Archiv für den Monat August 2011

Der Faschismus und die romantische Ironie

Bernhard Schlink. Der Vorleser

Lakonisch kommt die Erzählung daher, bei näherem Hinsehen und in sich Hören allerdings kommt man der Technik auf die Spur. Bernhard Schlink ist ein gewiefter Autor, der mit Esprit seine Komposition entwirft. Die furchtbare Geschichte einer Liebesbeziehung einer wesentlich älteren Frau mit einem Jungen wird erzählt mit den Mitteln der romantischen Ironie. Wie in Gottfried Kellers Aus dem Leben eines Taugenichts, welches auch zu den Werken zählt, das die Erzählperson der Delinquentin vorliest, plätschert eine vermeintlich belanglose, tatsächlich aber tief verstörende Geschichte in das Bewusstsein des Lesers, der lange vergeblich versucht, sich einen Reim auf das zu machen, was sich vor ihm ausbreitet.

Es ist alles andere als eine Heidelberger Romanze, was Bernhard Schlink in seiner Erzählung Der Vorleser seinem Publikum unterbreitet. Eineinhalb Jahrzehnte nach dem Krieg und dem großen Verbrechen entwickelt sich aus einer Allerweltsbegebenheit eine Bekanntschaft, die sich zu einer sexuellen wie psychischen Bindung auswächst. Ein Fünfzehnjähriger treibt es, oder besser gesagt, wird von einer Fünfunddreißigjährigen zu einer erotisch dominierten Beziehung getrieben. Für die Lehrstunden und Dienste der Frau fordert diese lediglich, dass der junge Mann ihr laut vorliest. Die Weltliteratur wird so zum Digestif eines Treibens, das weit jenseits der moralischen Akzeptanz des damaligen Nachkriegsdeutschlands liegt.

Irgendwann verschwindet die Frau. Der Junge leidet eine Zeit, geht dann aber seiner bildungsbürgerlichen Wege. Er vergisst, bleibt aber lädiert, weil beziehungsunfähig zu anderen Frauen. Jahre später erlebt er als Jurastudent einen Prozess gegen weibliches Wachpersonal eines KZ und sieht seine frühere Liebe auf der Anklagebank. Jenseits einer direkten Kontaktaufnahme entspinnt sich ein neuer Dialog zwischen beiden, der durch die Erkenntnis des Jungen eröffnet wird, dass das ganze Debakel der Biographie seiner früheren Liebe mit dem Umstand ihres Analphabetismus zu erklären ist. Auch im Prozess führt es dazu, dass sie das härteste Urteil bekommt.

In den Folgejahren liest er wieder, diesmal auf Kassette, die literarischen Werke, von denen er glaubt, dass sie sie im Gefängnis interessieren. Er, der als reiferer Mann sich als Rechtshistoriker etablieren konnte, aber an einer Ehe scheiterte, räsoniert über die Frage von Scham und Schuld, der juristischen Intervention und des freien Willens zur Sühne, kommt aber angesichts des Unsäglichen der Taten der Vergangenheit zu keinem schlüssigen Ergebnis, mit dem er leben könnte.

Der Frau selbst geht es nicht anders. Sie kämpft auf ihre Weise im Gefängnis gegen das für sie Unverständliche an und ihr gegenüber entsteht sogar eine Sympathie, weil sie mit keiner Wimper zuckt, wenn es um die Konsequenzen ihres Handelns geht, auch wenn sie, wie dieses heute vielleicht der Fall wäre, um Milde Umstände bitten könnte, weil ihr die notwendige Bildung versagt war.

Die Erzählung hat kein Happy End, weder bei dem berichtenden ehemaligen Jungen, noch bei der Delinquentin, noch bei den Opfern. Es ist, ohne die nervtötenden und zum Ritual verkommenen Klischees bemühen zu müssen, eine deutsche Geschichte, die das Desaströse des Krieges und der Diktatur aufzeigt, ohne die Individuen, die eine Rolle darin spielen, zu trivialisieren, damit sie in ein Gut-Böse-System passen. Das ist wohltuend und deprimierend zugleich.

Die Geographie eines üppigen Talents

Truman Capote. Auf Reisen

An den frühen Schriften erkennt man sie bereits oft: die Großen, oder besser gesagt, die zukünftig Großen der schreibenden Zunft. Truman Capote war so einer. Zwar sind seine Beiträge zur Literatur des 20. Jahrhunderts im Nachhinein überschaubar. Von der Grasharfe, über Frühstück bei Tiffany bis hin zu dem Meilenstein Kaltblütig sind es nicht Folianten, die er gefüllt hat, aber ohne seine Beiträge wäre die literarische Moderne erheblich ärmer.

Der in Zürich residierende Verlag Klein & Aber macht sich gegenwärtig mit der Herausgabe der kleineren Werke Truman Capotes sehr verdient. Nach Monroe & Co. sowie Frühstück bei Tiffany liegt mittlerweile auch ein Band vor, der sich Truman Capote auf Reisen. Reportagen Von New York über Tanger bis Ischia nennt und bis auf die letzte Erzählung, die etwas später datiert ist, Reiseimpressionen Capotes beinhaltet, die in den fünfziger Jahren entstanden und so aus der Perspektive eines jungen Mannes in den Zwanzigern geschrieben sind.

Und bereits in diesen Aufzeichnungen zeigt sich, dass Truman Capote ein großartiger Schriftsteller war, der es vermochte, dem Ort seine eigenwillige Perspektive zuzuschreiben, die abwich vom materiellen Klischee. Die Philosophie Capotes ist in allen Impressionen zu lesen: Die Menschen machen den Ort aus. Es gibt keine Geographie an sich, sondern nur etwas, was die Menschen daraus machen. In der Geschichte über New York sind es vor allem die Verlierer, die ihn interessieren, und die sicherlich auch die Mehrheit in jener Metropole ausmachen. In New Orleans sind es die schrägen, bizarren Typen, die jenseits aller Wertordnungen ihre Lebensformen gießen, die Big Easy ihren Stempel aufdrücken. Und auch in Hollywood treffen wir auf Menschen, die ein Paradoxon bestätigen: In der großen Traumfabrik sind es die Desillusionierten, die das dortige Leben beschreiben. Durch Europa reist er wie durch ein Terrarium, in dem er eigenartige Lebewesen beschreibt, die ihn wegen ihrer Skurrilität und Ordnung faszinieren und in der marokkanischen Hafenstadt Tanger findet er genau die Typen, die diesen Ort der Libertinage und Anarchie und des netzlosen Untergangs nicht besser beschreiben könnten.

Truman Capotes Reisebeschreibungen, die daherkommen wie lapidare Charakterdarstellungen, übersetzen, ohne es zu wollen, den deutschen Begriff der Sehenswürdigkeit völlig neu: Orte, denen eine nähere Betrachtung zuteil wird, haben eine Aura, die ihnen durch die Würde der dort agierenden Individuen zuteil wird. Das soziale Wesen ist es, das Orte und Geschichte macht, mit all seiner Fehlerhaftigkeit, seinem Scheitern, seiner Obszönität, seiner Chuzpe und seiner menschlichen Wärme. Dem Mittzwanziger Truman Capote, dem Mann, der aus dem tiefen Süden der USA kam, gelang es vielleicht auch deshalb. Seine Charakterdarstellungen zeitigen eine Meisterschaft, die keines I-Tüpfelchens mehr bedarf. Wer diese Geschichten liest, ist inspiriert und will mehr. Und auch hier regiert das Wertgesetz: Sie sind unschätzbar, weil es ihrer mehr nicht gibt!

Neue Atlanten! III.

Globale Denk- und Produktionsweisen

Die Identifizierung der merkantil-orientalen und der cartesianisch-westlichen Denk- und Produktionsweisen liegen auf der Hand, wenn man seinen Blick im Zentrum Europas zum ersten Mal erhebt. Entscheidend für die Herausbildung dieser beiden Kompetenzen ist die starke Historie, die beide Kulturkreise sowohl in ihrer Eigenentwicklung als auch in ihrer Interaktion aufzuweisen haben. Der europäische Rationalismus und der orientalische Merkantilismus konnten sich über Jahrhunderte während des römischen Imperiums koexistent entwickeln und kennenlernen, was allerdings nicht dazu beigetragen hat, die Ressentiments für alle Zeiten zu beenden.

Gesellschaften mit hochentwickelten Kompetenzen hören nicht mit Europa und dem Nahen Osten auf. Eine bloße kontinentale Aufteilung brächte wenig, weil es teilweise aufgrund der Komplexität und Unterschiedlichkeit doch angebracht erscheint, einzelne Kontinente zu unterteilen, während es bei anderen Fällen wiederum Sinn macht, unterschiedliche Kontinente unter einer Überschrift zu verbinden.

So wäre, Europa bis auf den Osten unter die cartesianisch-westliche Denkweise zu fassen. Der amerikanische Kontinent sowie Australien sind letztendlich dem europäischen Kontinent in dieser Klassifizierung zuzuordnen, mit der interessanten Spezifizierung, dass wir es bei Australien, Kanada und vor allem der USA mit der protestantischen, bei Mittel- und Lateinamerika mit der katholischen Variante des europäischen Cartesianismus zu tun haben.

Asien muss einer weiteren Differenzierung unterliegen, weil wir dort sowohl das klassisch merkantil-orientalische Phänomen beobachten, vor allem an den Küsten des Indischen Ozeans mit Ausnahme Indiens, das eine Sonderstellung einnimmt, während die kontinentalen Kulturzentren Russland und China eher dem asiatisch-hydraulischen Komplex zuzuordnen sind. Dabei handelt es sich um Kollektivgesellschaften, die in der Regel zu despotischen Regierungsformen neigen, ein auf Familie, Tradition und Gastfreundschaft basierendes Wertesystem aufweisen und imstande sind, mächtige Arbeitskraftformationen zu organisieren, die im wahren Sinne des Wortes Berge zu versetzen in der Lage sind.

Afrika wiederum lässt sich über den arabischen Zugang in einen Teil aufteilen, der als merkantil-orientalisch klassifiziert werden kann, während der Rest zumeist als archaisch-tribal oder postkolonial bezeichnet werden muss. Die vorgefunden Kompetenzen stehen somit zumeist in der Tradition von Westen und Nahem Osten.

Das mit grobem Duktus entworfene Bild deutet die Geographie von globalen Kompetenzfeldern an, auf die wir uns in Zukunft konzentrieren müssen. Technik, Workforce und Vermittlung sind die drei Tugenden, die wir geostrategisch orten können, und die es gilt, sie in einer globalen Ökonomie in ein gemeinsames Handlungsmuster zu bringen. Das stärkt die Kooperation, weil es die Interdependenz verdeutlicht.

Synergien aus Diversität

Die Identifikation einer globalen Kompetenzgeographie legt nahe, sich Gedanken darüber zu machen, wie die Kommunikation zwischen den einzelnen Kernkompetenzen aussehen muss, damit sie zu strategisch gewünschten Ergebnissen führt. Und die Tatsache, dass in unterschiedlichen Regionen dieser Welt unterschiedliche Kompetenzen zu identifizieren sind, macht mehr als deutlich, dass eine absolute Konkurrenz untereinander zu nichts führen kann. Diese Art von Konkurrenz setzt auf Ausgrenzung lebenswichtiger Fähigkeiten und impliziert immer auch Destruktion.

Wenn davon ausgegangen werden kann, dass Produktion und Technik, Workforce, Handel und Vermittlung sowie anthropologisch universale Sozialmuster zu den Formen geographischer Kompetenz zählen, über die wir hier reden, wird deutlich, wie unsinnig die Verfolgung von Dominanzzielen in globalem Maßstab geworden ist. Wenn England, Frankreich und später Deutschland um die Vorherrschaft im 19. Jahrhundert kämpften, dann war dieses innerhalb des Produktions- und Technikblocks. Die Kolonien waren ein Übergriff dieses Blocks auf Workforce, Ressourcen oder Handelswege. Sie instrumentalisierten transatlantische oder transpazifische Kernkompetenzen und richteten diese auf die Dauer ihrer Herrschaft erfolgreich zugrunde.

Workforce, Handel oder archaisches Sozialmuster hingegen gelang es nie, den Komplex von Technik und Produktion zu unterwerfen. Daher hat sich das technokratische Denken, welches grundsätzlich das einer instrumentellen Vernunft ist, den Vorteil einer globalen Übung verschaffen können, auch wenn es grundsätzlich destruktiver Natur ist. Die Instrumentalisierung der einen oder anderen Weltkompetenz durch die andere wird immer mit sich bringen, lebenswichtige Potenziale zu zerstören.

Es ist daher längst an der Zeit, die Diversität verschiedener Kompetenzen auf dem Globus anzuerkennen und sich Gedanken darüber zu machen, wie diese potenzielle Diversität zu einer Kooperation gebracht werden kann, die tatsächlich Synergien hervorbringt. Voraussetzung dafür ist die Wahrnehmung dieses Zusammenhangs. Die Vorstellung, es handele sich lediglich um unterschiedliche Kulturkreise mit verschiedenen Götzenbildern ist so archaisch wie das Götzenbild selbst.

Um die Chance von Synergien durch Diversität kommunizieren zu können, muss die Fähigkeit entwickelt werden, sozio-kulturell-ökonomische Kernpotenziale diagnostizieren zu können und einen Eindruck davon herzustellen, wie eine Kombination unterschiedlicher Stärken in internationalen Organisationsformen zu managen sind. Dazu gehören Menschen, die wissen, wie sich die unterschiedlichen Weltkompetenzen konstituieren, welcher sozialen Semantik sie bedürfen und wo das gemeinsame Interesse an einer Kooperation zu finden ist.

Existenzielle Ambiguitäten

Die Diversität unserer Welt und ihrer unterschiedlichen geographischen Kompetenzzentren stellt dem Menschen von heute, der davon aus geht, dass er global denken und handeln will, vor ein nicht unbeträchtliches Problem. Zum einen befindet sich jeder Vertreter in seinem eigenen Kulturkreis, der gekennzeichnet ist durch die eigene Kernkompetenz. Andererseits ist es für den eigenen Kompetenzkreis charakteristisch, in Bezug auf die anderen Globalkompetenzen mit Defiziten behaftet zu sein, die im eigenen geographischen Feld kaum ausgeglichen werden können.

Die sich aufdrängende Frage ist essenziell: Kann es gelingen, die verschiedenen Kompetenzen von Technik & Produktion, Workforce sowie Handel und Vermittlung in einem identischen geographischen Areal so zu arrangieren, dass von den in den geographisch unterschiedlichen Kompetenzkreisen vorhandenen Qualitäten keine verloren geht? Oder ist eher davon auszugehen, dass ein solcher Versuch nur wenig Chancen auf Erfolg hat und es eher darum geht, wie übrigens momentan mehrheitlich der Fall, in einer Art internationaler globaler Arbeitsteilung die Kompetenzen miteinander zu vereinen? Letzteres ist ein Resultat aus der kontinentalen Verschiedenheit und Eigenständigkeit, ersteres wäre der Versuch, die Welt zu homogenisieren, alles überall zu ermöglichen und sich an das Ende der sozialhistorischen Anthropologie zu stellen.

Unabhängig von dieser Frage, ob international durch optimierte Infrastruktur vernetzt oder geographisch und gleichzeitig überall zu allem befähigt zu sein, die Akteure in einem globalen Wertschöpfungsprozess müssen nicht nur über mindestens eine der beschriebenen Kompetenzen exzellent verfügen, sondern sie müssen zudem wissen, um welche anderen Kompetenzen es sich handelt, welche Verhaltensmuster und Lebenstechniken daraus resultieren und wie das alles erworben wird. Wissen sie es nicht, so haben Pannen wie im Irak oder Afghanistan Bestand und setzen sich in Konflikten in Pakistan, Mexiko und Bolivien fort, ohne dass es eine Aussicht gäbe, den Teufelskreis der eigenen Interpretationsmuster verlassen zu können.

Im Kleinen wird die beschriebene Erkenntnis immer mal wieder und partiell schon seit vielen Jahren im internationalen Projektmanagement verwendet. Nach der Beschreibung der Anforderungsprofile an die Fähigkeiten und Fertigkeiten eines Projektteams geht man daran, Kandidaten zu suchen, die die basalen Fähigkeiten in Bezug auf Bildung und Technik mitbringen, um dann in einer zweiten Betrachtung die Harmonie- und Synergiefähigkeiten der jeweiligen Kulturkreise, die sich in dem Projekt versammeln, zu überprüfen.

Und plötzlich erscheint die Komposition unterschiedlicher Kompetenzen aus verschiedenen Kulturkreisen keine leere, mit Appellen behaftete Abstraktion mehr zu sein, sondern ein operationalisierbares Unterfangen. Die Anwendungsgebiete dehnen sich aus und wachsen schneller, als die Kompetenz, die unterschiedlichen Charaktere zur Kooperation zu bringen.