Sinn haben, aber für das Individuum, um nicht zu sagen das historische Subjekt zu wenig, viel zu wenig hermachen, um erfolgreich zu sein.