Archiv für den Monat September 2009

Rhetorik ohne Wesen

Als der ob seiner Anlagen sehr viel versprechende Cicero von seinem Vater nach Griechenland geschickt wurde, um das Reden zu lernen, fuhr er dorthin mit der Zweckbestimmtheit eines Römers, der weiß, was er will. Er suchte die großen Rhetoriklehrer seiner Zeit auf und verschaffte sich einen Eindruck, indem er in den großen Rhetorikschulen jeweils einige Wochen hospitierte, bis er deren Wesen zu erkennen glaubte. Letztendlich war ihm die Griechische Schule zu manieriert und artifiziell, oder, wie Cicero das nannte, zu parfümiert. Als letzte Station suchte er sich Rhodos aus, wo der Römer Apollonius Molon eine renommierte Schule betrieb. Dort blieb er und war erstaunt über das, was Molon ihn lehrte. Als erstes stopfte dieser den schlaksigen Cicero mit Eiern und Sardinen voll und ließ ihn wochenlang Gewicht zulegen, dass er durch sportliche Aktivitäten in Muskulatur verwandelte. Er bestieg mit ihm Berge in der Mittagshitze und ließ ihn dabei erzählen, damit er seine Atmung kontrollierte, er stelle ihn vor die Meeresbrandung und ließ ihn schreien. Molon Verstand sein Handwerk. Der junge Cicero wurde zunehmend ungeduldiger und wollte wissen, wann er denn endlich lerne, gute Reden zu halten. Als Molon glaubte, der Zeitpunkt sei gekommen, erschien Cicero mit Aufzeichnungen, an denen er lange gefeilt hatte und wollte mit seiner ersten Rede seinen Lehrer beeindrucken. Doch dieser nahm ihm schlichtweg die Aufzeichnungen aus der Hand und warf sie weg. Molon nahm den entsetzten Cicero am Arm und ging mit ihm in eine Villa. Er forderte seinen Schüler auf, sich die Architektur und die Anordnung der Räume genau zu merken. Anhand dieser Architektur solle er im Kopf seine Rede konzipieren und sie dann frei halten.

Zumindest die Niederschriften von Ciceros Reden, die uns bis in die Schulen unserer heutigen Zeit verfolgen, lassen ahnen, wie außergewöhnlich die Disziplin der Rhetorik ausgebildet gewesen sein muss. Es handelte sich um eine Qualität, die bestach durch Klarheit, Ordnung, Maß, Physik, Logik, Vernunft, Anspruch, Nachdenklichkeit und Metaphorik. Und wohl dem, der die Gelegenheit hat, an dieser längst in die Vergessenheit geratenen Hohen Kunst durch die Literatur teilzuhaben. Und diesen Glücklichen sei geraten, sich die Reden derer genau anzuhören, die heute wie Cicero im politischen Geschäft sind und uns Menschen der Neuzeit zu werben und zu überzeugen suchen. Da verbleibt, bis auf wenige Ausnahmen, nicht viel von der Eigenschaft der Rede, nach der man dürstet und die durch ihre Qualität fasziniert. Stattdessen hagelt es Appelle an die niedrigen intellektuellen Instinkte, an das Phlegma und den Müßiggang. Unter dem Vorwand des Verständnisproblems wird das Auditorium zu einer dumpfen Masse abgewertet, der man nichts zumuten könne, weil sie es sonst nicht begreife. Dabei suchen die mäßigen Sprecher ihre Lauheit unter diesem Argument zu verbergen.

Der Bildungsgrad der Adressaten einer guten Rede steigt mit dem Anspruch. Und das Interesse am Subjekt steigert ihren Willen zuzuhören. Wer etwas Spannendes zu erzählen hat, dem hören die Menschen zu. Und wer das auch noch gut macht, dem hören sie noch lieber zu. Das Volk ist nicht die Ursache für eine Rhetorik ohne Wesen.

„Soviel Anfang war nie…“

Die oft zitierte Zeile Hölderlins hat in vielerlei Hinsicht einen Abnutzungsgrad erreicht, was nicht an der spirituellen Kreativität des Autors liegt. Immer, wenn die rationale Analyse nach einem Desaster schwer fällt, wird der deutsche Gigant einer Poesie bemüht, die ihre Kreativität aus den unbegrenzten Speichern von Verzweiflung und Einsamkeit bezog. Wenn politische Parteien gar Hölderlin bemühen, wird es meist sogar peinlich. Aber darum geht es nicht. Erstens hat dieses keine Partei nach der Wahl gemacht und zweitens trifft die Unbegrenztheit des Neuanfangs auch gar nicht auf die deutsche Politik nach der Wahl zu. Bis auf eine Ausnahme!

Mit der Bestätigung der Bundeskanzlerin durch eine neue Koalition unter Miteinbeziehung der Liberalen wird sich die Politik nicht grundsätzlich ändern. Der Begriff der Leistung wird mehr bemüht, der der Gerechtigkeit kaum noch erwähnt werden, was das Regierungslager anbetrifft. Deutlich ist aber auch, dass die Kanzlerin ihre eigene Sozialdemokratisierung nicht ablegen wird, weil sie weiß, dass sie sonst dem sicherlich wachsenden Druck auf der Straße nicht wird standhalten können. Und ein neuer Vizekanzler wird sich hüten, als puristischer Neoliberalist oder exklusiver Vertreter der Apothekervereinigung aufzutreten. Ein Retro des alten FDP-Profils brächte ein promptes Zurückschnellen bei der Wählergunst. Interessant kann die Kombination von Kanzlerin und Vizekanzler dadurch werden, als dass sich der Wille zur schnellen Aktion und der Instrumentalisierung des Phlegma als Mittel der Politik eigentlich ausschließen beziehungsweise Psychoströme freisetzen wird, die es in sich haben können.

Linke und Grüne sahen sich und ihre Politik durch die Wahlergebnisse bestätigt und werden sich daher wohl kaum dazu bemüßigt fühlen, ihre politische Programmatik auf den Prüfstand zu stellen. Die einzige Partei, die dazu verurteilt ist, die Wechselbank vor dem eigenen Haus zu zerschlagen und ein klagevolles Bancarotta in den Himmel zu schreien, ist die SPD. Sie erlebt im Moment nicht nur ihr historisches Tief, sondern sie ist in ihrer historischen Form am Ende. Entstanden als Machtzentrum der Unterdrückten und Mittellosen, hat sie eine lange Entwicklung der Emanzipation durchlaufen und ihre kritischen Reibungen immer in dann erlebt, wenn sie in der Regierungsverantwortung war. Dann schlugen sofort die bedingten Reflexe der Strukturopposition im eigenen Lager aus und es tat der Partei nie gut, wenn sie Dinge mitgestaltete, die aus Sicht vieler nie die Dinge der Entrechteten sein konnten.

Die historische Chance der SPD besteht darin, den immer wieder stechenden Widerspruch aufzulösen, d.h. sich als Gestaltungskraft zu etablieren, die Verantwortung für die Zukunft eines ganzen Landes übernimmt ohne das ständige Gejaule der vermeintlichen Underdogs. Es besteht aber ebenso die Möglichkeit, dass diese Partei sich in einer nostalgischen Gemütsbewegung denjenigen zuwendet, die aus historischen Prozessen prinzipiell nichts lernen wollen. Dann wäre das Ende jedoch schneller manifest, als es die Witwe Brandt bereits vor einem Jahr prophezeite. Das große Portal des Anfangs wird dann wohl der ebenso viel zitierte Eingang in die Unterwelt werden.

Das Volk mag sich nicht im Spiegel sehen!

Der Verdruss des Volkes über seine Regierung und die Klasse der Politiker ist seit langem evident. Das wird sich auch nach der Auszählung der Wahlergebnisse nicht ändern. Verständlich ist die Unzufriedenheit angesichts der Journale der letzten Regierungszeit nicht. Die Abgehobenheit von den tatsächlichen Bedürfnissen der Bevölkerung, die strategische Armseligkeit im Hinblick auf die Zukunft, die Verlorenheit im Detail, die Scheingefechte an Gegebenheiten, die mit dem Großen Ganzen wenig zu tun haben, die Schamlosigkeit, mit der oft gelogen wird, das Manövrieren und Taktieren, die Langeweile und das Mittelmaß, all das sind Dinge, die nicht dazu angetan sind, sich hoffnungsvoll neuen Herausforderungen zu stellen und das Schicksal des Landes zu gestalten.

In der gesellschaftlichen Diskussion um die Zustände entsteht der Eindruck, als hätten wir auf der einen Seite das redliche, ehrenwerte und stets betrogene Volk und auf der anderen Seite eine degenerierte und dekadente Politikerklasse, die nur nach dem eigenen Nutzen wirtschaftet und sich einen feuchten Kehricht um die Belange des Volkes schert. Da es sich bei der Politik um einen dynamischen Prozess handelt, der zumindest in den bürgerlichen konstitutionellen Demokratien lebt von der Wechselwirkung des Diskurses und in bestimmten Sequenzen evaluiert wird durch freie, gleiche und geheime Wahlen, scheint sich eine Wahrnehmung eingeschlichen zu haben, die sich vor allem nährt aus der Einschätzung, man gäbe die Verantwortung für die Geschicke des Landes exklusiv ab an Leute, denen man sowieso nicht traut. Es dokumentiert nicht die Reife, die seit der Großen Französischen Revolution der Rolle des Citoyens, des selbstbewussten und selbstreflexiven Bürgers, zugedacht ist. Von ihm nämlich soll die Gewalt ausgehen, die das Geschick des Landes gestaltet. Und nur wenn das Staatsbürgertum die Mittel der Analyse beherrscht und couragiert gewillt ist, konsequent in den Prozess der Politik einzugreifen, hat das Gemeinwesen eine Chance, dass der Wille des Souveräns umgesetzt wird.

Weder emotional noch intellektuell scheinen sich in unserem Land die Kräfte durchsetzen zu können, die das Wesen der Demokratie in dem beschriebenen Sinne verstehen. Im Gegensatz dazu sind große Teile der Bevölkerung darin geübt, an der Durchsetzung ihrer Partikularinteressen zu arbeiten, an der Doppelbödigkeit ihrer egoistisch getriebenen Politik zu feilen und diese mit Mechanismen durchzusetzen, die im öffentlichen Diskurs alle so anwidern. Missgunst, Neid, Ekel und Schuldkomplexe sind die Folge einer klein gemusterten Strategie, sich aus der Verantwortung für das Ganze zu stehlen. Die moralische Entrüstung ist das einzige Schaumbad der Euphorie, das da noch bleibt.

Die Komplexität der Welt, in der wir leben, lässt es nicht zu, mit einfachen Formeln das eigene Muster der Verweigerung zu propagieren. Jeder Mensch hat in einem Gemeinwesen die Möglichkeit, aufzustehen, wenn es nötig ist, einzugreifen, wenn es sinnvoll ist und für Ideen zu werben, wenn sie vernünftig sind. Wer dieses nicht einsieht, dem entgeht, dass er beim Anblick der Politik, die ihn so verdrießt, vor dem eigenen Spiegel steht.