Archiv für den Monat Februar 2011

Im Westen nichts Neues

Es scheint so zu sein, dass im Reich der Apologeten und Propagandisten die Frühwarnsysteme nicht allzu gut funktionieren. Schon bei der Implosion des Ostblocks vor zwanzig Jahren mussten wir uns die Augen reiben, als die Hardlinerstaaten des Ostens in sich zusammensackten wie Mehlsäcke bei der letzten Oderüberschwemmung. Kein Geheimdienst, kein politischer Berater, kein Instinkt hatte die Mächtigen im Westen früh genug darauf aufmerksam gemacht, was da auf sie zukommt. Dass dann, als es soweit war, viele von den Ahnungslosen siegessicher vor die Kameras traten und von der Suprematie der Freiheit faselten, ging im Wodka- und Champagnerdunst unter.

Und auch nun, bei der Explosion des islamisch-arabischen und post-kolonialen Staatenbündels schien es nicht so zu sein, als habe man in Berlin, Rom oder Paris eine Ahnung von dem gehabt, was vor der Moscheetür stand. Selbst als die rebellischen Massen längst in die Machtzentralen vorgedrungen waren, pflegte man eine verheerende diplomatie a la routine und bescheinigte den autokratischen Potentaten Berechenbarkeit. Der Schaden, der dadurch angerichtet wurde, ist groß, aber angesichts der wirtschaftlichen Stärke Europas wird man einiges wieder einlenken können. Allerdings sollten wir uns selbst fragen, inwieweit wir noch mit einem System leben wollen, das das volkswirtschaftliche Restvermögen in einem dilettantischen Desastermanagement verschleudert und kein Gespür mehr für die Grundströmungen der Demokratie aufzuweisen scheint.

Spätestens seit dem 11. September 2001 hat sich in der islamischen Welt gewaltig etwas verändert. Während der Westen nur die Signale des Applauses grimmig zur Kenntnis nahm, blendete er die wohl heftigste Diskussion der letzten Jahrzehnte aus. Nicht nur intellektuelle und oppositionelle, sondern auch durchaus traditionalistische Kräfte in den Ländern autoritärer und halb-autoritärer Regime meldeten sich zu Wort und gingen mit dem Fundamentalismus hart ins Gericht. Nicht wenige von ihnen wanderten sogar ins Gefängnis, weil sie die Courage besaßen, auf die Allianz der autokratischen Kräfte in der islamischen Welt mit den Midwest-Fundamentalisten der Bush-Administration hinwiesen. Sie enthüllten eine Interessenverschwörung gegen die Demokratie im Westen und die Menschenrechte im Orient.

Während im Westen nach wie vor von einer Lähmung der oppositionellen, revitalisierenden Bewegungen gesprochen werden muss, hat sich im gesamten Orient eine Revolte etabliert, die die festen Koalitionspartner der westlichen Ölinteressen schachmatt setzt. Wer sich tatsächlich einer demokratischen Welt verschrieben hat, muss darin eine gewaltige Chance der Erneuerung sehen. Der Westen, stattdessen, manövriert sich durch eine Konzeption so genannter Schadensbegrenzung. Damit dokumentieren die gegenwärtigen Regierungen ihre Unfähigkeit, sich zeitnah zurecht zu finden. Ein Dialog mit den Völkern der arabischen Region, so scheint es, gelingt dem Alten Europa nur, wenn es sich demokratisch erneuert.

Der Mikrokosmos Baltimore

The Wire. The Complete HBO Season 1-5.

Im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert versuchten zwei Bewohner der damaligen Weltmetropole Paris, die Komplexität der dortigen Gesellschaft in großen, viele Bände umfasenden Romanzyklen zu erfassen. Der erste war Honoré de Balzac mit seiner fast 40 Bände umfassenden Comedie Humaine, der zweite war Emile Zola mit dem 20 Bände zählenden Werk Rougon Marquard. Beide drangen mit einzelnen Romanen in verschiedene gesellschaftliche Subsysteme vor und die handelnden Personen tauchten immer wieder an anderen und neuen Schnittstellen auf.
Die beiden großen schriftstellerischen Auftaktprojekte der metropolitanen Moderne sollten die einzigen bleiben, die es mit diesem Ansatz versuchten. Zu groß war wohl die Last der Produktion für ein isoliert schreibendes Individuum.

The Wire aus dem Hause HBO hat am Beispiel des heutigen Baltimores das Konzept wieder aufgegriffen und den Versuch durchgeführt, die gesellschaftliche Komplexität einer ehemaligen maritimen Metropole, deren Abstieg bereits Vergangenheit ist, zu erfassen. In den Staffeln 1 bis 5 werden verschiedene Subsystem der urbanen Gesellschaft durchleuchtet, es beginnt mit einem Drogenkartell, geht über die Gewerkschaft zurück zu einer generellen Überlegung der Funktionsweise von Imperien, betrachtet dann die Schulen, um in der letzten Folge bei der Presse zu landen. Den Roten Faden bilden eine Handvoll Polizisten, die gegen die Auswirkungen der Kriminalität ermitteln und in der Wahl ihrer Mittel erfinderisch und skrupellos sind, weil ihnen der legale Rahmen keinen Erfolg ermöglicht. Eskortiert wird ihre Geschichte von korrupten Politikern, die ihre Wahlkämpfe von Drogenbossen bezahlen lassen und einer Justiz, die zwischen Auftrag und politischer Opportunität ins Wanken geraten ist.

Kriminalität als Folge von Arbeitslosigkeit, Armut, Perspektivlosigkeit und miserabler Bildung führt letztendlich dazu, dass die systematische Zerstörung der nachwachsenden Generationen durch Drogenkonsum und Drogenhandel zur einzigen volkswirtschaftlich relevanten Geldquelle einer maroden Stadtgesellschaft wird. So unsäglich die kriminelle Verrohung auch immer wieder erscheinen mag, irgendwie wird man bei der Betrachtung der einzelnen Folgen nie das Gefühl los, einem Schauspiel beizuwohnen, das so fern gar nicht liegen muss. Die Quintessenz mag sein, dass die mögliche politische Steuerung einer wirtschaftlichen Abwärtsentwicklung den kritischen Punkt verschlafen kann, nach dem keine sinnvolle Intervention mehr möglich ist.

Das dramaturgisch ausgewählte Ensemble der Figuren ist nahezu genial, vom versoffenen, manischen irischen Police Officer McNulty über den schwarzen Politdemagogen Davies, den afroamerikanischen Cowboyverschnitt Omar Little, Stringer Bell, den CEO eines Drogenkartells, den es zum Bildungsbürgertum treibt, den jüdischen Anwalt, der die Kartelle abzockt, die Polizistin Kima, die mit ihrer gleichgeschlechtlichen Familie schlingert, Bubbles, der den eigenen, aussichtslosen Kampf gegen die Drogen zu gewinnen scheint, Proposition Joe, den fetten Boss der East Side, der wie viele mit einem Kopfschuss dahin sinkt, die vielen zähen Afroamerikanerinnen, die ihren Weg machen und ihren männlichen Pendants wie ein schlechtes Gewissen die Sicht am Horizont verderben und und und. Großes Kino, mit der Dimension eines vielbändigen Romans.

Die inszenierte Welt von Bodymore

The Wire. Die fünfte Staffel

Mit der insgesamt fünften Variation von Tom Waits Way Down In The Hole kommen die in der bisherigen Dramaturgie gewobenen Handlungsstränge zu einer weiteren Beschleunigung. Zu den Gangsternetzwerken, Polizeifraktionen und politischen Schachspielern gesellt sich jetzt noch die Tagespresse, die einen beträchtlichen Beitrag zu dem tatsächlichen Verlauf der Handlung beiträgt, auch wenn sie ebenso wie alle anderen Lebenswelten knallhart mit dem Schein operiert.

An unterschiedlichen Orten wie aus unterschiedlichen Motiven kommen sowohl Mordermittler McNulty als auch der junge, aufstrebende Journalist Templeton auf die Idee einer inszenierten Mordserie. McNulty wie Templeton wählen sich die Obdachlosenszene zur fiktionalen Implementierung eines Serienkillers aus. McNulty, um Fahrzeuge und Ermittler zur Verfolgung des Drogenbarons und Massenmörders Marlo Stanfield zu bekommen, Templeton , um bei seiner Zeitung The Sun die reißerischsten Storys zu platzieren und Karriere zu machen.

Beide reüssieren mit ihren Täuschungsmanövern, was im ersten Falle dank der großen Dechiffrierungskünste Freamons bei einer Abhöraktion zur Verhaftung Marlos und seiner Komplizen führt und im zweiten Fall, als dass Templeton in der hauseigenen Hierarchie an gestandenen, noch mit einem Berufsethos ausgestatteten Redakteuren vorbeizieht.

Und wieder liefert The Wire diametrale Entwicklungen und Botschaften: Bubbles gelingt der Drogenentzug und die allmähliche Wiedereingliederung ins bürgerliche Leben, der rankünewillige Omar Little, der gestenreiche Cowboy aus dem afroamerikanischen Milieu, wird durch einen Kopfschuss in die ewigen Jagdgründe befördert, ausgelöst von einem Kind vor einem Kiosk, der ausgemusterte Polizist Colvin führt den Sohn eines Drogendealers zu akademischen Würden und behält seine Selbstachtung, der ehemalige Polizist Presbo stabilisiert seine Position als Mathematiklehrer in einer Problemschule und sein ehemaliger Lieblingsschüler, der sich so lange von einer Entwicklung zum Kriminellen fernhalten konnte, hängt zum Schluss doch an der Nadel. Nach der Festnahme des Drogenbosses Marlo bricht dessen Imperium zusammen und die noch epigonal wirkende Nachwelt steckt die neuen Claims ab.

Die Täuschungen McNultys und Freamons fliegen auf, werden aber nicht geahndet, weil Oberbürgermeister Carcetti noch Gouverneur werden will. The Wire bleibt sich von seiner Dramaturgie her treu: Die alten Köpfe werden abgeschnitten wie die Zöpfe und an deren Stelle wachsen neue nach, die das Grundschema aufs Neue bedienen: Verbrechen, Korruption und politische Machtkämpfe bilden ein Konglomerat, das sich nicht mehr eindeutig entflechten lässt. Die Verlierer sind überall, auch wenn es einige Individuen schaffen, sich unbeschadet zu halten. Sie zahlen den hohen Preis der Bedeutungslosigkeit, während andere für kurze Zeit am Firmament erstrahlen, um dann als schwarze Asche auf den Boden zu rieseln. Eine großartige Inszenierung der Inszenierung: Bewegend, schauderhaft, mit liebenswerten Zügen, hässlichen Fratzen und schlummernder Schönheit. Wie das Leben eben.