Archiv für den Monat August 2013

Ein dumpfes Grollen liegt in der Luft

Ein dumpfes Grollen liegt in der Luft. Es dringt von einem Konflikt herüber in die verschiedenen Regionen dieser Welt. Je näher sie am Ort des Geschehens liegen, desto mehr ist der Konflikt sogar zu riechen. Es ist entsetzlich. Vom humanistischen und zivilisatorischen Standpunkt ist es ein Inferno. Angefangen hatte alles mit ein paar Graffitis an einer Schule im syrischen Homs, mit denen Schüler gegen den Herrscher Assad protestiert hatten. Die wurden dann eingesammelt von uniformierten Schergen des Regimes. Kinder wurden gefoltert, was den Protest der Väter und Mütter und dann der ganzen Stadt nach sich zog. Der Konflikt weitete sich allmählich auf das ganze Land aus und er nahm an Komplexität ständig zu.

Zunächst war es ein spontaner Widerstand der Bevölkerung gegen das Regime, dann entstanden oder zeigten sich in beiden Lagern unterschiedliche Gruppen, hier die Schiiten, Aleviten und Christen, dort die Sunniten, Islamisten und Kurden. Zuweilen kämpften sie gegeneinander. Die Opposition bekam Zuwachs aus dem Ausland, eine Internationalisierung eines nunmehr dreijährigen Bürgerkrieges ist festzustellen. In ihn involviert sind Länder wie Saudi-Arabien, Irak, Iran, Israel, Jordanien, die Türkei, Russland und die USA, und, seit einigen Stunden auch noch Ägypten. Schwieriger und komplexer könnte das alles nicht mehr sein und die Gefahr, dass die betroffenen Parteien den Überblick verlieren und ein Fass in die Luft jagen, das noch mehr Explosivität enthält als alle annehmen, wächst stündlich.

Der amerikanische Präsident Obama hatte vor einiger Zeit in einem Interview eine rote Linie benannt. Falls das Regime Assad damit beginne, so Obama damals, Chemiewaffen gegen die Bevölkerung einzusetzen. Sei diese überschritten sehe er die Notwendigkeit, im Namen der Menschenrechte militärisch eingreifen zu müssen. So wie es aussieht, hat Obama mit dem Zynismus des nah-östlichen Autokraten nicht gerechnet. Die chemische Keule zerfetzte tausende Zivilisten. Nun ist guter Rat teuer. Intervenieren die USA militärisch, dann hat vor allem der pazifistisch-defätistische Standpunkt wieder einmal Recht behalten und die USA als Hauptfeind der Menschheit identifiziert. Intervenieren sie nicht, so werden sie als Papiertiger verspottet werden.

Und obwohl die Position des amerikanischen Präsidenten nahezu alle Voraussetzungen eines tragischen Settings erfüllt, geht es nicht um ihn. Es geht um die Syrer, die weder in der einen noch in der anderen Diktatur leben wollen und des Krieges müde sind. An sie denken wenige. Der Westen orientiert sich an seinen Prinzipien und das in sie eigebettete Völkerrecht, während der Nahe Osten seine direkten Lebens- und Überlebensinteressen im Auge hat. So wie es aussieht, werden die Vereinten Nationen und ihr Sicherheitsrat nicht einmal in der praktischen Ächtung von Chemiewaffen einen Konsens erzielen. Das ist beschämend genug. Und es werden die Ideologen, sofern sie weit genug von dem Elend entfernt sind ein Mikado-Spiel vorführen, bei dem sie immer mit ihrer Rechthaberei gewinnen werden.

Die Prognose liegt nahe, dass es keine Lösung für das Schicksal der syrischen Bevölkerung geben wird, die dem Format von Zivilisation, Menschenrechten und Humanität entspräche. Alle politischen Agenden, die momentan ablaufen, haben diese Zielsetzung bereits nicht mehr auf dem Schirm: Nicht Assad, nicht die islamistische Opposition, nicht die Kurden, nicht die Nachbarstaaten, nicht Russland, nicht der Westen. Rechthaberei wie Triumphalismus könnten deplatzierter nicht sein. Demut und Beschämung sollten herrschen. Überall.

Ein letzter enzyklopädischer Blick in die Zukunft

Eric Hobsbawm. Fractured Times. Culture And Society In The Twentieth Century

Mit ihm verabschiedete sich eine der letzten großen Figuren des universalen Gelehrtentums der okzidentalen Sphäre. Eric Hobsbawm, der 1917 im ägyptischen Alexandria mit britischem Pass geboren wurde, seine Kindheit und Jugend in Wien und Berlin verbrachte und dann nach London zog, um eine unbeschreibliche Produktivität als Historiker und Publizist zu entwickeln. Der Marxist, was er übrigens zeit seines Lebens blieb, hinterließ nicht nur drei epochale historische Studien, Europäische Revolutionen: 1789 – 1848, Die Blütezeit des Kapitals. Eine Kulturgeschichte der Jahre 1848 -1875 und Das imperiale Zeitalter 1875 -1914, sondern eben auch Werke über biographische Sonderlinge, kunsthistorische Fragestellungen und den Jazz. Kein Wunder, dass der zudem eloquente Hobsbawm ein gern gesehener Gast auf Festivals und Kongressen war. Nun, nach seinem Tod 2012, erschien sein wohl letztes Buch. Dabei handelt es sich um eine Sammlung von Aufsätzen, Vorlesungen und eben Workshopauftritten alässlich von Festivals zu sehr unterschiedlichen Themen. Unter dem Titel Fractured Times. Culture And Society In The Twentieth Century weht der Leserschaft noch einmal der Geist dieses außergewöhnlichen Intellektuellen entgegen.

In insgesamt vier Kapiteln geht es zunächst um die Bestandsaufnahme der zeitgenössischen Künste mit sehr inspirierenden Prognosen über ihre Entwicklungspotenziale. Dabei besticht vor allem die Analyse der sozialen Daseinsformen für Musik, Literatur und bildende Künste einschließlich der Architektur. Die Bestandsaufnahme der Kultur der bürgerlichen Welt wiederum überzeugt durch das scharfe Auge im Hinblick auf die Kohäsion dieser Kultur. Immer wieder tauchen Aspekte auf, die verblüffen, z.B. Hobsbawms eigenwillige, aber durchaus plausible Erklärungen für die Identifikation der deutschen Juden mit der dieser Nation zugeschriebenen Kultur, die er als Identifikation mit den Möglichkeiten des sozialen Aufstiegs in die bildungsbürgerliche Mittelklasse sieht. Das dritte Kapitel, mit Ungewissheiten, Wissenschaft und Religion überschrieben, befasst sich Hobsbawm gleich mit mehreren essenziellen Fragestellungen: Den Paradigmen der Zukunft (Chance oder Untergang), der Rolle der Intellektuellen, vor allem ihrer Rolle im Magnetfeld der Macht sowie der Künste im Prozess der sozialen Revolution. Und schließlich, im 4. Kapitel, entpuppt sich der immer wieder in ökonomischen Kategorien denkende Historiker noch als ein faszinierender Mythendeuter, indem er sich dem Widerspruch von Pop und Kultur widmet, der in einer nahezu metallischen Symbiose endete und dem Bild des amerikanischen Cowboys, den er als internationalen Mythos entlarvt, der uns jedoch mehr Auskunft über uns selbst gibt als dass er Interessen Dritter verschleierte.

Man muss nicht alle Visionen und Meinungen des Autors teilen, um nicht doch zu dem Urteil zu kommen, dass Menschen mit einer Biographie Eric Hobsbawms zu den großen Geschenken zählen, die der arge Weg der Erkenntnis für die Unermüdlichen parat hat. Von einem Vorposten des Orients, über die Kulturtempel und Politarenen des alten Europas hin zu der untergehenden Schaltzentrale eines historisch überkommenen Empires: Hobsbawm hat die jeweilige intellektuelle Sphäre, die er kulturell durchschritt, in sich aufgesaugt und dem von ihm gewählten Ordnungsprinzip, einer Vorstellung von Aufklärung im Zeitalter der sozialen Gerechtigkeit untergeordnet. Und dieses Prinzip tut gut, es ist ein Leitstern, der nichts Dogmatisches verstrahlt, weil man diesem Urgestein des europäischen Humanismus mit jeder Zeile attestieren muss, dass der Prozess des interessierten Lernens über allem steht. Neben den überaus interessanten Aspekten, die in Fractured Times betrachtet werden, ist es noch die Attitüde dieses Denkers, die schlichtweg ergreifend ist.

Auf dem Grund der Weltgeschichte

Miles Davis. Kind of Blue

In seinem Buch Kind of Blue. Die Geschichte eines Meisterwerks erzählt der Autor Ashley Kahn die Geschichte von einer Party in San Francisco. Die Gäste sind in guter Laune, es geht hoch her und irgendwann ziehen die Unentwegten noch um den Block. Dann schlägt einer der Gruppe vor, noch zu ihm nach Hause zu gehen, um weiter zu machen. Dort angekommen, will einer unbedingt Kind of Blue von Miles Davis hören. Der Gastgeber durchwühlt seine Plattensammlung und stellt bedauernd fest, dass er das Album verliehen hat. Dann sagt ein anderer Gast, kein Problem, verlässt die Wohnung und klingelt bei den Nachbarn. Grinsend kommt er zurück und hat das Album in der Hand! Kind of Blue, der Markstein des modernen Jazz überhaupt, gehört längst zu den Standards metropolitaner Urbanität.

An nur zwei Tagen im Frühjahr 1959, nämlich am 2. März und am 22. April, spielte Miles Davis in einer alten Kirche, die zu einem Studio umgebaut worden war, in Manhattans 30. Straße zusammen mit John Coltrane, Gil Evans, Cannonball Adderley, Paul Chambers und Billy Cobb ein Album ein, das die Jazzgeschichte revolutionieren sollte. Davis zahlte den Mitspielenden streng nach den Tarifen der Musikergewerkschaft pro dreistündiger Session 48,50 Dollar. Nie wieder hat ein derart lapidarer Ansatz weltweit fundamentalere Folgen gehabt wie dieser und nie wieder hat ein Musiker so cool seine Konzeption begründet wie Miles Davis, in dem er sagte, es sei darauf angekommen, so zu spielen, wie es noch nicht gemacht worden war.

Das erste Stück, So What, ist folglich als eine Referenz an die Nonchalance der futuristischen Konzeption zu werten, die durch ihre Einfachheit einfach besticht und in ihrer formalen Beschreibung nicht erahnen lässt, mit welchen Traditionen gebrochen wurde. Bill Evans beschrieb das Stück als eine „einfache Figur, die auf 16 Takten in einer Skala, 8 in einer anderen und noch einmal 8 in einer ersten beruht und an eine Einleitung durch Klavier und Bass in freiem rhythmischen Stil anschließt.“ Der freie rhythmische Stil allerdings, den vor allem Coltrane und Adderley ausfüllen, hat einer Formgebung den Raum verschafft, der bis heute sämtlichen Musikschulnachbarschaften auf dieser Welt den Verstand raubt. Egal, ob bei Freddie Freeloader, Blue in Green, All Blues oder Flamenco Sketches, Evans beschrieb die mathematisch-harmonischen Skelette und überließ den Solisten das Einhauchen eines Lebens, das die Individualität dieser Stücke ausmachte.

Miles Davis war es, der das Ensemble zusammengestellt und er wusste, warum er ausgerechnet diese Musiker zu sich geholt hatte. Bei dem großen Wurf in die Zukunft, der rhythmisch akribisch geplant und von seiner tonalen Formgebung zu Ende gedacht war, kam es nur noch darauf an, mit ästhetischer Qualität und technischer Brillanz die Chuzpe freizusetzen, den Weg zur Vollendung selbst frei zu suchen. Das gelang derartig genial, dass das Projekt den Verlauf annahm, den die Historie ihm heute bescheinigen muss.

Kind of Blue ist in seiner Gesamtheit zu einem globalen Standard geworden, der, egal in welchem sozialen und kulturellen Kontext, die Inspiration der Hörerschaft in ungemein produktive Welten führt. So alt das Album heute ist und sooft man es auch gehört haben mag, es ist nie langweilig oder berechenbar, sondern immer wieder in der Lage, zu verblüffen und zu entführen. Kind of Blue liegt schon lange auf dem Grund der Weltgeschichte, und oben, an den Strömungen des Meeres, kann man seine Konturen immer noch erkennen.