Archiv für den Monat Mai 2020

USA. On. Fire.

Manchmal ist es der berühmte Funke. Auch diesmal hat er einen Flächenbrand verursacht. Minneapolis. Eine eher als Routine zu bezeichnende Polizeikontrolle war der Auslöser. Der zu Kontrollierende, aus welchem Grunde auch immer, George Floyd, wurde von drei Polizisten auf den Boden gezwungen, einer von ihnen kniete sich auf dessen Hals und trotz der Bitten des flach auf dem Boden Liegenden, er könne nicht atmen, wurde die brutale Unterwerfungsgeste beibehalten, bis der Mann tot war. Dass es sich um einen Afroamerikaner handelte, passte in eine Serie, die seit Jahren zu beobachten ist. Dennoch war das der erwähnte Funke, der überschlug.

Wer wissen möchte, was seitdem in den USA vonstatten geht, dem sei empfohlen, sich die ununterbrochenen Berichte auf CNN anzuschauen. Der Sender selbst ist in besonderer Weise betroffen, weil vor zwei Tagen auch vor seinem Gebäude in Atlanta gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Demonstranten stattgefunden haben. In den großen Städten der USA ist ein Protest entbrannt, der in den hiesigen Medien zumeist als Aufschrei der schwarzen Communities charakterisiert wird, was nicht den Tatsachen entspricht. Seit fünf Nächten, in mehr als 30 Städten, und wir sprechen hier von Chicago, New York, Boston, Oakland, Los Angeles, Dallas, Houston, Tulsa, Minneapolis, St. Paul, Miami, Philadelphia, also Städte sehr unterschiedlicher Ethno- und Sozialstruktur, wird in allen Berichten von der großen Diversität der Protestierenden gesprochen. 

Große Teile der Gesellschaft schließen sich derzeit in einem Aufbegehren zusammen, das auf mehr zielt als auf auftretenden weißen Polizeiterror gegen Schwarze. Auch wenn eine Koinzidenz festzustellen ist: Das Zentrum des Impulses sind zumeist tatsächlich die schwarzen Communities. Und die Ursache wird in den CNN-Berichten auch offen benannt. Neben dem rassistischen Aspekt spielen die auch mit dem Sozialstatus der Afroamerikaner korrespondierenden Todesraten bei der Covid 19-Epidemie eine große Rolle. Vor allem Afroamerikaner sind aus wirtschaftlichen Gründen nicht in der Lage, sich in einer Weise zu versichern, dass eine adäquate Krankenhausbehandlung abgedeckt wäre. Wie ein Beschleuniger hat die Ausbreitung des Virus gezeigt, wo die Risse in der amerikanischen Gesellschaft zu suchen sind. Vor allem sind es soziale Risse, die zeitweise deckungsgleich mit denen der jeweiligen Ethnie sind.

Das Gemisch, das die wuchtige Protestbewegung derzeit ausmacht, hat Potenzial. Es handelt sich um eine bürgerrechtliche Auflehnung gegen rassistische Polizeigewalt, es handelt sich um eine anti-diskriminatorische Erhebung der Afroamerikaner und es handelt sich um eine soziale Erhebung gegen die ultrakapitalistischen Lebensbedingungen, die sich vor allem im Gesundheitssystem gezeigt haben und zeigen. Wer daran zweifelt, dem seien die Bilder von Hart Island zu New York empfohlen, wo derzeit die vielen mittellosen Toten in anonymen Massengräbern verscharrt werden. Letzteres hat übrigens dazu geführt, dass in New York der Protest als Folge des Todes von George Floyd an die Beschreibung einer Volksfront reicht. 

In diesem Gemisch vertraut der derzeitige Präsident exklusiv auf die Staatsgewalt. Der bisherige Einsatz der Nationalgarde hat bereits historische Ausmaße. Sollte das nicht ausreichen, so hatte der nicht nur mediale Maniak verlauten lassen, so sende er Militär hinzu, was mittlerweile geschehen ist. So, wie es aussieht, lässt sich die Flamme nicht mehr austreten. Der Protest, so wie er sich gegenwärtig generiert, dokumentiert auch das Dilemma, in dem sich das politische System der USA befindet. Eine Alternative zu allem, was Präsident Trump repräsentiert, ist in Joe Biden nicht zu sehen. Die Demokraten haben wieder einmal eine historische Chance verpasst. Sie scheinen sich nicht mehr gemäß der veränderten gesellschaftlichen Strukturen anpassen zu können, genauso wenig wie die Republikaner. Und in den Kommunen scheint sich eine neue Stimme herauszubilden. Auch das kann man sich in den Reportagen anhören. Da kommen Bürgermeisterinnen und Bürgermeister zu Wort, die über eine Qualität verfügen, die die Menschen zu erreichen vermögen. USA. On. Fire. Da tut sich was.   

Mein Kioskmann und der Manchester-Kapitalismus

Er tobte. So hatte ich ihn noch nie erlebt. Der Mann, der den Zeitschriften- und Tabakkiosk in meiner Straße führt. Ich müsste nicht zu ihm, Zeitungen, physisch, lese ich seit langem nicht mehr und die Zigarillos, die ich bei ihm kaufe, sind woanders besser befeuchtet. Aber gerade weil dort unterschiedliche Menschen ein- und ausgehen, treibt es mich immer wieder dorthin. Dort spricht die Straße. Der Pächter, von dem hier die Rede ist, moderiert normalerweise. Wie das kluge Geschäftsleute meistens tun, exponiert er sich nicht mit seiner Meinung, sondern er hört zu, und wenn manche Kunden aneinandergeraten, dann sucht er zu vermitteln. Doch gestern war alles anders. Der gute Mann war außer sich. Und er griff auch zu Worten, wie ich sie von ihm noch nicht gehört hatte.

Worum ging es? Ich fragte ihn, und mit viel Geduld und gezielter Nachfrage bekam ich es heraus. Er hatte gelesen, dass Firmen die Krise nun dazu nutzten, einerseits Hilfsgelder von Staat und EU zu bekommen, um den Shutdown irgendwie zu überleben, und andererseits in großem Rahmen ihre Belegschaften kündigten, um sich von renitenten, missliebigen und kritischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zu trennen. Und den Rest, den sie in diesem Zug mit gekündigt hatten, stellten sie danach wieder zu schlechteren Bedingungen ein. „Diese Brut“, schrie der Kioskmann, „man sollte sie an einer langen Kette zum Arbeiten in den Steinbruch schicken!“ Sein Tag war gelaufen, und zu beruhigen war er nicht.

Das kleine Erlebnis ist kein Zufall. Es macht deutlich, was die Stunde geschlagen hat. Die Zeit der wohlmeinenden Träumereien, die bei Sozialdiät und Quarantäne entstanden, ist vorbei. Das, was „wir“ alles aus der Corona-Krise lernen können, ist bei denen geblieben, die nie das Problem waren. Die Problemerzeuger hingegen sind die gleichen geblieben. Die Abzocker, die Kriegsgewinnler, die Steuerhinterzieher und Subventionsräuber wittern nicht nur Morgenluft, sondern sie sind bereits aktiv und stürzen sich auf die bereit gestellten Hilfstöpfe. Mit ihren gut ausgebildeten und professionell agierenden Rechtsabteilungen sprechen sie bei den staatlichen Institutionen und Bankhäusern vor, die die aus Steuermitteln generierten Hilfstöpfe verwalten und holen sich Subventionen und Kredite, dass die Schwarte kracht. Gleichzeitig trennen sie sich von allem, was nicht mehr rentabel war. Tausende und Abertausende stehen vor der Arbeitslosigkeit und das Ausmaß dessen, was an wirtschaftlichem wie gesellschaftlichem Schaden noch folgen wird, ist kaum seriös zu beziffern. 

In diesem Übergangsstadium zeigt sich, wie ein Großteil der so genannten freien Wirtschaft sich das Marktregulativ vorstellt. Was da zum Teil zu erleben ist, kann als eine mächtige Renaissance des Manchester-Kapitalismus bezeichnet werden. Obwohl es verantwortungsvolle und auch weitsichtige Unternehmen gibt, die anders handeln und mit ihren Belegschaften Pläne für die Zukunft entwickeln, sind es gerade die großen, vermeintlich systemrelevanten Betriebe und Organisationen, die sich so aufführen wie in den Zeiten, als die Arbeitskräfte noch mit Peitschen an ihre Arbeitsplätze geleitet wurden. Es ist so, wie es viele nie glauben wollten: Der Urtrieb des Kapitalismus, ein Maximum an Gewinn aus der Ausbeutung von Mensch und Ressource herauszuholen, zeigt sich in Krisen in seiner ganzen Schönheit und Klarheit.

Da fallen alle Illusionen von der schön erstellten Galerie und der Kioskmann ruft dazu auf, Barrikaden zu errichten. Recht hat er. Was aus den wohlmeinenden Appellen an die Vernunft wird, sehen wir zur Zeit in ihrer ganzen Armut.