Archiv für den Monat März 2009

An der Themse

Meine schulischen Ergebnisse verbesserten sich und ich näherte mich der Mittleren Reife. Große Aufregung kam auf, als unsere Lehrer und Eltern beschlossen, dass unsere Abschlussfahrt nach London gehen sollte. Das war aus unserer Sicht unglaublich, weil wir mit so etwas nicht gerechnet hatten. London besaß für viele von uns zu jener Zeit eine Ausstrahlung wie keine andere Stadt. Dort war das Zentrum der Rockmusik, dorther kamen die Rolling Stones und The Who, dort wohnten die Beatles, dorther kam die Mode, vor allem natürlich die Miniröcke, die uns zuweilen in verzückte Ekstase und höchste Nöte versetzte. Und nun sollten wir dorthin fahren dürfen. Es war kaum zu glauben. Monate vorher schon verloren wir den Verstand und wurden regelrecht hysterisch. Alles lernte nur noch englische Vokabeln und die wildesten unter uns suchten verzweifelt nach den Wörtern, mit denen sie ihre Gier beschreiben konnten.

Als es soweit war und an die dreißig Jungens im Alter zwischen vierzehn und siebzehn Jahren in Begleitung zweier Lehrer in den Bus stiegen, verabschiedeten uns viele unserer Eltern, als wanderten wir aus nach Übersee. Riesige Fresspakete wurden noch in den Bus nachgereicht, weinende Mütter klopften an die Busfenster und knurrige Väter steckten uns noch Banknoten zu mit Worten wie Macht keinen Unsinn! Ein Vater sagte zu seinem Sohn sogar Hol dir bloß nichts, was sofort zu einem Verzweiflungsaufschrei der nahe stehenden Mütter führte. Als der Bus endlich die Stadt verließ und wir auf der Straße nach Uentrop zur Autobahn war, dachten wir wohl alle, dass vor uns die Welt lag.

Es wurde eine furchtbar lange Fahrt. Wir fuhren bis Oostende in Belgien, gingen dann auf die Fähre. Dort wurde schon ein bisschen heimlich Bier getrunken und die Stimmung wurde immer ausgelassener. Als wir in Dover ankamen und ich in den Zoll kam, begrüßte mich ein stattlicher und sehr freundlicher Beamter in einer blauen Uniform und fragte mich, was ich in Großbritannien wolle. Ich spulte Sätze ab, die ich monatelang in schlaflosen Nächten auswendig gelernt hatte und erzählte ihm, das sei unsere Abschlussfahrt und wir seien auf dem Weg in das unbeschreibliche London, auf das wir uns alle freuten und wir wollten uns soviel ansehen, wie irgend möglich. Er war sehr erfreut und bescheinigte mir, dass ich ein very excellent English spräche, was mir die Brust bis zum Bersten schwellen ließ.

Spät am Abend erreichten wir London und fuhren dennoch über zwei Stunden, bis wir an unserem Quartier ankamen, das in Kensington lag. Da war es still im Bus geworden, weil wir kaum glauben konnten, wie groß diese Stadt war. In unserer Herberge schmissen wir unsere Sachen in die Zimmer und rannten gleich los, um einen Pub zu suchen. Wir fanden auch gleich einen und der erste Abend erfüllte unsere Erwartungen sogleich. Wir sahen schräge Typen und Business People, rauchende Barschlampen und elegante Ladies. Und das alles in einem einzigen Pub, was bei uns unvorstellbar gewesen wäre.

Wir hatten eine Woche Zeit und unsere Lehrer trieben uns durch ein dichtes Programm. Wir sahen die Tower Bridge, den Buckingham Palace, den Trafalgar Square, The Houses of Parliament, Big Ben, den Hyde Park, die Portobello Road, wir besuchten eine Ausstellung im British Museum, in der gerade Tut Anch Amon zu sehen war und wir fuhren nach Greenwich. Abends bekamen wir dann unter strengsten Auflagen frei und manchmal, wenn wir in einen Bluesclub wollten, begleitete uns ein Lehrer. Zweimal gelang es uns und Jopp Ueter, ein ziemlich dicker Knubbel, der immer sehr schnell einen roten Kopf bekam, führte uns in einen Non-Stop-Striptease in Soho.

Der Eintritt betrug ein Pfund und dafür bekam man sogar noch ein Bier. Wir setzten uns ganz dicht an die Bühne und sahen Frauen, die auf die Bühne kamen und sich auszogen, als wollten sie ins Schwimmbad oder seien in der Umkleidekabine eines Kaufhauses. Doch das war uns natürlich völlig egal. Ihre zunehmend nackten, schneeweißen Körper erhielten einen rosigen Teint durch das rote Scheinwerferlicht und wir kämpften mit aller Macht gegen die Auswirkungen des Bluttransfers, der vom Kopf in Richtung Lendengegend stattfand. Jopp Ueter war einer der Tänzerinnen anscheinend schon bekannt und sie stellte sich vor ihn, machte einige laszive Bewegungen und zupfte sich dann ein Schamhaar aus, um es ihm auf den Kopf zu legen. Der Saal tobte und zu Jopps Rettung sah man bei den Scheinwerfern nicht seine knallrote Birne, nur sein unendlich dusselige und bräsiges Grinsen, weil er wohl wirklich meinte, er hätte es der Kleinen, die doppelt so alt war wie er, angetan. Aber es war klar, dass Jopp seitdem der König von Soho war und er zehrte an seinem Weltruhm noch viele Jahre im um Lichtjahre entfernten kleinen Ahlen im Westfälischen.

Als wir die Rückreise antraten, hatten wir eine Welt voller Eindrücke im Gepäck und waren andere Menschen geworden. Wir hatten gesehen, wie entspannt und tolerant es zugehen konnte, obwohl in der Metropole die Probleme alles andere als geringer waren als in unserer wohlbehüteten Provinz.

In mir selbst hatte London etwas ausgelöst, was ich erst viele Jahre später begriff und verarbeitet habe. London vermittelte mir ein Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit, etwas von einem zu Hause-Sein, das bis heute anhält und mir nur wenige Orte in der Welt vermitteln konnte. Nach meiner Schulzeit besuchte ich bis zum heutigen Tage mit Ausnahme meiner Jahre in Asien London fast jährlich, und ich habe den Wandel der Stadt wie meinen eigenen in trauter Zweisamkeit erlebt. Und obwohl wir beide heute ein anderes, sehr verändertes Gesicht haben, sind wir uns nah geblieben, sehr nah. Die Vertrautheit, das Gelassene, die Toleranz und das Weltoffene, all das hat London zu einem Refugium für meine Seele werden lassen und es ist es bis heute geblieben. Und immer, wenn mich mein Weg mal wieder dorthin führt und ich gleich am ersten Abend in einen meiner beliebten Pubs gehe, zum Beispiel den an der Kreuzung in Hammersmith, noch lange bevor ich ein Hotel im Zentrum aufsuche, sitze ich dort, schaue auf die Lichter dieser Großstadt, sehe in die Gesichter dieser Menschen und lese ihre bewegten Geschichten und es ist, ja es ist like coming home.

Die Bestie im Goldfischteich

Natürlich rauchten wir in den Pausen, natürlich knutschten wir mit den Mädels und natürlich tranken wir an den Wochenenden Alkohol. Aber das war es nicht gewesen und hätte Lehrerschaft und Schulleitung nicht entsetzt. Für große Unruhe und Verwirrung hatte etwas anderes gesorgt. Wir hatten einen Lehrer, den die hart gesottenen Jungens aus unserer Klasse einen Faschisten nannten. Sein Name ist unbedeutend. Auch wenn ich damals mit der Bezeichnung nicht viel anfangen konnte, so war auch mir klar, dass dieser Mann die Ausgeburt all dessen war, was ich verabscheute. Er war cholerisch, rechthaberisch, brutal und ungerecht. Vor allem letzteres widerstrebte mir am meisten. Wir kannten ihn als jemanden, vor dem man nicht sicher war. Es konnte immer, egal, was auch passierte, jeden treffen. Und wenn es einen traf, dann mit einer Grausamkeit, die über den physischen Schmerz der harten Schläge hinausging. Mal traf es einen, weil man schlecht vorbereitet war, mal, weil man lachte und ein anderes Mal wieder, weil man nicht lachte. Es war ein Debakel. Mit der Zeit trug dieser Mann dazu bei, dass unsere Klasse näher zusammen rückte. Es war, wie so oft im Leben, dass ein Feind von außen dazu beitrug, die inneren Widersprüche und Animositäten in einem Sozialgefüge zu übertünchen.

Unsere Klasse war von der sozialen Herkunft sehr heterogen, wir hatten Bergarbeiter-, Bauern- und Bürgerkinder und sogar einen Spross aus einer Familie, die man damals als asozial bezeichnete. So gab es zwischen uns immer wieder Auseinandersetzungen, die auf sozialen Gegensätzen beruhten, sei es wegen verfügbarer Mittel, wegen der Kleidung, wegen der Sprache oder wegen der Haltung oder wegen der Werte, über die wir schon verfügten.

Besagter Lehrer hatte die Fähigkeit, das alles in den Hintergrund zu drängen, weil er diese Unterschiede zwischen uns zunichte machte. Er polarisierte, indem er sich als eine Gefahr für uns alle generierte. Hinzu kam, dass viele unserer Eltern auch nicht viel von ihm hielten. Das lag wohl daran, dass er tatsächlich einen politischen Hintergrund hatte, der das Wort vom Faschisten in unseren Klassenraum getragen hatte. Dennoch waren vor allem unsere Väter der Auffassung, dass man einen solchen Lehrer eben ertragen müsse.

Aber es kam, wie es um das Jahr 1970 herum irgendwann kommen musste. Der Mann, der übrigens von uns die Bestie genannt wurde, betrat eines sonnigen Frühlingsmorgens wieder einmal schlecht gelaunt unser Klassenzimmer und es dauerte nicht lange, dass wieder einer von uns nach vorne zum Vorsingen musste. Sein Name war Manfred Klose. Er war aus der Zechensiedlung, sein Vater Bergarbeiter, er selbst eher schmächtig, ein ausgezeichneter Leichtathlet, schnell wie der Wind, ein netter Junge, den alle mochten. Die Bestie fragte ihn ab, und ehe er den ersten Fehler gemacht hatte, schlug dieses Monstrum ihm ins Gesicht, dass es richtig krachte.

Und das Tier setzte nach, fragte weiter, und Manfred, immer leiser und weinerlicher werdend, verhaspelte sich immer mehr, machte Fehler um Fehler, erhielt weitere Schläge ins Gesicht und in die Magengrube, bis er weinte, so herzzerreißend, weil so hilflos. Und dann verstieg sich die Bestie noch dazu, loszuschreien, dass dieses ganze Gequatsche von Chancengleichheit und Bildung für alle alles ein ausgemachter Scheiß sei, was man an der Dummheit dieses Püttvolks doch sähe, und er beschloss diesen Satz mit einem Schwinger an Manfreds Kinnlade.

Wie auf ein Startsignal erhoben sich in diesem Moment die hinteren Reihen unserer Klasse, dort, wo die großen und älteren saßen. Ich weiß es noch genau, als sei es ein Film, den ich mir immer wieder in meinem Leben angesehen habe. Die Helden, die als erste aufstanden waren Rainer Kaderka, Jochen Bohnekamp, Alfred Adamski, und Manfred Krain. Dann folgten Ulli Superniok, Theo Untiedt und Klaus Sünnemann. Allmählich erhoben wir uns alle, strebten, ohne ein Wort zum Mittelgang und gingen Unheil verkündend nach vorne, auf die Bestie zu. Es herrschte Totenstille. Und der Instinkt sagte wohl der Bestie, dass Flucht der einzige Weg war, der ihr blieb. War zunächst alles in Zeitlupe und ohne Ton erfolgt, so zuckte der Uhrzeiger plötzlich ganz schnell: Die Bestie sprang zum Kippfenster, schlug es mit dem angewinkelten rechten Arm hoch und sprang kurzerhand in den vor dem Klassenzimmer liegenden Goldfischteich.

Da unsere Schule aus zwei rechtwinklig zueinander stehenden Gebäuden bestand, die alle auf die Teich- und Grünanlage wiesen, sprangen sehr schnell von überall die Fenster auf und wie in einem Land Südamerikas, das gegen das Joch einer Militärdiktatur aufbegehrt, kam nun aus allen Richtungen ein gellendes Pfeifen, ein Trommeln und Scheppern und johlender Applaus.

Diese Ereignis hatte ungeheure Folgen: Lehrerkonferenzen, Elternbesprechungen, Abmahnungen an die ganze Klasse, wobei ich selbst zu den schlimmeren Fällen gezählt wurde, weil ich als aus mir unerfindlichen Gründen als Rädelsführer gehandelt wurde und man mir wie einigen anderen, nach positiven Interventionen für uns bis hoch zum Stadtdirektor, doch nur mit dem Schulverweis drohte, wenn sich so etwas wiederholte. Wir waren alle noch einmal mit einem blauen Auge davon gekommen, aber wir waren stark geworden. Unsere Klasse war von diesem Zeitpunkt an eine Macht. Die schulische Laufbahn der Bestie war nach diesem Ereignis übrigens beendet.

Auch nach dreieinhalb Jahrzehnten hat dieser Film nichts von seiner Qualität eingebüßt. Wenn ich ihn mir anschaue, erlebe ich jedes Detail noch so intensiv wie beim ersten Mal und mein Puls schlägt wie eine Buschtrommel. Und wenn ich danach in die Hall of Fame gehe, dann stehen sie noch da wie damals, die Jungs, die damals aufgestanden sind, so jung, so mutig und so entschlossen, und ich höre ganz genau, wenn ich ganz nah vor ihren Figuren stehe, wie sie mir mit ihren Stimmbruchstimmen zuflüstern: Die Bestie ham wa ausgestoppt. Musste sein, oder? Und dann lachen sie ganze leise, und heiser.

Die Talfahrt der Eliten

Nun konnten wir wieder alle lesen, was wir bereits wussten: Viele Manager benehmen sich in der Finanzkrise, die maßgeblich mit durch das Verhalten von Managern aus der Finanzbranche forciert wurde so, als hätten sie mit der Krise nichts zu tun. Die Manager der Dresdner Bank, die im Jahr 2008 ein Defizit von mehr als sechs Milliarden verbuchen musste, bewilligten sich 58 Millionen Euro für Boni und Abfindungen. Genau genommen neun dieser Herren. Betrachtet man die Tatsache, dass selbiges Institut aus Steuermitteln gestützt wurde, so haben die Geschädigten der Krise, die in Zukunft durch ihr Steueraufkommen wegen der Krise noch besonders belangt werden, auch noch das Versagen mit belohnt.

Die Wut darüber geht sogar bis in die Parteien, die die Stützungsaktionen mit beschlossen haben. Das kann man sogar glauben und, mehr noch, auch verstehen. Nur sind sie leider auch ein Zeichen der Ohnmacht. Seit der Krise gibt es kaum ein Beispiel dafür, dass die Manager, die an dem Krisenkonstrukt mit verantwortlich zeichnen, in irgend einer Weise eine Art Selbstkritik übten. Der einzige, der dies tat, war der Unternehmer Merkle, der das Ausmaß seiner eigenen Schuld nicht mehr ertrug und sich das Leben nahm. Von angestellten Managern ist kein Beispiel bekannt. Gegenteilige Dreistigkeiten und Impertinenzen stehen jeden Tag in der Zeitung, von Zumwinkel bis zur Dresdner Bank kommt einem das kalte Grauen.

Nun gibt es viele Spekulationen darüber, woran es liegen mag, dass diese so gut bezahlten und mächtigen Funktionäre sich aus der Verantwortung stehlen. Sicher hat es in großem Maße damit zu tun, dass sie nicht mehr die natürlichen Repräsentanten dieser Unternehmen sind, denn dort, wo dieses der Fall ist, wie bei den meisten mittelständischen Unternehmen, findet man in diesen Tagen zahlreiche, sehr bewegende Beispiele dafür, wie verantwortungsvoll man in der Krise mit seiner Aufgabe umgehen kann und wie sehr man von lieb Gewonnenem Abschied nimmt, um Arbeitsplätze zu retten und Verpflichtungen nachzukommen.

Im großen Stil jedoch erlebt man jedoch einen rasanten Niedergang der Eliten, die sich die Backen voll stopfen und sich einen Dreck darum scheren, was aus ihren Wirtschaftsorganisationen wird oder wie sich ihr Verhalten auf den gesellschaftlichen Umgang mit der Krise auswirkt. So generieren sie eine Stimmung, die sehr schnell zum Pulverfass werden kann, weil diejenigen, die Haus, Hof oder Job verlieren, die Welt nicht mehr verstehen und irgendwann ihre anerzogene Mäßigung nicht mehr einsehen werden. Entweder sie lernen dahin gehend, dass sie auch rücksichtslos werden und zur vermeintlichen Selbsthilfe greifen, was verheerend wäre, oder sie werden aufbegehren und rebellisch, was nicht nur verständlich, sondern angesichts derartiger Beispiele auch bitter nötig ist.

Ein typisches Merkmal für Staaten der Dritten Welt oder Schwellenländer ist eine strukturelle Machtlosigkeit ihrer Staatswesen, sich gegen die Verkommenheit ihrer Eliten zu wehren. Meist zahlen diese keine Steuern und saugen an den wenigen Quellen der nationalen Reichtümer, ohne sich für die Entwicklung des Gemeinwesens zu interessieren. Stattdessen ignorieren sie das mühevoll aufgebaute Rechtssystem und die Bemühungen, das Leichengift der Korruption zu bekämpfen. So gesehen, sind wir auf dem besten Weg, uns aus der errungenen Zivilisation zu verabschieden. Unsere Eliten jedenfalls sind zu einem Teil schon Banana Republic!