Archiv für den Monat Juni 2018

Komplex und erdrückend

Philip Roth. Ein amerikanisches Idyll

Er war der Sperrige, der sich nicht einflechten ließ in die vielen Paradigmenwechsel, die das späte 20. Jahrhundert bereithielt. Philip Roth hatte ein episches Grundmuster, das seinen vielen Romanen zugrunde lag und das in seiner Biographie begründet war. Immer ging es um den denkbar schwierigen Dialog jüdischer Väter mit ihren sich als Amerikaner fühlenden Söhnen im Bundesstaat New Jersey. Das Frappierende daran war, dass dieses Muster niemals ermüdete, denn in ihm lag und liegt der Schlüssel zu vielem, was bis heute als der amerikanische Traum wie das amerikanische Trauma war. Eine Garantie in der narrativen Struktur dieser Werke gab es jedoch nahezu durchgehend: sie war komplex und forderte auf, sich dieser Komplexität zu stellen. Also keine Lektüre für Inquisitoren!

American Pastoral, oder, wie in deutscher Übersetzung, ein amerikanisches Idyll, birgt alle Qualitäten, die von einem Schriftsteller der Klasse Philip Roths erwartet werden können. Da ist ein Erzähler, der innerhalb des Romans aufgrund einer geschickt inszenierten Rahmenhandlung die Geschichte des eigentlichen Protagonisten unterbreitet, dem famosen Baseballspieler in jungen Jahren, der trotz aller Perspektiven dem Rat des jüdischen Vaters folgt und in dessen Fußstapfen als Besitzer einer Handschuhfabrik tritt. Da ist die von ihm gewählte Frau, ihrerseits irischer Abstammung und ehemalige Schönheitskönigin aus New Jersey. Und da ist die Tochter, in Liebe aufgezogen und mit allem gesegnet, was ein Kind der Upper Middle Class haben kann, das schrecklich stottert, den Vietnamkrieg hasst und als Mörderin endet.

Es ist die unberechenbare Zerstörung des amerikanischen Traumes, welche in diesem Roman Roths stattfindet. Das Perfide an der Konstruktion ist, dass die Protagonisten alle Hindernisse überwinden, um in den sozialen Zustand des Ideals zu geraten, nach dem das ganze Land strebt. Und es ist die unerbittliche Dramaturgie des Lebens, die alles wieder zerstört. Das führt zu inneren Dialogen, die der strahlende ehemalige Baseballstar und erfolgreiche Unternehmer mit sich führt.

Diese Dialoge sind es, die die Würze der Erzählung ausmachen. Die Leserschaft erfährt vieles von dem, was das zeitgenössische Amerika beschäftigt. Da geht es bereits um die Globalisierung der Produktion am Beispiel der Handschuhindustrie, da geht es um den Widerstand gegen den Vietnamkrieg und da geht es um die Konkurrenzen und sozialen Beziehungen innerhalb der Mittelschicht. Und selbstverständlich, sonst wäre es kein Philip Roth, wird das alles gespiegelt sowohl im Kopf des Protagonisten Seymour Levov als auch in dem des jüdischen Vaters, dessen Konservatismus die zeitgenössische Umwelt bereits als Stadium der kulturellen Dekadenz begreift.

Die Lektüre des Romans verlangt Ausdauer und Konzentration. Die Rückblenden und Nebenschauplätze sind einzuordnen, die Ambiguitäten der Charaktere in dem jeweiligen Kontext zu bewerten. Letzteres ist jedoch der Schlüssel, den der Autor der Leserschaft anbietet, um dem Fluch des frühen Urteils zu entgehen. Alle Handelnden haben Motive, nichts entspricht dem guten oder bösen Willen. Das heißt, das Handeln der Menschen ist oft verhängnisvoll, aber die Menschen sind per se nicht schlecht. Das ist eine wichtige Botschaft. Und sie ist, angesichts der aktuellen gesellschaftlichen Krisen und Umwälzungen, etwas, das nicht ernst genug genommen werden kann. Und das ist, wenn es so wirkt, das Signet großer Literatur!

DFB: Mit Zitronen gehandelt!

Als die deutsche Nationalmannschaft vor vier Jahren die Weltmeisterschaft gewann, hatte sich eine jahrelang zu beobachtende positive Entwicklung endlich ausgezahlt. Vorausgegangen war eine mit Ausdauer und Präzision durchgeführte Nachwuchsarbeit, die ihren Erfolg bereits bei der WM 2006 und 2010 abzeichnete. Bei der WM 2010 hätte es bereits mehr sein können, ähnlich wie bei der folgenden EM. Dort waren die entscheidenden Spiele verloren worden, weil Kleinmut und Vorsicht zu einer zu zaghaften Taktik geführt hatten. Dasselbe wiederholte sich bei der EM 2016 in Frankreich. Diese Erfahrungen sind nicht verarbeitet worden. Ganz im Gegenteil, es wurde das konkrete Abschneiden gefeiert, anstatt sich auf das Verpasste, Größere zu konzentrieren.

Es ist immer eine immense Herausforderung, eine Top-Leistung zu wiederholen. Gerade im Augenblick des Zenits stellt sich allerdings die Frage, was zu tun ist, um sich in diesen Regionen weiter zu bewegen. Die Antwort ist kein Mirakel: Weiterentwicklung. Besonders der Confed-Cup im letzten Jahr in Russland war in dieser Hinsicht ein Fingerzeig des Schicksals. Aufgrund einer besonderen Konstellation fuhr das DFB-Team dorthin mit einer komplett anderen, jüngeren Mannschaft und überraschte mit frischem, ideenreichem Fußball und dem Sieg des Turniers. 

Die Konsequenz war genau die falsche. Anstatt darin einen Neuanfang zu sehen, griff der Trainer bei der WM 2028 auf die Kräfte, die nicht von sich aus zurückgetreten waren, zurück. Was folgte, war das Schicksal, das alle Weltmeister der jüngeren Geschichte teilten. Italien, Weltmeister 2006, scheiterte 2010 in der Vorrunde, Spanien, Weltmeister von 2010, scheiterte ebenfalls 2014 in der Vorrunde. Ohne nennenswerte Veränderung wiederholte Deutschland dieses traurige Spiel 2018.

Vor kurzem schrieb eine Bloggerin hier auf der Seite, das Schöne am Fußball sei die Tatsache, dass man gesellschaftliche Entwicklungen dort miterleben könne, ohne dass Menschen ihre Existenz verlören und Blut fließe. Recht hatte sie! Denn das, was mit dem heutigen Ausscheiden in der Vorrunde endete, ist ein Lehrstück für das Versäumnis, Fortschritt nicht als fortgeschritten sein, sondern als Fortschreiten zu begreifen. Wer oben ist, kann tief fallen, wenn er sich nicht der Erfordernis der Veränderung bewusst ist. Aus nichts anderem speist sich die Volksweisheit, dass Hochmut dem Fall vorausgeht.

Die Art und Weise, wie das deutsche Team aus diesem Turnier ausgeschieden ist, dokumentiert genau dieses Versäumnis. Das Festhalten an dem Alten, Bewährten, das die Konkurrenz bis zum Erbrechen studiert hat, lädt dazu ein, die Schwachstellen zu benennen und zu nutzen. Der Spirit, wenn der Begriff in diesem Kontext gar verwendet werden darf, war der einer verängstigten und dennoch bräsigen und selbstverliebten Truppe, die den Kampfgeist und die Bereitschaft, alles zu geben, verloren hatte. 

Das Ende ist folgerichtig. Nicht nur, weil die notwendigen Veränderungen nicht vorgenommen wurden, sondern auch, weil ein Verband, gegen dessen ehemalige Vorstandsriege die Staatsanwaltschaft wegen Korruption ermittelt, derartig weltfremd geworden ist, dass sie dem Cheftrainer noch vor dem Turnier einen neuen Vierjahresvertrag gegeben hatte. Man stelle sich so etwas in einer anderen Organisation vor: Noch vor der Erreichung des Erfolges bereits die Belohnung zuzusprechen! Deutlicher kann der tiefe Fall nicht illustriert werden.

Aber, wie alle, die noch nicht Opfer der Verblendung geworden sind, wissen: Niederlagen haben auch etwas Gutes. Sie legen nahe, dass es höchste Zeit für einen Umbruch ist.

Dunkelmänner im Mittsommer

Es gehört zu den nie zu entschlüsselnden Dramaturgien, dass genau dann, wenn die Gezeiten der nördlichen Halbkugel dem Räsonnement und dem Verweilen ihren Platz zu geben bereit sind, wenn das Jahr den Menschen die längsten Tage beschert und die Sonne das Areal verwöhnt, wenn genau dann sich die Mächte der Dunkelheit verschwören und ihnen entscheidende Schachzüge gelingen. Während sich die menschliche Seele nach Kontemplation und dem Genuss des Daseins an sich hingibt, genau dann schlagen sie zu, die Dunkelmänner. Für sie ist die Zeit gekommen, so glauben sie. Und vieles spricht dafür, dass dies so ist. 

Während sich aus dem heterogenen Gebilde, das sich Europa nennt, die Kräfte durchzusetzen beginnen, die dem alten Nationalismus das Wort reden, wird in der Türkei ein Mann gewählt, der die Machtkonzentration auf seine Person vorher betrieben hat nach dem Regiebuch des deutschen Nationalsozialismus. Schauen Sie genau hin: Die Entmachtung der freien Presse, die Gleichschaltung der Justiz, der Polizei und der Armee und die Eroberung des Bildungssystems entsprechen dem, was im 20. Jahrhundert den Plänen der NSDAP gleichkommt. Und diejenigen, die dafür stehen sollten, die konstitutionelle Demokratie gegen derartige Tendenzen zu verteidigen, haben den Diktator groß gemacht, um sich der Flüchtlinge zu entledigen, die man selbst durch eine unverantwortliche Nahostpolitik auf die Straßen der Flucht gebracht hat.

Der vermeintlich freie Westen ist dabei, mit seiner heuchlerischen Doppelmoral der konstitutionellen Demokratie die Grundlagen zu zerstören. Das ist das bittere Resümee, das in diesen Tagen gezogen werden muss. Nein, kein Verständnis darf diesen Wahnsinn begleiten. Wer Flüchtlinge produziert und sie an den eigenen Grenzen abzuweisen bereit ist und sich die Kompanie eines Diktators sucht, dem ist die Legitimation vor einer demokratischen Öffentlichkeit abhanden gekommen. Da kommt es nur noch zynisch an, wenn das moralische Pathos bemüht wird. Es ist deutlich geworden, dass die Protagonisten, die sich aufschwingen, im Namen eines freien Europas zu sprechen, die Demontage dieser Idee seit langem betreiben. 

Da werden Schiffe mit Flüchtlingen abgewiesen, da ersaufen die Opfer imperialer Einflusskonflikte wie die Katzen im Bach, da wird vom Schutz der Bevölkerung gesprochen, da wird von der Bekämpfung der Fluchtursachen gefaselt und gleichzeitig werden Drohnen gesteuerte Luftschläge gegen die Zivilbevölkerung als eine den Verhältnissen angemessene Methode gepriesen. Es ist derartig verkommen, dass sich die Frage stellt, wieso das alles hingenommen wird von denjenigen, denen von dieser Nomenklatura tatsächlich die Heimat zerstört wird.

Die Menschen in den modernen Zentren dieses so schlitternden Europas definieren ihr Wohlbefinden mit Freizügigkeit, Liberalität und Toleranz. Das ist kein Verdienst irgendwelcher Regierungen,  das ist das Ergebnis einer global gewachsenen Mobilität. Der Wunsch nach Erfüllung dieser Lebensprinzipien existiert, in Istanbul wie in Berlin, in Hamburg wie in Amsterdam, aber auch in Bilbao, Stuttgart oder Livorno. Die Furcht derer, die fern der Zentren leben und sich Szenarien einer Koexistenz der Verschiedenen nicht vorstellen können, wird dazu genutzt, um das Prinzip schlechthin in Frage zu stellen. Das ist das Handwerk der Dunkelmänner, die gerade in Ankara wie in München, in Rom wie in Budapest und Warschau launig auf eine neue Ära anstoßen.

Der Mittsommer währt nicht ewig, und mit seinem Verschwinden verliert das sonnige Gemüt an Kraft. Es wird Zeit, aus diffusem Missmut eine die Lebenspraxis verändernde Kritik zu machen.