Archiv für den Monat Mai 2015

Gewaltige Emotionen und die Broker des Fußballs

Betrachten wir es kalt. Der Fußball ist ein Genre mit vielen Emotionen. Und gerade wenn sich die Ereignisse häufen oder Dinge passieren, die viele in intensive Gefühlswelten katapultieren, ist es angebracht, kühlen Kopfes mit dem Sezierbesteck zu Werke zu gehen. Nach der letzten Nacht liegen aufregende Tage hinter uns. Ein Weltverband, der aus den Fugen geraten ist und ein deutsches Pokalfinale. Die letzten Relegationsspiele stehen noch an und auch dort kann es passieren, dass gewaltige Fußballtraditionen in untere Klassen verwiesen werden.

Das Finale in Berlin war keine klare Sache. Dortmund begann couragiert und ideenreich, führte früh und verlor erst dann, als Marco Reus das 2:0 nicht gelang. Es war der Drehpunkt des Spiels. Die Dortmunder Verzweiflung über nicht genutzte Chancen führte zu Wolfsburger Toren, die brillant ausgeführt wurden, aber nur aufgrund von Fehlern der Dortmunder Abwehr möglich waren. Das 3:1 zur Halbzeit war auch der Endstand. In der zweiten Hälfte wurde dann deutlich, wie verbrannt die Ideen des scheidenden Trainers Jürgen Klopp zumindest in den Köpfen der eigenen Spieler sind. Sie traten nicht mehr auf wie ein Ensemble, das es noch reißen will. Der Sieg für den Konzernverein Wolfsburg ging in Ordnung. Der Trend zu derartigen Vereinen nicht. Dass es für Klopp Zeit war zu gehen, zeigte sich nach dem Spiel. Kein Trainer mit einem derartigen Kultstatus tut einer Mannschaft gut. Das vielleicht auch die Lehre aus dem Ganzen: Trainer müssen die Entscheidung treffen zwischen Selbstinszenierung und Sich-in den-Dienst-Stellen. Durch seine Entertainment-Qualitäten hat sich Klopp von der Mannschaft isoliert. Aber sieben Jahre haben dennoch sehr viel bewegt, und sie waren von Erfolg geprägt. 

FIFA heißt Schauderwort, mit dem medial gepunktet wird. Ja Donnerschlag, war bei den Enthüllungen, die die amerikanische Staatsanwaltschaft bis dato vorgelegt hat, irgend etwas Neues? Dass das Präsidium mit den Mitteln von Korruption, Kollusion und Nepotismus arbeitet, ist seit langem jedem bewusst, der das Geschäft des Fußball verfolgt. Und dass die europäischen Verbände nicht ihre Macht einsetzen, um diese Verhältnisse zu beenden, spricht für sich. Personell sind sie zum Teil Bestandteil des Systems. Sie sollen nicht so tun, als seien sie empört. Immer wieder grandios sind zum Beispiel die Statements des medialen Kaisers Franz Beckenbauer. Hatte er in der Vergangenheit bereits in Katar keine Sklaven in seinen gekühlten Luxussuiten gesichtet, so verteidigte er gestern noch die FIFA gegen die zahnlose Kritik der UEFFA. Da ist Vorsicht geboten. Wenn der Hoeneß freikommt, sitzt vielleicht der Franz. Und Platinis Sohn hat schon einen Posten in Katar. Alles wunderbar.

Zu kritisieren sind die europäischen Institutionen, die nichts bewirkt haben gegen dieses kriminelle Milieu. Dass nun ausgerechnet US-amerikanische Ermittlungsbehörden aufkreuzen, scheint allerdings auch kein Zufall zu sein. Zu schnell und zu deutlich wurde bei der ganzen Sache die Vergabe der nächsten WM an Russland und die danach an Katar in den Fokus gestellt. Wenn es darum geht, die nächste WM in Russland zu verhindern, dann ist die ganze Nummer ebenso perfide wie die Methoden eines Sepp Blatter. Die Rufe nach der Selbsterneuerung des Fußballs, die nun durch den Äther hallen, sind ziemlich scheinheilig. Nähmen wir, die Aficionados, sie ernst, dann verzichteten wir einfach mal ein, zwei Jahre auf den ganzen Rummel. Das halten wir genauso aus wie der Fußball selbst, nur dessen verkommene Broker, die bissen ins Gras.  

Virtuelle Kriegsräte und kulturelle Identitäten

Im globalen Sturm, der über die Gesellschaften zieht, trifft es die Gemeinwesen der unterschiedlichen Kulturen nicht gleichermaßen. Wir Europäer neigen dazu, uns die Welt nach unserem Bilde zu denken. Die unterschiedlichen Kulturen und aus ihr erwachsenen Zivilisationen haben sich nicht nach einem identischen Muster herausgebildet. Gerade daraus resultieren auch die Missverständnisse im Umgang miteinander. Jeder zivilisatorische Kontext verleitet zu einem Denken, das diesem entspringt. Viele Gesellschaften und die staatliche Organisationen, die sich aus ihnen ableiten, sind nicht vergleichbar mit den Ursprüngen der bürgerlichen Organisation, wie wir sie auch nur in Teilen Europas vorfinden.

Die Varietät gesellschaftlicher und staatlicher Organisation ist enorm und keine könnte für sich beanspruchen, die Blaupause für einen einzigen Gesellschaftsentwurf darzustellen. Monarchien, Bauern- und Soldatenstaaten, Theokratien, Nomadengesellschaften mit der ihr eigenen Entscheidungsstruktur, Siedlergesellschaften und Vielvölkerföderationen, formale Demokratien sowie urbane Bürgergesellschaften bilden nicht nur ein numerisch breites Spektrum, sondern jede der genannten Staatsformen verfügt über große Areale auf der Weltkarte. Ein Modell, das reklamiert, für alle zu sprechen oder den Rest der Welt nach der eigenen Art beglücken zu wollen, hat bereits den Grundstein für kommende Konflikte gelegt. Die Idee Jean-Jacques Rousseaus einer weltverbindenden Völkerverständigung, die den Vereinten Nationen zugrunde liegt, beinhaltet nicht das Mandat der Intervention in die Gesellschaftsmodelle anderer.

Von Globalisierung wurde bis dato immer dann gesprochen, wenn ein System die wirtschaftliche, politische, militärische und kulturelle Macht besaß, sich die Welt nach seinem Bilde unterzuordnen. Die Epoche Alexanders des Großen markierte diese Situation ebenso wie das Römische Reich, das Britische Imperium oder der amerikanische Imperialismus, flankiert von der Besonderheit des sowjetischen. Dessen sollten sich alle bewusst sein, die die Globalisierung an sich bereits als positive Zeiterscheinung zu würdigen suchen. 

Die Besonderheit der Globalisierung unserer Tage besteht vor allem in der Entstaatlichung und Denationalisierung der Hegemonie. Die Dominanz über die Weltgesellschaft ist vom Personal her international und von seinem kulturellen Hintergrund verschieden. Sie wird gewährleistet über das Geld, die Simultanität seiner Verfügbarkeit und die Steuerung eines virtuellen Kriegsrates namens Börse. Der geographische Sitz dieser hegemonialen Kommandobrücken ist nicht unbedingt gebunden an die Länder, in denen sie liegen. Zerstörerische Maßnahmen, die die Us-amerikanische Gesellschaft betreffen, können durchaus in der New Yorker Wall Street veranlasst werden so wie die strukturelle Zerstörung der englischen Ökonomie von der Londoner Börse aus betrieben wurde. Billionäre, Milliardäre und ihre Konsortien operieren nicht mehr mit den Identitäten, die in den meisten realen Gesellschaften den politischen Diskurs bestimmen. Längst sind die Staaten zu den Gejagten geworden, die in dem Dilemma stecken, das Gemeinwesen, für das sie stehen, verteidigen zu müssen und gleichzeitig den Tribut zu zahlen, den Unterlegene zu entrichten haben.

Die Verhältnisse, die die momentane Phase der Globalisierung geschaffen hat, strafen die literarischen Schreckensvisionen eines George Orwell oder H.G. Wells als romantische Schmonzetten. Dennoch sind sie längst nicht so stabil, wie sie manche Alltagsdepression erscheinen lassen. Die eingangs beschriebene Weltgemeinschaft verfügt trotz oder gerade wegen ihrer unterschiedlichen Gestaltung über Identitäten, die gewaltige Kräfte entfesseln können, wenn sie sich nur mobilisieren lassen. Was sind Algorithmen gegen das historische Bewusstsein der Chinesen, das städtische Selbstbewusstsein des europäischen Bürgertums, die amerikanische Rechtsvorstellung auf persönliches Glück, die arabische Vorstellung von blühendem Handel oder den Freiheitsbegriff der Nomaden? Die Einheit dieser mächtigen Kräfte gelingt nur über den Weg des gegenseitigen Respekts. Das Gefühl der eigenen moralischen oder wie auch immer gearteten Überlegenheit und der prekäre Gestus der Besserwisserei spielt nur den globalen Destruktionskräften in die Hände.

Sicherheit in unreguliertem Raum

Christiano Ronaldo ist ein Fußballspieler, der sehr polarisiert. Gilt der Portugiese den einen als überaus begabter, technisch ausgereifter und erfolgreicher Fußballspieler, so sehen andere in ihm eine Marke, kommerziell durchtränkt, und einen Menschen, der diese Marke mit widerlichem Gestus bedient. Wahrscheinlich ist er beides, Erfolgsmensch mit Gefühl wie Marke ohne Seele. Das gehört zu den Antagonismen und Schizophrenien des Marktes. Was Christiano Ronaldo aber auch ist, und in dieser Funktion spielt er bei dieser Betrachtung eine wichtige, ja sogar tragende Rolle, bei ihm handelt es sich um einen Besessenen im positiven Sinne. Im Training ist er unersättlich, er ist der tiefen Überzeugung, dass die Übung auch dem Meister nicht nur noch gut tut, sondern unabdingbar für ihn ist. 

Neben den unzähligen Freistößen, die er noch tritt, während seine Mannschaftskollegen bereits unter der Dusche stehen, hat er noch eine andere Passion. Er lässt sich nachts, in völliger Dunkelheit, aus Maschinen Ecken und Flanken in den Strafraum schießen, um sie mit dem Kopf anzunehmen und im Tor zu versenken. Jenseits der Sichtbarkeit soll er sich in jahrelanger Übung eine Art Instinkt für Abschlaggeräusche, Flughöhen und Flugbahnen sowie Anflugwinkel entwickelt haben. Wer ihn in einem realen Spiel im Strafraum beobachtet, der sieht, was gemeint ist. Christiano Ronaldo erfühlt das Geschehen. Es ist eine antrainierte Fähigkeit.

Was der angesprochene Fußballer betreibt, ist der Erwerb der Handlungsfähigkeit in einem unbekannten Raum möglicher Geschehnisse. Das macht er konservativ durch Simulationen sich wiederholender Vorgänge und damit korrespondierender Bewegungsabläufe. Dadurch gewinnt er eine Sicherheit, die nicht nur das Scheitern verhindert, sondern sogar die Chance auf den Erfolg erhöht. So extrem wie lapidar das Beispiel klingt, es ist inspirierend für die Ängste eines Teiles unserer Gesellschaft, der unablässig nach Sicherheit ruft in einer Welt, in der die Sicherheiten immer rarer werden.

Im Grunde genommen geht es um Sicherheit in unregulierten Räumen. Es geht darum, eine eigene, spirituelle, emotionale und physische Agenda zu entwickeln, die in der Lage ist, den zwar unberechenbaren, aber voraussichtlichen Ereignissen des Daseins zu entsprechen. Es geht um die Bereitschaft, sich aus der Wohlfühlzone zu bewegen und dabei nicht der Angst zu erliegen, sondern, ganz im Gegenteil, einer eigenen Strategie zu folgen. Und diese Strategie besteht darin, die Vorlagen, die das Schicksal bietet, aufzunehmen und umzusetzen in den eigenen Erfolg. Um die Angst vor dem unregulierten Raum zu überwinden und Sicherheit bei der Ausführung nicht exakt planbarer Bewegungsabläufe zu gewinnen, gibt es nur eine Möglichkeit: Der wiederholte Versuch oder die Übung.

Ja, auch im Existenziellen sind Sphären anzutreffen, in die mittels Übung eingedrungen werden kann. Diejenigen, die die Übung im Unbekannten ablehnen, werden sich paralysieren bei dem Versuch, anhand theoretischer Konzeptionen die Sicherheit zu erhöhen. Es wird nicht gelingen. Sicherheit in der Unsicherheit gewinnt der Mensch nur dann, wenn er die Unsicherheit durch sein eigenes Handeln normalisiert. Die Normalität des Unsicheren ihrerseits bietet die Möglichkeit, Fähigkeiten und Fertigkeiten zu entwickeln, die sich an der Atmosphäre der Unsicherheit orientieren. Wer sich darauf einlässt, hat nicht nur die Chance auf Entwicklung, sondern auch auf Erfolg. Das hat etwas mit der alten Weisheit zu tun, dass nur die gewinnen, die auch wagen. Es hat aber auch etwas damit zu tun, dass eine gewisse Besessenheit vonnöten ist, um das Legere durchbrechen zu können.