Meine schulischen Ergebnisse verbesserten sich und ich näherte mich der Mittleren Reife. Große Aufregung kam auf, als unsere Lehrer und Eltern beschlossen, dass unsere Abschlussfahrt nach London gehen sollte. Das war aus unserer Sicht unglaublich, weil wir mit so etwas nicht gerechnet hatten. London besaß für viele von uns zu jener Zeit eine Ausstrahlung wie keine andere Stadt. Dort war das Zentrum der Rockmusik, dorther kamen die Rolling Stones und The Who, dort wohnten die Beatles, dorther kam die Mode, vor allem natürlich die Miniröcke, die uns zuweilen in verzückte Ekstase und höchste Nöte versetzte. Und nun sollten wir dorthin fahren dürfen. Es war kaum zu glauben. Monate vorher schon verloren wir den Verstand und wurden regelrecht hysterisch. Alles lernte nur noch englische Vokabeln und die wildesten unter uns suchten verzweifelt nach den Wörtern, mit denen sie ihre Gier beschreiben konnten.
Als es soweit war und an die dreißig Jungens im Alter zwischen vierzehn und siebzehn Jahren in Begleitung zweier Lehrer in den Bus stiegen, verabschiedeten uns viele unserer Eltern, als wanderten wir aus nach Übersee. Riesige Fresspakete wurden noch in den Bus nachgereicht, weinende Mütter klopften an die Busfenster und knurrige Väter steckten uns noch Banknoten zu mit Worten wie Macht keinen Unsinn! Ein Vater sagte zu seinem Sohn sogar Hol dir bloß nichts, was sofort zu einem Verzweiflungsaufschrei der nahe stehenden Mütter führte. Als der Bus endlich die Stadt verließ und wir auf der Straße nach Uentrop zur Autobahn war, dachten wir wohl alle, dass vor uns die Welt lag.
Es wurde eine furchtbar lange Fahrt. Wir fuhren bis Oostende in Belgien, gingen dann auf die Fähre. Dort wurde schon ein bisschen heimlich Bier getrunken und die Stimmung wurde immer ausgelassener. Als wir in Dover ankamen und ich in den Zoll kam, begrüßte mich ein stattlicher und sehr freundlicher Beamter in einer blauen Uniform und fragte mich, was ich in Großbritannien wolle. Ich spulte Sätze ab, die ich monatelang in schlaflosen Nächten auswendig gelernt hatte und erzählte ihm, das sei unsere Abschlussfahrt und wir seien auf dem Weg in das unbeschreibliche London, auf das wir uns alle freuten und wir wollten uns soviel ansehen, wie irgend möglich. Er war sehr erfreut und bescheinigte mir, dass ich ein very excellent English spräche, was mir die Brust bis zum Bersten schwellen ließ.
Spät am Abend erreichten wir London und fuhren dennoch über zwei Stunden, bis wir an unserem Quartier ankamen, das in Kensington lag. Da war es still im Bus geworden, weil wir kaum glauben konnten, wie groß diese Stadt war. In unserer Herberge schmissen wir unsere Sachen in die Zimmer und rannten gleich los, um einen Pub zu suchen. Wir fanden auch gleich einen und der erste Abend erfüllte unsere Erwartungen sogleich. Wir sahen schräge Typen und Business People, rauchende Barschlampen und elegante Ladies. Und das alles in einem einzigen Pub, was bei uns unvorstellbar gewesen wäre.
Wir hatten eine Woche Zeit und unsere Lehrer trieben uns durch ein dichtes Programm. Wir sahen die Tower Bridge, den Buckingham Palace, den Trafalgar Square, The Houses of Parliament, Big Ben, den Hyde Park, die Portobello Road, wir besuchten eine Ausstellung im British Museum, in der gerade Tut Anch Amon zu sehen war und wir fuhren nach Greenwich. Abends bekamen wir dann unter strengsten Auflagen frei und manchmal, wenn wir in einen Bluesclub wollten, begleitete uns ein Lehrer. Zweimal gelang es uns und Jopp Ueter, ein ziemlich dicker Knubbel, der immer sehr schnell einen roten Kopf bekam, führte uns in einen Non-Stop-Striptease in Soho.
Der Eintritt betrug ein Pfund und dafür bekam man sogar noch ein Bier. Wir setzten uns ganz dicht an die Bühne und sahen Frauen, die auf die Bühne kamen und sich auszogen, als wollten sie ins Schwimmbad oder seien in der Umkleidekabine eines Kaufhauses. Doch das war uns natürlich völlig egal. Ihre zunehmend nackten, schneeweißen Körper erhielten einen rosigen Teint durch das rote Scheinwerferlicht und wir kämpften mit aller Macht gegen die Auswirkungen des Bluttransfers, der vom Kopf in Richtung Lendengegend stattfand. Jopp Ueter war einer der Tänzerinnen anscheinend schon bekannt und sie stellte sich vor ihn, machte einige laszive Bewegungen und zupfte sich dann ein Schamhaar aus, um es ihm auf den Kopf zu legen. Der Saal tobte und zu Jopps Rettung sah man bei den Scheinwerfern nicht seine knallrote Birne, nur sein unendlich dusselige und bräsiges Grinsen, weil er wohl wirklich meinte, er hätte es der Kleinen, die doppelt so alt war wie er, angetan. Aber es war klar, dass Jopp seitdem der König von Soho war und er zehrte an seinem Weltruhm noch viele Jahre im um Lichtjahre entfernten kleinen Ahlen im Westfälischen.
Als wir die Rückreise antraten, hatten wir eine Welt voller Eindrücke im Gepäck und waren andere Menschen geworden. Wir hatten gesehen, wie entspannt und tolerant es zugehen konnte, obwohl in der Metropole die Probleme alles andere als geringer waren als in unserer wohlbehüteten Provinz.
In mir selbst hatte London etwas ausgelöst, was ich erst viele Jahre später begriff und verarbeitet habe. London vermittelte mir ein Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit, etwas von einem zu Hause-Sein, das bis heute anhält und mir nur wenige Orte in der Welt vermitteln konnte. Nach meiner Schulzeit besuchte ich bis zum heutigen Tage mit Ausnahme meiner Jahre in Asien London fast jährlich, und ich habe den Wandel der Stadt wie meinen eigenen in trauter Zweisamkeit erlebt. Und obwohl wir beide heute ein anderes, sehr verändertes Gesicht haben, sind wir uns nah geblieben, sehr nah. Die Vertrautheit, das Gelassene, die Toleranz und das Weltoffene, all das hat London zu einem Refugium für meine Seele werden lassen und es ist es bis heute geblieben. Und immer, wenn mich mein Weg mal wieder dorthin führt und ich gleich am ersten Abend in einen meiner beliebten Pubs gehe, zum Beispiel den an der Kreuzung in Hammersmith, noch lange bevor ich ein Hotel im Zentrum aufsuche, sitze ich dort, schaue auf die Lichter dieser Großstadt, sehe in die Gesichter dieser Menschen und lese ihre bewegten Geschichten und es ist, ja es ist like coming home.
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